E. Dietrich: Selbstzeugnisse vom Rhein

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Titel
Selbstzeugnisse vom Rhein. Interdisziplinäre Zugänge zur Schreib- und Reisekultur in der Romantik


Autor(en)
Dietrich, Elisabeth
Reihe
Selbstzeugnisse der Neuzeit
Erschienen
Köln 2022: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Krome, Witten

Seit mehreren Jahren wird Reiseberichten als mentalitätsgeschichtlich relevanten Quellen zur Sozialgeschichte vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet. Als jüngeres Beispiel aus dem Bezugsraum wäre hier etwa die Habilitationsschrift des Frankfurter Kirchenhistorikers Christoph Nebgen (Mainz 2012/13) über Konfessionelle Differenzerfahrungen. Reiseberichte vom Rhein zu nennen.1 In diesen Kontext gehört auch die im Oktober 2022 erschienene, hier vorzustellende Arbeit von Elisabeth Dietrich, die 2019 in Jena als Dissertation angenommen wurde.

Dietrich verspricht anhand der Selbstzeugnisse von sechs „Vertreter:innen der Romantik“ (Brentano, Arnim, Helmina von Chézy, Johanna Schopenhauer – die Mutter des bekannten Philosophen – und W. und A. Müller – der sog. „Griechen-Müller“, Verfasser der Textvorlage zu Schuberts Winterreise) – nicht weniger als „eine repräsentative Erfassung der historischen Schreib- und Reisepraktiken bürgerlicher Reisender aus der Zeit der Romantik“ und will dabei „spezifisch romantische Denk- und Handlungsmuster“ offenlegen (S. 18f.).

Bei Brentano und Arnim umfassen die herangezogenen Selbstzeugnisse wenige Briefpassagen, bei Helmina von Chézy drei kürzere Beiträge zu Bertuchs Journal des Luxus und der Moden, bei Wilhelm und Adelheid Müller etwa zwei Dutzend Seiten eines gemeinsamen Reisetagebuchs. Nur Johanna Schopenhauers Reiseberichte sind umfangreicher und als selbständige Publikationen erschienen: Ausflucht an den Rhein (1818) und Ausflug an den Niederrhein und nach Belgien (1831). Insgesamt also ist das Corpus an Quellentexten recht schmal, was dann nicht weiter problematisch wäre, wenn es sich etwa in puncto Literarizität um hoch verdichtete Texte handeln würde. Das trifft aber auf die Briefpassagen nur zum Teil, auf die Berichte Chézys und Schopenhauers nur dem Anspruch nach und auf das Tagebuch der Müllers überhaupt nicht zu. Zum Vergleich: Christoph Nebgen zieht bei einem deutlich enger gefassten Untersuchungsaspekt rund 200 Reiseberichte als Quellen heran.

Dietrich erarbeitet nach Vorüberlegungen zu „Selbstzeugnissen als Forschungsgrundlage“ (Kapitel 1) und zu „Entwicklungstendenzen der Romantik“ (Kapitel 2) Grundzüge der Quellentexte (Kapitel 3) (das sind bei Brentano/Arnim der Freundschaftskult, bei Chézy wie bei Schopenhauer die nationale Einstellung und bei den Müllers Wein und Geselligkeit) und erklärt sie für übereinstimmend mit recht allgemein formulierten Epochenmerkmalen. Die Kapitel über „Historische Emotionenforschung“ (Ute Frevert) und „Reisen mit allen Sinnen“ (Kapitel 4 und 5) können nur sehr bemüht eine Verbindung zum Rhein und den Reiseberichten herstellen. Als Beispiel mag der Abschnitt über die Äolsharfe (Kapitel 5, S. 163–175) dienen: Wie Dietrich selbst darlegt, faszinierte die Äolsharfe bereits lange vor der Romantik. Für Äolsharfen am Rhein gibt es aber nur einen Beleg (Burg Klopp in Bingen), bei Schopenhauer nebenbei erwähnt. Dietrich muss daher auf den Reiseberichtteil der Müllers über Burg Baden bei Baden-Baden zurückgreifen. Die Einsicht, dass die Romantik davon überzeugt war, „dass die Natur eine eigene Sprache besaß, deren (…) Verständnis durch das Spiel der Windharfe möglich schien“ (S. 173) wird konterkariert durch die Behauptung: „Ästhetisch-psychologische Wirkung und atmosphärischer Klang ließen die physikalischen Zusammenhänge (…) zweitrangig erscheinen“, wie denn die Romantik auch kein Interesse an Naturwissenschaft gehabt habe (S. 167). Das ist irreführend, wenn nicht falsch, wie sich leicht an Novalis, Henrich Steffens, Johann Wilhelm Ritter und Gotthilf Heinrich Schubert zeigen lässt. Wenn man wie Dietrich auf Ernst Florens Friedrich Chladni und seine Akustik verweist (S. 167, Anmerkung 67), dann wären doch wohl zuerst Chladnis Klangfiguren heranzuziehen, die für Novalis bekanntlich von höchstem Interesse waren, weil er darin eine hieroglyphische Umbildung von Musik ins Physikalische sah und eine wechselseitige Übersetzbarkeit von Geist in Natur vermutete, wie denn auch Schellings Identitätsphilosophie die ursprüngliche Einheit beider behauptete. In diesem Sinne wäre die romantische Konzeption einer „ästhetische[n] Verbindung zwischen Natur und Mensch“ (S. 168), für die die Äolsharfe steht, über deren stimmungssteigernde Funktion hinaus zu präzisieren.

Das Kapitel „Reisen mit allen Sinnen“ (S. 144–199) endet mit der naheliegenden Feststellung, dass visuelle Wahrnehmung in den Reiseberichten dominiere und „dass das Nachvollziehen und Nacherleben von nicht-visuellen historischen Sinneserlebnissen schwierig bis kaum möglich ist.“ (S. 197). Ähnlich „wenig ergiebig“ (S. 220) ist das folgende Kapitel 6 über „Historische Raum- und Umweltforschung“ (S. 200–247). In beiden Kapiteln werden auf etwa einhundert Seiten überwiegend Trends und Positionen der Fachliteratur dargestellt, ohne dass diese Erörterungen für die Arbeit an den Quellen entsprechend nutzbar gemacht würden. Der Raum des „Rhein-Erlebnis“ wird nicht, wie Dietrich behauptet, über den eigentlichen Flusslauf hinweg auf das Gebiet der Nebenflüsse erweitert (S. 220 und S. 261), im Gegenteil: In den meisten Reiseberichten wird der als eigentlich romantisch empfundene Rhein auf den Mittelrhein, insbesondere auf den oberen Mittelrhein, reduziert. Dass die Romantik nicht den Beginn des Umweltschutzes in Deutschland markiert, sondern menschliche Eingriffe in die natürliche Landschaft primär aus ästhetischen Gründen kritisiert wurden, ist sicherlich zutreffend.

Das Kapitel 7 „Der Rhein als politisches Symbol“ (S. 248–317) behandelt die politisch-ideologische Funktionalisierung des Rheins. Dietrich nimmt dabei als Ausgangspunkt den Streit um die Rheingrenze. Aufgrund des Diskurses über „natürliche Grenzen“ ist es allerdings misslich, unbedenklich von einer „natürlichen Grenzfunktion“ des Rheines (S. 254) und einer „historisch gewachsene[n] Bestimmung als Grenzfluss“ (S. 255) zu sprechen. Aus dem Streit um die Grenze rühren für Dietrich die nationalen Erhitzungen bis hin zur Rheinkrise 1840 (S. 256, 258) her. Dieser Grenzstreit war aber eingebettet in Konflikte politischer Kulturen (Revolution/Restauration) und imaginierter Identitätskonstrukte (Kosmopolitismus, Nationalismus, Regionalismus), was die Frontlinien komplizierte.

Eine entscheidende Frage ist, warum aus einer frühromantischen Sympathie für die Revolution oder wie bei Brentano aus einer apolitischen Haltung eine nationale, antifranzösische Einstellung werden konnte und inwieweit letztere als charakteristisch für die Romantik gelten kann. Sie wird in wenigen allgemeinen („unbeständige Suche des modernen Individuums nach Identität“ in Zeiten des geschichtlichen Umbruchs) (S. 279) oder eng biographisch gefassten Bemerkungen angesprochen (S. 279).

Dietrich ist der Meinung, dass Brentano und Arnim bereits während ihrer Rheinreise 1802 die „Idee einer deutschen Volksliedsammlung“ entwickelt und „den Grundstein für ihre Sammlung“ gelegt hätten (S. 270). Richtig ist, dass die beiden Freunde nach und vielleicht auch schon während der Rheinreise begannen, ihre Rolle als Dichter im Hinblick auf die Volkspoesie zu diskutieren (s. Brief Arnims vom 9. Juli 1802).2 Bekanntlich haben sie aber nicht bereits während ihrer Rheinreise damit begonnen, das Material zu Des Knaben Wunderhorn zusammenzutragen.3 Von einer „kulturellen Separierung“ (S. 270) deutscher Identität ist keine Rede, höchstens (im erwähnten Brief Arnims) von einem Beitrag der Kultur zur Überwindung des Partikularismus. Beide Reisende erwähnen die Grenzübertritte nicht einmal. Die zunehmende Politisierung Arnims im Vorfeld der Befreiungskriege wird dann mit angemessener Unterscheidung von Brentanos eher auf Distanz zur Politik bedachtem Kunstverständnis dargestellt (S. 280–286).

Weniger bekannt als die vorgenannten Autoren ist die 1783 als Wilhelmine von Klencke in Berlin geborene Helmina von Chézy. Die von Dietrich zusammengetragenen Informationen zur Biographie füllen eine Lücke in der Geschichte weiblicher Literaturproduktion. Für Chézy (Rheinreise Ende August 1814) trifft es sicherlich zu, dass die Rheinromantik politisiert wurde (S. 305f.). Im Hinblick auf das Tagebuch von Wilhelm und Adelheid Müller muss Dietrich feststellen: „In dem Reisetagebuch der Müllers finden sich keine patriotischen Ausdeutungen von Landschaft und Raum.“ (S. 316).

Fazit: Der Leser findet in Dietrichs Buch eine breite Darstellung aktueller Forschungstrends mit anregenden Fragestellungen. Die somit mögliche Ausweitung von Untersuchungsaspekten lässt sich aber an dem schmalen Korpus primärer Quellen nicht entsprechend nutzen. Ob man das Gendern so weit treiben sollte, von „Gesell:innen“ (S. 53) in der Sattelzeit zu sprechen, sei dahingestellt.

Anmerkungen:
1 Christoph Nebgen, Konfessionelle Differenzerfahrungen – Reiseberichte vom Rhein (1648–1815) (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 40), München 2014; vgl. die Rezension von Gabriele Ziethen auf H-Soz-Kult, 17.03.2016, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-22265.
2 Hartwig Schultz (Hrsg.), Freundschaftsbriefe. Achim von Arnim und Clemens Brentano, T. 1, Frankfurt am Main 1998, S. 21ff.
3 Heinz Rölleke, Rheinromantik und „Des Knaben Wunderhorn“. Anregungen und Wirkungen der Arnim/Brentano‘ schen Liedersammlung von 1805/1808, in: Michael Simon / Wolfgang Seidenspinner / Christina Niem (Hrsg.), Episteme der Romantik. Volkskundliche Erkundungen (Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie / Volkskunde 8), Münster 2014, S. 25.

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