A. Fahrenberg / J. Fahrenberg (Hrsg.): John Steiner und Täterforschung nach Auschwitz

Cover
Titel
Täterforschung nach Auschwitz – John Steiners Untersuchungen. Nachlass eines Auschwitz-Überlebenden


Herausgeber
Fahrenberg, Anne; Fahrenberg, Jochen
Erschienen
Lengerich/Westfalen 2022: Pabst Science Publishers
Anzahl Seiten
540 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Richter, Technische Universität Dresden

Dieses umfangreiche Buch von über 500 Seiten ist die Hommage eines bekannten Persönlichkeitspsychologen und einer Pädagogin an den Soziologen John Steiner, der als Überlebender deutscher Konzentrationslager sein ganzes Leben der Erforschung der Täterpersönlichkeiten von NS-Verbrechern gewidmet hat. Die beiden Autor:innen bezeichnen sich bescheiden als Herausgeber:innen, haben aber durchaus die englischen Manuskripte und vorgefundenen Fragmente von Steiner aufgearbeitet, die psychologische Literatur zur Täterpersönlichkeit systematisiert und ethische Konsequenzen aus dem Werk gezogen. Zum Buch ist eine umfangreiche Open-Access-Dokumentation erschienen (siehe Anhang).

Steiner wurde 1925 in Prag in einer christlichen, deutschsprechenden Familie geboren. Ein jüdischer Großvater war der Auslöser für die Verhaftung der Familie. John Steiner überlebte mehrere Konzentrationslager, unter anderem Auschwitz-Birkenau. Nach dem Krieg wanderte er 1949 nach Australien und später in die USA aus, wo er Soziologie studierte. Er kehrte 1962 nach Deutschland zurück, um Lebensläufe und andere Informationen von ehemaligen NS- und SS-Angehörigen für seine Doktorarbeit zu gewinnen. Als Professor für Soziologie lehrte er bis 1997 an der Sonoma State University, CA. John Steiner starb im Alter von 89 Jahren 2014 in Kalifornien. Die von den Herausgeber:innen den theoretischen Texten vorangestellten autobiografischen Fragmente Steiners sind erschütternd. Die immer wieder berichteten lebenslangen Schuldgefühle von Überlebenden (siehe u.a. Imre Kertész, Benedikt Kautzky, Roman Frister) werden den Nachgeborenen aus der unerbittlichen Detailliertheit der Texte verständlich.

Im zweiten Teil des Buches geben die Herausgeber:innen einen umfangreichen Überblick zur Täterforschung seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum steht dabei die bereits 1929/31 empirisch durch Erich Fromm begonnene Forschung zur „autoritären Persönlichkeit“. Die Herausgeber:innen zeichnen differenziert die historische Entwicklung von Fromms Forschung und Theoriebildung zum Konzept der Autoritären Persönlichkeit nach. Adornos geringes Interesse an empirischen, noch dazu psychologischen, Studien war wohl auch einer der Gründe, weshalb nach der Rückkehr nach Frankfurt 1950 so wenige kritische Analysen der überlebenden Nazi-Persönlichkeiten in Deutschland erfolgten.

Ausführlich wird die amerikanisch-britische Täterforschung nach 1945 an den Hauptkriegsverbrechern im Nürnberger Prozess (Gilbert, Kelley, Goldensohn) aufgearbeitet. Besondere Beachtung finden Interviews mit deutschen Kriegsgefangenen in Großbritannien durch den britischen Heeres-Psychiater Henry Dicks. Bei überzeugten NS-Tätern ergab sich ein ähnlicher Befund hinsichtlich der Merkmale des Autoritarismus: Dominanzverhalten, überstrenge Erziehung, Disziplinorientierung, Pflichterfüllung. Dicks Befunde entsprachen weitgehend jenen der amerikanischen Forschung zur „Authoritarian Personality“.

Die Herausgeber:innen beenden, nun wieder gänzlich als Autor:innen, den Buchabschnitt mit neueren psychologischen Publikationen, die alle erst nahezu eine Generation nach den Naziverbrechen erschienen sind. Die Arbeiten von Geuter und von Graumann arbeiten die bis dahin bestehende Tabu-Zone der in das Nazisystem verstrickten deutschen Psychologen auf.1 Die Psychologen Hans Askenasy sowie Harald Welzer haben mit reichem biografischem Material das immer vorhandene Potential zur Unmenschlichkeit überzeugend beschrieben und Schlussfolgerungen für den Erhalt demokratischer Ordnungen gezogen.2

Die folgenden Kapitel beinhalten die Methodik der Fragebogen- und Lebenslaufanalyse und die Darstellung der empirischen vergleichenden Untersuchung an SS- und Wehrmachts-Angehörigen nach dem Krieg zwischen 1962 und 1967.

Zunächst zur Fragebogenstudie. Es gelang John Steiner „als amerikanischem Professor“ über den namensgleichen SS-General Felix Steiner, zahlreiche Fragebögen durch ehemalige Angehörige der Waffen-SS und der Allgemeinen SS ausfüllen zu lassen. Durch Vermittlung des ehemaligen Chefs des Generalstabs der Wehrmacht General Zeitzler konnte Steiner eine Kontrollgruppe von ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht erhalten. Steiner erfasste die Täterprofile von 229 ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS und SS und von 202 ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht, die hinsichtlich Alter und Schulbildung parallelisiert werden konnten. Er trat als amerikanischer Soziologie-Professor auf, gab sich jedoch nicht als Auschwitz-Überlebender zu erkennen. Ihn interessierte die Ausprägung einer „autoritären Persönlichkeit“, insbesondere auch das „fragmentierte Gewissen“, also die Fähigkeit der Spaltung zwischen dem Privatleben und den beruflichen Taten. Dreißig Jahre nach der Erstpublikation wurde 2000 eine statistisch anspruchsvolle Reanalyse der Daten gemeinsam mit Jochen Fahrenberg vorgelegt.3

Die Ergebnisse zeigten deutliche Unterschiede in der Ausprägung der F-Skala zwischen der Gruppe der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS und Allgemeinen SS im Vergleich zu ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht. Die SS-Angehörigen blickten noch 20 Jahre nach dem Krieg stärker mit Genugtuung auf ihre Organisation. Ehre und Treue waren ihnen wichtiger als Gerechtigkeit. Sie waren in ihren Einstellungen konformistischer, autoritätsbezogener, rigider und intoleranter als die Wehrmachtsangehörigen. Diese Befunde sind einzigartig in der psychologischen Täterforschung. Jedoch betonen die Herausgeber:innen der Untersuchungen von Steiner auch deren grundsätzliche Grenzen und Mängel: Die Daten konnten erst lange Zeit nach dem Krieg gewonnen werden, beide untersuchten Gruppen konnten nicht methodisch sauber als Zufallsgruppen gebildet werden. Der Einfluss der Empfehlung zur Teilnahme durch die HIAG (Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der SS) kann einen nicht zu kontrollierenden Effekt der sozialen Erwünschtheit bestimmter Antworten gehabt haben.

Ähnliche Befunde stellen die Herausgeber:innen tabellarisch in den viel früher durchgeführten anglo-amerikanischen Studien zum Antisemitismus mittels F-Skala zusammen. Offensichtlich gibt es in allen Ländern einen statistisch beträchtlichen Bodensatz autoritärer, demokratiefeindlicher Einstellungen. Vergleichbare Befunde, die bei Menschen mit autoritären Einstellungen eine hohe Parteisympathie für die NPD und AfD zeigen, sind in Deutschland in den letzten 10 Jahren durch die Längsschnittstudien durch die Arbeitsgruppen um Heitmeyer/Zick (Bielefeld) und Decker/Brähler (Leipzig) vorgelegt worden.4

Die ausführlichen Lebensläufe von vier Männern der Lager-SS (zu lebenslänglicher Haft verurteilt) und von sechs Offizieren der Waffen-SS, darunter zwei Adjutanten von Himmler bzw. Hitler, machen den Hauptteil des hier gedruckten Nachlasses von John Steiner aus. Der langjährig verfolgte schwierige Zugang zu den inhaftierten KZ-Tätern wurde unter anderem durch den ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer unterstützt.

Diese Lebensläufe sind als exemplarisch, nicht als repräsentativ für Funktionäre des Nazi-Regimes zu verstehen. Diese bedrückenden Biografien sprechen trotz sichtlicher Beschönigung und Auslassungen für sich und verdeutlichen wesentliche Facetten autoritärer Persönlichkeiten: Herrschafts- und Gehorsamsorientierung, Aggressivität und Destruktivität, verbunden mit Formen des fragmentierten Gewissens, Lust an Gewalttätigkeit und ausgeprägtem Kameradschaftserleben. Ihre sorgfältige, methodische Analyse ist vor allem auch von Bedeutung, da sie eine wesentliche Bereicherung der Auswertungsmethoden biografischer Daten für die Oral History darstellen kann.

Den Schluss des Herausgeber:innenwerkes bildet ein von den Autor:innen eigenständig verfasstes Kapitel zur notwendigen Erziehungsreform, um die Herausbildung der geschilderten autoritären Charakterzüge zu verhindern. Dieses umfangreiche Abschlusskapitel geht davon aus, dass das Wissen über die NS-Verbrechen fundamental für das allgemeine Gedenken ist, das aber alleine eine Wiederholung der Verbrechen nicht verhindern kann. Vielmehr ist eine fundamentale Erziehungsreform erforderlich, damit die Prinzipien der Ethik nicht nur theoretisch vermittelt, sondern im Handeln in der alltäglichen Praxis auch eingeübt werden. Es werden die Arbeiten der Reformpädagogik (Montessori, Neill´s Summerhill, Waldorfschulen), im Kontrast dazu die nationalsozialistische Pädagogik, die Re-education-Ansätze nach 1945, das Weltethos-Konzept, Dokumente des praktizierten Ethik-Unterrichts in Baden-Württemberg und schließlich auch neuere pädagogische Initiativen kritisch aufgearbeitet.

Die Autor:innen kommen zu dem bedrückenden Schluss, dass nach dem plakativ oft zitierten Wort Adornos von der „Erziehung nach Auschwitz“ in der Praxis wenig darauf gefolgt ist. Sie plädieren mit Britta Schellenberg5 für schon in der Grundschule einsetzende Übungen zum sozialen Rollenwechsel und Empathie, zur Erziehung einer Grundhaltung in Toleranz, Akzeptanz des Fremden, und Respekt dem Leben anderer gegenüber (S. 487). Als gravierende Defizite der gegenwärtigen Forschung werden von den Autor:innen benannt: fehlende Interdisziplinarität und Mangel an methodischen Richtlinien (Interpretationsmethodik). Zentrale psychologische Theorien der Aggressionsforschung und zur autoritären Persönlichkeit fehlen häufig. Vor allem ist für alle Interventionsprogramme eine evidenzbasierte Evaluation dringend erforderlich. Hierfür werden die finanziellen Mittel zu häufig gekürzt.

Abschließend möchte ich dieses Nachlass-Werk allen an einer Kooperation interessierten Historiker:innen, Soziolog:innen und Psycholog:innen als methodisches Beispiel weiter auszubauender Zusammenarbeit empfehlen. Die hier vorgelegte theoriegeleitete Täterforschung ist heute wieder hochaktuell. Die nachgewiesenen Symptome autoritärer Einstellungen sind nach wie vor festzustellen. Stabile demokratische Strukturen und eine frühzeitig einsetzende Erziehung zu Empathie, Toleranz und Achtung des Fremden sind erforderlich. Methodisch ist das Buch besonders anregend, da es exemplarisch eine in der Oral History bislang nicht genutzte theoriegeleitete, interpretierende Bearbeitung biografischen Materials darstellt.

Es ist verdienstvoll, welch großes persönliches Engagement das Herausgeber:innen-/Autor:innen-Duo aufgebracht hat, diesen umfangreichen Nachlass aufzuarbeiten. Dem Charakter eines Nachlass-Werkes ist es nachzusehen, dass der Zugang zum Aufbau des Buches kompliziert ist und sich manche Gedankenführungen in einleitenden Passagen wiederholen.

Anmerkungen:
1 Ulfried Geuter, Nationalsozialistische Ideologie und Psychologie, in: Mitchell G. Ash / Ulfried Geuter, Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert. Ein Überblick, Opladen 1985, S. 172–200; Carl Friedrich Graumann (Hrsg.), Psychologie im Nationalsozialismus, Berlin 1985.
2 Hans Askenasy, Sind wir alle Nazis? Zum Potential der Unmenschlichkeit, Frankfurt am Main 1979; Harald Welzer, Transitionen. Zur Sozialpsychologie biographischer Wandlungsprozesse, Tübingen 1993; ders. unter Mitarbeit von Michaela Christ, Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt am Main 2005.
3 Jochen Fahrenberg, Psychologische Interpretation. Biographien – Texte – Tests, Bern 2002, https://doi.org/10.23668/psycharchives.10414 (29.04.2023); ders., Täter-Forschung nach Auschwitz: John M. Steiners Untersuchungen (1962 bis 2014): Kann Wissen allein die Wiederholung verhindern? (Dokumentationsband), Freiburg 2021, PsychArchives, https://doi.org/10.23668/PSYCHARCHIVES.5158 (29.04.2023); auch abrufbar unter http://doi.org/10.6094/UNIFR/221638 (29.04.2023).
4 Oliver Decker / Elmar Brähler (Hrsg.), Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2018, Gießen 2018.
5 Britta Schellenberg, Strategien zur Bekämpfung des Rechtsextremismus in Europa. CAP Analyse 2/2009, http://www.cap.lmu.de/download/2009/CAP-Analyse-2009_02.pdf (29.04.2023).