T. Lorentzen: Bonhoeffers Widerstand im Gedächtnis der Nachwelt

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Title
Bonhoeffers Widerstand im Gedächtnis der Nachwelt.


Author(s)
Lorentzen, Tim
Published
Paderborn 2023: Brill / Schöningh
Extent
XII, 624 S.
Price
89,00 €
Reviewed for H-Soz-Kult by
Felix Teuchert, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Landesarchiv Baden-Württemberg

Tim Lorentzen nimmt mit seiner 2013 an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereichten, aber erst 2023 als Buch veröffentlichten Habilitationsschrift den Widerstand Dietrich Bonhoeffers (1906–1945) aus einer erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Perspektive in den Blick. Ansatzpunkt ist die Frage, wie sich „Protestantismus, Kirche und Christentum nach 1945 zum Widerstand gegen Hitler“ stellten, wobei die nach 1945 gegebenen Antworten auch der „Selbstverortung des eigenen Verhaltens vor 1945“ dienten (S. 11). Der Zugang zu Bonhoeffer ist demnach ein „exemplarischer“ zu einer „großen kirchlichen Gedächtnisgeschichte“, einer „Geschichte kirchlichen Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit“ (ebd.). Dabei gehe es nicht um „verborgene mentale Prozesse des Erinnerns“, sondern um die „sorgfältige historiographische Rekonstruktion“ der „dokumentierten Erinnerungsakte“ selbst sowie ihrer „Vor- und Nachbereitung und der Konflikte in der Öffentlichkeit und hinter den Kulissen“ (S. 16). Lorentzen, der sich auf den deutschen Raum beschränkt, aber globale Bezüge mitzudenken beabsichtigt, möchte dabei grundsätzliche Erkenntnisse über die Strukturen christlicher Gedächtniskulturen gewinnen (im Vorwort gebraucht er hierfür den sehr starken Begriff der „Gesetzmäßigkeiten christlicher Gedächtniskulturen“ (vgl. S. X). Entgegen einer Rezeptionsgeschichte möchte er die Gedächtnisgeschichte als Ereignisgeschichte verstanden wissen, das heißt Gedenk- und Erinnerungsakte als eigenständige Handlungen mit spezifischen Handlungsabsichten.

Lorentzen identifiziert drei Phasen, deren Übergänge sich am Bau und Fall der Berliner Mauer orientieren: 1) eine Phase der „Martyrisierung“ von 1946 bis zum Beginn der 1960er-Jahre; 2) eine Phase der „Politisierung“ von 1962 bis 1989 sowie 3) eine Phase der „Sanktifizierung“, die 1990 einsetzte und 2006 beim Gedenken zu Bonhoeffers 100. Geburtstag ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Bereits unmittelbar nach Bonhoeffers Hinrichtung im Konzentrationslager Flossenbürg bereiteten Weggefährten seiner Martyrologisierung den Weg. Eine „wichtige Rolle […] für Bonhoeffers publizistisches Berühmt-Werden“ (S. 75) nahm neben dem Bonhoeffer-Biografen Eberhard Bethge und dem englischen Bischof George Bell der EKD-Ratsvorsitzende Otto Dibelius ein. Nachdem bereits in den späten 1940er-Jahren Straßen und Jugendheime nach dem „Märtyrer Bonhoeffer“ benannt worden waren, entstanden in den 1950er-Jahren zwei zentrale, sehr unterschiedliche Gedenkorte, die Bonhoeffer als „christlichen Blutzeugen“ würdigten: die Domkrypta in Brandenburg an der Havel (S. 542f.) und die evangelische Dorfkirche in Flossenbürg. Das Gedenken an Bonhoeffer war dabei immer auch auf den 20. Juli 1944 bezogen. Angesichts der Tendenz zur moralischen und juristischen „Selbstamnestierung“ der frühen 1950er-Jahre fand erst zum 10. Jahrestag des 20. Juli allmählich eine Enttabuisierung des militärischen Widerstandes der Attentäter um Claus Graf Schenk von Stauffenberg statt, sodass „das ganze Spektrum politischer Resistenz“ (S. 186) verstärkt gewürdigt werden konnte. Die Deutung von Bonhoeffers Widerstand ordnet Lorentzen schließlich in die theologischen Auseinandersetzungen ein, die „zweierlei Apologetik“ verfolgten (S. 110, S. 182): einerseits gegen kirchliche Fundamentalkritik am politischen Widerstand, andererseits dagegen, dass „Luther [und die auf ihn zurückgeführte Gehorsamstheologie, Anm. F.T.] vor das Nürnberger Gericht“ zitiert würden (S. 122).

Die 1960er- bis 1980er-Jahre standen im Zeichen der Politisierung. Dabei sei gerade auch aus einer christlichen Perspektive zunehmend offensiv und „völlig selbstverständlich vom politischen Widerstand gegen Hitler gesprochen“ worden, während Bonhoeffers bekenntniskirchliche Arbeit eher in den Hintergrund geraten sei (S. 191f.). Zugleich drohte die wiederkehrende Beschwörung der Ideale der Widerstandsbewegung in „formelhaftes Wohlgefallen“ abzugleiten (S. 198), was von einer selbstbewussten Jugend kritisiert wurde. Lorentzen nimmt in diesem Kapitel auch mehrere Märtyrer-Gedenkstätten und -kirchen in den Blick, die er unter das Interpretament der Politisierung stellt. Demnach wurde der Widerstand vom 20. Juli – und mit ihm Bonhoeffer – in die kirchliche Erinnerungskultur aufgenommen, gewissermaßen ins „Heiligtum Gottes“ (S. 485), während Bonhoeffer zugleich zu einer zentralen Gestalt im Gedenken an den Widerstand avancierte. Paradigmatisch dafür stehen die Feier des 20. Jahrestages des 20. Juli 1964 und die Einweihung einer Gedenktafel in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in West-Berlin (S. 204f., S. 215), die Anbringung einer neuen Gedenktafel im ehemaligen Konzentrationslager Flossenbürg und 1970/72 das evangelische Gemeindezentrum Plötzensee mit seinem „aufwühlenden Bildzyklus ‚Plötzenseer Totentanz‘“ von Alfred Hrdlicka (S. 219). Die Phase der Politisierung beschließt die von Deutungskontroversen geprägte Geschichtspolitik der Regierung Kohl, besonders eine Gedenkveranstaltung in Flossenbürg 1985, die im Eklat endete: Der „Zusammenprall militärischer und pazifistischer Bonhoeffer-Interpretationen“ markierte das „Ende der harmonischen Erinnerungsallianz“ (S. 293). Eine Art Höhepunkt stellt zuvor eine groß angelegte internationale ökumenische Tagung in Genf anlässlich von Bonhoeffers 70. Geburtstag dar (1976), die für eine Globalisierung der Bonhoeffer-Rezeption und eine Adaption Bonhoeffers für vielfältige theologische und ethische Gegenwartsfragen weltweit steht.

Unter völlig anderen Umständen vollzog sich das Gedenken an Bonhoeffer in der DDR. Dort war die Politik bestrebt, Bonhoeffer im Rahmen ihrer antifaschistischen Widerstandsdeutung zu interpretieren und ihn bis in die 1980er-Jahre hinein sozialistisch zu „domestizieren“ (S. 311). Beispielhaft dafür stehen die Auseinandersetzungen zwischen dem parteitreuen Pfarrer der Ost-Berliner Zionskirche Walter Engler und der Berliner Kirchenleitung. Interessanterweise konnten sich sowohl die eher oppositionellen Teile der evangelischen ostdeutschen Kirche als auch die tendenziell parteiloyalen Vertreter des Protestantismus auf Bonhoeffer berufen (S. 329f.). An jener Zionskirche, die in den 1980er-Jahren mit der Umweltbibliothek zu einem wichtigen Ort der DDR-Opposition wurde, entstanden während dieser Dekade Pläne für eine Bonhoeffer-Plastik (die schließlich erst 1997 eingeweiht werden konnte), sodass „Widerstandserinnerung und Oppositionsbewegung am identischen Ort zusammenfanden“ (S. 319). Die symbolträchtige Kombination war wohl eher Zufall – denn Bonhoeffer war aufgrund seiner Indienstnahme im sozialistischen Staat keine Ikone der Oppositionsbewegung. Im Rahmen seiner Ausführungen über Opposition und Widerstandserinnerung reflektiert Lorentzen die Bedeutung des Protestantismus für die friedliche Revolution von 1989 und glaubt diese vor allem im Programm der „Kirche für andere“ zu erkennen.

Das Kapitel „Sanktifizierung“, die nicht zufällig die Politisierung des Kalten Krieges ablöste, leitet Lorentzen mit dem Gedenkjahr 2006 ein. Medienwirksam und geschickt platzierte der EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber die griffige, von Lorentzen problematisierte Formel eines „evangelischen Heiligen“, die sich rasch verbreitete und frühere Tendenzen nachträglich legitimierte. Ausdruck der Sanktifizierung sind die detailliert beschriebenen Pilger- beziehungsweise touristischen Fahrten „auf den Spuren Bonhoeffers“, die seinen letzten Weg ins Konzentrationslager Flossenbürg nachzuvollziehen suchten und zu solchen Orten in Pommern führten, die mit seinem Wirken als Leiter der Predigerseminare beziehungsweise der illegalen Sammelvikariate verbunden waren. Hierbei standen weniger historische Erkenntnisse als die Faszination für den heiligen Ort und ein emotional-frommes Überwältigungs- oder Erbauungserlebnis im Zentrum. Interessanterweise waren es gerade die „biografischen Nebenschauplätze“ (S. 415), also kirchen- und theologiegeschichtlich unbedeutende Orte wie das Ferienhaus der Familie Bonhoeffer im Harz oder die Schule Bonhoeffers in Berlin-Wilmersdorf, die von Privatpersonen oder -gruppen markiert und als Teil einer „populären Sanktifizierung“ zu „topografischen Reliquien“ aufgewertet wurden (S. 402f.). Lorentzen bewertet diese Phänomene differenziert: Einerseits bedinge die Sanktifizierung eine Tendenz zur Dekontextualisierung, Banalisierung und ethisch-theologischen Vereindeutigung Bonhoeffers. Andererseits macht der Verfasser politische und aufklärerische Momente ausfindig. Gerade einige der Rehabilitierungskampagnen dieser Phase verfolgten nämlich nicht nur das Ziel der juristischen „Reinwaschung“ des Heiligen, sondern dezidiert politische Absichten, zum Beispiel die Rehabilitierung aller Deserteure. Die polnischen Erinnerungsorte standen im Zeichen der deutsch-polnischen Aussöhnung und ließen sich in einer europäischen Erinnerungskultur situieren. Das Kapitel schließt mit dem Postulat einer „Ökumene der Schuld“, die Lorentzen als Korrektiv zur problematisierten „Ökumene der Märtyrer“ versteht.

Nach einer Zusammenfassung und einer Reflexion zu den sich überlagernden Generationen folgen grundsätzliche, bedenkenswerte Überlegungen zu den „Strukturen kirchlicher Gedächtniskultur in Deutschland“ (S. 497), die Lorentzen zu zehn Themenkomplexen bündelt, von denen hier nur einige wenige genannt seien: Trauer und Geschichte, Ort – Zeit – Liturgie, Schamverdrängung und Schuldbekenntnis oder Politische Ethik – Politisierung – kirchliche Geschichtspolitik. Dabei arbeitet Lorentzen zum Beispiel die „Herkunft des Bonhoeffer-Gedenkens aus dem gottesdienstlichen Raum“ und seine liturgische Rahmung heraus (S. 502f.), verweist auf die Möglichkeit, mit dem spezifisch christlichen Märtyrerbegriff die Erinnerung an den politischen Widerstand mitzutransportieren, oder nennt die „Buße als dezidiert christliche[n] Erinnerungsmodus“ (S. 511), der eine Entwicklung von der Scham- zur Schuldkultur begünstigt habe.

Einige Fragen bleiben am Ende offen, die auch als Anregung für weitere Forschungen verstanden werden können: Wo liegen die analytischen Vorzüge des Begriffs der Gedächtniskultur gegenüber dem klassischen Begriff der Erinnerungskultur? Wenn sowohl in der Phase der Sanktifizierung als auch während der Martyrisierung politische Momente evident werden, was hebt dann die Phase der Politisierung von diesen anderen Phasen qualitativ ab? Wäre nicht viel eher von analytischen Kategorien als von Zeitabschnitten zu sprechen, mit denen sich bestimmte Ausformungen im Bonhoeffer-Gedenken auch phasenunabhängig fassen ließen? Angesichts des ambitionierten Ziels, die Strukturen der christlichen beziehungsweise vor allem der protestantischen Erinnerungskultur aufzudecken, wäre es zudem wünschenswert, den von Lorentzen als Möglichkeit benannten und zweifellos vorhandenen Zusammenhang von christlicher Bußkultur und Vergangenheitsaufarbeitung auch einmal systematisch in den Blick zu nehmen – denn bislang werden solche methodisch herausfordernden Zusammenhänge eher postuliert als empirisch belegt. Zuletzt wäre zu beanstanden, dass besonders das letzte Kapitel einige Redundanzen aufweist.

Insgesamt hat Tim Lorentzen eine ebenso material- wie kenntnisreiche, kluge und stilistisch hervorragende Arbeit vorgelegt, die die Gedächtnisgeschichte als eigenständige Ereignisgeschichte im oben genannten Sinne zu rekonstruieren weiß und dabei manche verbreitete Mythen widerlegt; etwa die von Bethge verbreitete, häufig unhinterfragt übernommene Behauptung einer Erinnerungsverweigerung der Kirche sowie die populäre Erzählung einer linearen Entwicklung „vom Verräter zum Heiligen“. Lorentzen überzeugt mit genauen, differenzierten und scharfsinnigen Quellenanalysen, einer peniblen Rekonstruktion von Debattenverläufen und Kommunikationswegen sowie einer eleganten Einbettung von minutiös analysierten lokalen Debatten, die auch Gemeindearchive und Kirchenvorstandsprotokolle berücksichtigt, in den zeithistorischen Gesamtkontext. Darüber hinaus wartet der Verfasser mit aufschlussreichen Einzelbeobachtungen und einer stringenten Gesamtargumentation auf, die auch vor großen Bögen keineswegs zurückschreckt und nicht zuletzt die DDR einbezieht. So setzt Lorentzen mit seiner Arbeit einen Meilenstein und kann eindrucksvoll zeigen, dass in dem etwas in die Jahre gekommenen Paradigma der Erinnerungskultur durchaus noch „Musik“ steckt. En passant gelingt ihm der Beweis, dass man auch eine anspruchsvolle wissenschaftliche Geschichte wunderbar erzählen kann.

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