Wie wir wohnen und uns einrichten, ist ein häufig wiederkehrendes, geradezu unvermeidliches Thema im Alltag. Überall finden wir Darstellungen des Wohnens: in Prospekten und Anzeigen von Möbelhäusern, in Filmen, Illustrierten und auf Social-Media-Kanälen, auch auf Bildern im Museum. Alle diese Visualisierungen des Wohnens zeigen Beziehungen zwischen dem Raum, seinen Bewohnerinnen und Bewohnern sowie den dort angesammelten Objekten. Unter welchen historischen Bedingungen solche Bild- und Raumarrangements umgesetzt und in verschiedenen Medien dargestellt wurden, untersucht ein anregender Sammelband, den Irene Nierhaus und Kathrin Heinz in der Schriftenreihe des Forschungsfeldes wohnen +/- ausstellen herausgegeben haben. In ihm kooperieren das Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender sowie das Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik der Universität Bremen.
Schon seit 2010 widmen sich die beiden Institute den gesellschaftlichen Vorstellungen vom modernen Wohnen. Der neue Band geht auf eine Tagung im Juni 2021 zurück; er schließt inhaltlich und grafisch an den lesenswerten Sammelband „WohnSeiten“ an.1 Diesmal ist der Blickwinkel jedoch deutlich weiter. Im vorherigen Band ging es um „Visuelle Konstruktionen des Wohnens in Zeitschriften“, jetzt verweist der Titel grundsätzlicher auf „Ästhetische Ordnungen und Politiken des Wohnens“.
In ihrem Einleitungstext bestimmt Nierhaus „Wohnbilder als Beziehungsräume der Moderne“ (S. 11). Sie betrachtet das Wohnen als ein „gesellschaftliches und individuelles Handlungs- und Interaktionsfeld“ (S. 18); so identifiziert sie Ästhetisierungsprozesse, die in Bildern produziert und reproduziert werden und nicht nur die Kunst, sondern auch den Alltag betreffen. Damit sind die beiden Bereiche benannt, die der Sammelband analysiert. Am Beispiel von Friedrich von Amerlings Gemälde Rudolf (von) Arthaber und seine Kinder (1837)2 erörtert Nierhaus die Verschränkung von Familienbild und Unternehmerporträt und entwickelt daraus die beiden grundlegenden Theoreme für die zwei Seiten des modernen Wohnens, die sich ergänzen, aber auch voneinander abgrenzen können: das „Domestische“ als „das gesellschaftlich Systematische und Regulierte“ (S. 18) mit allen kulturellen und sozialen Ordnungen sowie das „Häusliche“ als „Erfahrungs- und Erlebnisraum des mit dem Subjekt verwickelten Individuums“ (S. 19), also das situativ umgesetzte Wohnen. Aus der kunstwissenschaftlichen Analyse jedes einzelnen Mediums, seiner Formate und Genres ergeben sich für Nierhaus „Untersuchungen des Ästhetischen als gestalterisch kulturelle Politiken des Politischen“ (S. 21).
An den darauf folgenden Überblick zum Buch schließen sich drei große Kapitel mit insgesamt 20 Aufsätzen an. In ihnen werden unterschiedliche Medien wie Gemälde, Filme, Zeitschriften, Ausstellungen, Instagram-Storys oder Architektur-Entwürfe auf Ästhetisierungsprozesse hin untersucht. Im ersten Kapitel „Im Interieur: Einblicke in häusliche Objekt- und Raumkonstellationen“ erkundet Susan Sidlauskas an ausgewählten Werken Paul Cézannes dessen Skepsis gegenüber dem häuslichen Leben, das jedoch weniger scharf von seiner Malerei getrennt sei als bisher angenommen. Annette Tietenberg geht am Beispiel des Neuen Bauens der 1920er-Jahre der Nutzbarmachung tropischer Pflanzen für Innenräume nach; sie deutet Gummibaum und Monstera als die „wie Skulpturen platzierten singulären Pflanzen“ (S. 110) neben Möbeln aus Chrom und Stahl. Die unter Architekten und Kunsthistorikern damals weit verbreitete Vorliebe für Kakteen und Kakteenfenster als „gleichberechtigte Gegenspieler des Mobiliars und übrigen Wohninventars“ (S. 125) beschreibt Burcu Dogramaci als innenarchitektonisches Konzept, das in den meisten Fällen allerdings die Zeit der Emigration nicht überstanden habe. Als eine andere Form der Verhäuslichung der Natur betrachtet Amelie Ochs die Stillleben, die seit dem 17. Jahrhundert zur bürgerlichen Wohnkultur gehörten und nach 1914 als „verklärte Konsumgegenstände“ (S. 138) zwischen Kunst und Dekoration bedeutsam gewesen seien, wie die Autorin an Interieurfotografien in der Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration erläutert. Philipp Zitzlsperger erkennt in der Geschichte der Zimmerbilder einen Prozess von hellen, leeren Biedermeierräumen, einer „Ästhetik der Distanz“, zu dunklen, mit Nippes vollgestellten Räumen des Historismus, einer „Ästhetik der Berührung“ (S. 174). Aber das sei nur ein kurzzeitiger Umschwung gewesen. Unverändert bleibe seit dem Biedermeier die neue Hierarchie der Sinne: Der Gesichtssinn entwerte den Tastsinn, die „Blickästhetik“ verdränge die „Berührungsästhetik“ (S. 182), die Kunst dominiere gegenüber Kunsthandwerk und Design. Die beiden folgenden Aufsätze widmen sich politischen Bildstrategien: Piotr Korduba schildert, wie in Polen vor und nach 1945 „ein epochenübergreifendes Projekt“ (S. 206) für gesellschaftliche Eliten modernen Innenraum und volkstümliche Einrichtung verknüpft sowie in Geschäften und Ausstellungen in Szene gesetzt habe. Dieses Prinzip „Volkstümlichkeit zum Verkauf“ (S. 190) habe den „institutionalisierten Warenverkehr“ ebenso berücksichtigt wie die „Abhängigkeit von Markterfordernissen“ (ebd.). Astrid Silvia Schönhagen schließlich erörtert die „(Re-)Inszenierung von Geschichte im Wohnraum“ (S. 214) anhand von Marcus C. Stones Gemälde On the Road from Waterloo to Paris (1863)3, das einen gebeugten Napoleon in der engen Wohnstube eines Kriegsveteranen zeigt.
An weiteren Beispielen aus der Kunst vertieft das zweite Kapitel „Zu Hause“ diese „Zeigestrategien des Selbst“. Elena Zanichelli führt aus, wie Deana Lawson in ihren afro-amerikanischen Familienporträts (2009–2016) herkömmliche fotografische Blickweisen breche und eine „visuelle Neuverhandlung“ (S. 266) von Familienbeziehungen anstrebe. Rosanna Umbach untersucht die seit 1960 erscheinende Monatszeitschrift Schöner Wohnen auf das in Abbildungen vermittelte „Wohnwissen“ und die Details seiner grafischen Umsetzung. Christiane Keim widmet sich am Beispiel von David Hockneys Bild Mr and Mrs Clark and Percy (1971)4 den Mensch-Tier-Beziehungen im Wohnen. Sie interpretiert das Übersehen der Katze in vielen Bildbesprechungen mit Rückgriff auf Jacques Derrida und Roland Barthes als „anthropozentrisches Differenz-Denken“ (S. 302). Mira Anneli Naß erörtert, inwieweit Lina Scheynius mit ihren seit den 2000er-Jahren entstandenen Fotografien von Körperlichkeit und Lust eine Vorreiterin des Netzfeminismus sei. Pierre-Emmanuel Perrier de la Bâthie erkennt in den zahlreichen Fotografien mit Pablo Picasso im Atelier und zu Hause eine Strategie des Künstlers, um Kreativität und Natürlichkeit durch Abbildungen seines Alltags besonders hervortreten zu lassen. Temma Balducci schließlich untersucht, ausgehend von Henri Matisses Gemälde The Red Studio (1911) und dem dort dargestellten Atelier5, anhand des historischen Kontextes den Zusammenhang von Häuslichkeit, Kreativität und weiblichem Körper.
Im abschließenden dritten Kapitel „Grundriss: Ausstellungspolitiken des Wohnens“ steht nach der Kunst wieder der Alltag im Mittelpunkt. Philipp Oswalt analysiert anhand des neunteiligen Films Wie wohnen wir gesund und wirtschaftlich? (1926–1928)6 die Markenbildung des Bauhauses. Er kontrastiert diese mit Walter Gropius' Siedlungsprojekt in Dessau-Törten sowie dessen zahlreichen Widersprüchen in Konzeption und Umsetzung. Eliana Perotti zeichnet nach, wie Lilly Reich 1926 erstmals Vorhänge in der Raumplanung einsetzte und zusammen mit Mies van der Rohe diese gestalterische Strategie weiterentwickelte. Jan Engelke blickt am Beispiel von Schöner Wohnen auf Zukunftsdiskurse in Architektur und Stadtplanung der 1960er- und 1970er-Jahre zurück. Bernadette Krejs befasst sich mit Bildern privaten Wohnens auf Instagram, die „vor allem ästhetisierter Lifestyle“ seien (S. 457). Alexia Pooth widmet sich am Beispiel von zwei „Intelligenzsiedlungen“ in der DDR den bisher kaum untersuchten Wohnverhältnissen von Künstler:innen zwischen Privilegierung und politischer Indienstnahme. Burkhard Meltzer untersucht im Werk der Installationskünstlerin Henrike Naumann (geb. 1984) die Ästhetik von Wohnraum und Kunstraum. Nanne Buurman befragt schließlich die frühe Geschichte der documenta (seit 1955) auf Vergangenheitsbewältigung durch Inszenierung von Häuslichkeit: „from the necropolitics of war to the biopolitics of survival“ (S. 509).
Schon diese knappen Einblicke verdeutlichen die große Bandbreite des gelungenen, gut bebilderten Sammelbandes. Die Autorinnen und Autoren betrachten die gesellschaftlichen Aspekte des Wohnens und seine subtilen Ästhetisierungsprozesse vor allem aus der Sicht von Kunst- und Kulturwissenschaft sowie der Architekturgeschichte. Manches könnte in weiteren Veröffentlichungen sicher noch ergänzt und differenziert werden, gerade im Hinblick auf die sozialen und ökonomischen Bedingungen des Wohnens. Schließlich spricht Irene Nierhaus ausdrücklich vom „Wohnen als Spur der Akkumulation und der Rationalisierung des Kapitalismus“ (S. 15). Mit den Bedingungen des Marktes und den Voraussetzungen der Produktion kommen dann auch Wirtschafts- und Technikgeschichte in den Blick. Auf jeden Fall beweist dieser Sammelband erneut, wie ergiebig ein interdisziplinärer Zugriff auf das große Alltagsthema Wohnen sein kann.
Anmerkungen:
1 Irene Nierhaus / Kathrin Heinz / Rosanna Umbach (Hrsg.), WohnSeiten. Visuelle Konstruktionen des Wohnens in Zeitschriften, Bielefeld 2021; siehe dazu meine Rezension, in: H-Soz-Kult, 15.06.2022, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-116027 (10.12.2023).
2 Siehe https://t1p.de/WikimediaCommonsAmerling (10.12.2023).
3 Siehe https://t1p.de/WikimediaCommonsStone (10.12.2023).
4 Siehe https://t1p.de/WikipediaHockney (10.12.2023).
5 Siehe https://t1p.de/WikipediaMatisse (10.12.2023).
6 Das Bauhaus-Archiv hat vier Filmsequenzen online zugänglich gemacht: https://t1p.de/BauhausArchivFilmsammlung (10.12.2023).