Mary Fulbrook, Professorin am University College London und Expertin für die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die DDR, hat ein ambitioniertes Buch geschrieben. Sie will wissen, auf welche Art und Weise sich Menschen an die NS-Diktatur und das SED-Regime anpassten, wie sie sich dabei verhielten und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede dabei bestanden. Fulbrook geht es um eine vergleichende Verhaltensgeschichte in den beiden „deutschen Diktaturen“, die sie zudem systematisch mit deren innerem Strukturwandel verknüpfen will. Zu diesem Zwecke postuliert die Autorin eine neue Herangehensweise, die sie „history from within“ nennt. Diese hebt darauf ab, Erfahrungen und Perzeptionen „normaler Menschen“ über einen längeren Zeitraum zu rekonstruieren und mit Erwartungen, die von außen an sie herangetragen werden, zu korrelieren. Die „history from within“ soll es ermöglichen, Erfahrung und Erwartung, subjektive Wahrnehmungen und gesellschaftliche Strukturen innerhalb eines integrierten Analyserasters zu behandeln. Sie soll sich weder in Alltags- und Erfahrungsgeschichte noch in Oral History erschöpfen, sondern mehr sein: „The focus is collective, and it is a focus precisely on the complex intersection of wider structures and key historical events on the one hand, and the constantly changing constructions and reconstructions of the individual’s ‚inner‘ thoughts, perceptions, and representations of their interactions with the ‚outer‘ world at particular stages of life, on the other” (S. 480).
Um ihren Anspruch einer vergleichenden Verhaltensgeschichte von NS-Zeit und DDR einzulösen, hat die Autorin eine Vielzahl an Ego-Dokumenten aus Archiven und privatem Besitz zusammengetragen, darunter zeitgenössische Korrespondenzen, Tagebücher, Feldpostbriefe, Memoiren, eigene narrative Interviews und ein Fragebogen, den Fulbrook im Jahre 2005 erstellte und an über 300 Personen in und um Berlin sowie in Eisenhüttenstadt verschickte. Auffällig sind die rudimentären Informationen über die Entstehungskontexte dieser Quellen, denen sie nur wenige Fußnoten widmet (z. B. S. 33, Fußnote 30, S. 173, Fußnote 12, sowie S. 381, Fußnote 60), sowie die unzureichende Reflexion über deren analytische Reichweite. Das Schrifttum offizieller Institutionen und Verwaltungsbehörden, also die Seite der Herrschaft, fehlt fast vollständig; auch ein Quellenverzeichnis sucht der Leser vergeblich. Die Sekundärliteratur wird in den Fußnoten in der Regel nur summarisch und ohne Seitenzahlen zitiert; die Auseinandersetzung mit anderen Historikern und deren Hypothesen unterbleibt. Lediglich mit Kritikern, die ihre bisherigen Interpretationen zur DDR-Geschichte zu bezweifeln wagen, geht Fulbrook ins Gericht. Allerorten lässt sie durchblicken, dass Ego-Dokumente eine „wahrere“ und „bessere“ Geschichtsschreibung ermöglichten.
Der Erkenntniswert von historischen Quellen entscheidet sich an den Fragen, die man an sie stellt, und an den Konzepten, mittels derer sie interpretiert werden. In der Einleitung postuliert die Autorin drei Begriffe, die ihre Analyse strukturieren sollen: Generationen, Gewalt und Mobilisierung. Diese Begriffe verwendet sie jedoch nie durchgängig, sondern sprunghaft und unsystematisch. Ein überzeugender Rückbezug auf die Empirie fehlt. In einem ersten Teil ihres Buches, in dem es um den Imperialismus des Kaiserreichs und die innenpolitische Radikalisierung in der Weimarer Republik geht (Kapitel 2 und 3), operiert die Autorin mit einer vagen Formel von „gesellschaftlicher Gewalt“, die nicht trennscharf genug ist, um etwa die Terrorakte der Freikorps von der stillschweigenden Akzeptanz von Gewaltanwendung, geschweige denn von den Leiden jener Personen, die vorsätzlich und gezielt verletzt wurden, zu unterscheiden. In Kapitel 4 über das „Dritte Reich“ der Vorkriegszeit benutzt die Autorin fast ausschließlich Ego-Dokumente exilierter deutscher Juden, deren Aussagekraft für die Frage nach dem Anpassungsverhalten der deutschen Mehrheitsbevölkerung eher begrenzt ist. Kapitel 5, das Krieg und Genozid zwischen 1939 und 1944/45 behandelt, basiert größtenteils auf Feldpostbriefen deutscher Soldaten, die zwar massenhaft Stereotypen über die unterjochte polnische und sowjetische Bevölkerung enthalten, jedoch kaum Hinweise auf individuelles Verhalten. Durch das gesamte Buch zieht sich eine Diskrepanz zwischen Erkenntnisinteresse und -möglichkeiten. Anders ausgedrückt: die aufgeworfenen Fragen sind auf der Basis von Ego-Dokumenten schlichtweg nicht zu beantworten.
Dies zeigt sich auch in den Kapiteln 6 bis 11 über die DDR, welche fast die Hälfte des vorliegenden Buches umfassen und der Autorin nicht wirklich besser gelungen sind. Sie beginnt mit einer knappen Analyse der dominanten Alterskohorten und arbeitet die Bedeutung der so genannten „1929er“, also der Aufbaugeneration der zwischen 1926 und 1932 Geborenen, für die Aufrechterhaltung der SED-Diktatur heraus. Im Vergleich zur KZ-Generation (den Jahrgängen zwischen 1900 und 1914) und zu der in der Regel nach 1950 geborenen FDJ-Generation waren die „1929er“ im öffentlichen Leben der DDR deutlich überrepräsentiert. Anstatt die Wege dieser drei Alterskohorten mit der Geschichte der DDR-Institutionen zu verzahnen, reiht die Autorin dann nur noch Einzelerzählungen aneinander, bei denen Generationenzugehörigkeit und Gewalterfahrungen kaum mehr eine Rolle spielen. Zu lesen sind persönliche Konversionsgeschichten vom NS-Staat zur DDR, allgemeine Ausführungen über die Sozialisation von Jugendlichen im Kalten Krieg, die in den 1960er-Jahren verfassten „Veteranenberichte“ von Altkommunisten, die vor dem Ersten Weltkrieg geboren und in der Weimarer Zeit politisiert worden waren, und individuelle Reaktionsweisen auf die Ereignisse von 1989/90. Eine Typologie des kollektiven Verhaltens in der DDR, das die gesamte Spannbreite zwischen Täterschaft, Unterstützung, vorauseilendem Gehorsam, Loyalität, Rückzug, Dissens und Widerstand umfasst, sucht man vergeblich.
Befremdlich mutet auch die titelgebende Hypothese von den „dissonant lives“ an, die sich subkutan durch dieses Buch zieht, ohne dass sie einmal ausführlicher expliziert würde. Offenbar stand der Autorin dabei die Theorie der kognitiven Dissonanz des amerikanischen Sozialpsychologen Leon Festinger Pate, die in erster Linie darauf abhebt, dass Menschen, die sich widersprechende Wahrnehmungen, Gedanken und Meinungen entwickeln, eher für psychische Störungen disponiert sind als andere. Fulbrook spricht etwas dunkel von der Herausbildung zweier Welten in den beiden „deutschen Diktaturen“. Gemeint ist offenbar, dass ein Großteil der Bevölkerungen sich bloß äußerlich angepasst habe, wohingegen sie innerlich voller Skrupel, wenn nicht gar ablehnend gegenüber den Anforderungen der beiden Regime geblieben seien. Dieses Narrativ, das stark an die Lügen des deutschen Bürgertums während der Entnazifizierung erinnert, resultiert zum einen aus den Ego-Dokumenten, die ja nachträgliche kommunikative Konstruktionen darstellen und nicht das individuelle Verhalten in actu widerspiegeln. Zum anderen reproduziert die Autorin mit ihrer These von den „dissonant lives“ die abendländische Mythologie von der Person, die durch ein „falsches“ gesellschaftliches Äußeres und ein „wahres“ individuelles Inneres gekennzeichnet sei, in dem der eigentliche Charakter des Menschen zum Ausdruck komme. Sie überschätzt die Geschichtsmächtigkeit von Erfahrungen und spielt Formen und Konsequenzen von Handlungen und Unterlassungen über Gebühr herunter.
Die beiden Hauptkennzeichen der vorliegenden Monografie sind die unreflektierte Quellenverwendung und eine Inflationierung von Analysekonzepten, die nicht genügend mit der Empirie zusammengebracht werden und alles in allem wenig durchdacht sind. Die benutzten Ego-Dokumente leisten einer halbierten Geschichte beider „deutscher Diktaturen“ Vorschub, welche die Erfahrungsebene privilegiert, die Seite der Herrschaft hingegen vernachlässigt. Was das NS-Regime und die SED-Diktatur eigentlich erwarteten, wie Individuen diese Erwartungen perzipierten, unterliefen oder erfüllten, woran sie sich überhaupt anpassten, erfährt man nicht. Der Mobilisierungs-Begriff, den die Autorin, wie auch ihre anderen Konzepte, mit Verve einführt, um ihn dann verkümmern zu lassen, hätte sich vielleicht angeboten, die Interdependenz zwischen Erfahrungen und Erwartungen zu exemplifizieren, etwa anhand der Beteiligung an jenen Organisationen in Verwaltung, Parteien, Militär und Polizei, von denen die beiden „deutschen Diktaturen“ getragen wurden. Die Autorin ist jedoch einen anderen Weg gegangen und lässt sich voll und ganz von ihren Ego-Dokumenten mitreißen, deren Authentizität sie niemals in Frage stellt. Von jener vergleichenden Verhaltensgeschichte der beiden deutschen Diktaturen, die sie dem Leser eingangs schmackhaft gemacht hat, ist dabei nur wenig geblieben. Ihr ambitioniertes Projekt einer „history from within“ muss als gescheitert gelten.