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Titel
Vom Neandertal nach Afrika. Der Streit um den Ursprung der Menschheit im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Schweighöfer, Ellinor
Reihe
Geschichte der Gegenwart 17
Erschienen
Göttingen 2018: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Hochadel, Institució Milà i Fontanals

Die Geschichte der Human-Origins Research (HOR) wurde lange Zeit, fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch, von den Forschern selbst geschrieben. Aufgrund der großen Bedeutung einzelner Fossilien erwerben sich Paläoanthropologen und prähistorische Archäologen ihre historischen Kenntnisse gleichsam „on the job“. Wissenschaftsgeschichte wird für die Forscher aber oft auch zu einer Ressource, um die Bedeutung der eigenen Entdeckungen herauszustellen. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten haben sich Wissenschaftshistoriker wie Claudine Cohen, Raymond Corbey, Matthew Goodrum, Chris Manias, Nathan Schlanger, Sigrid Schmalzer und Marianne Sommer – um nur einige zu nennen – intensiver der Geschichte der HOR zugewandt. Im Zentrum ihrer Arbeiten steht die Frage, wie Wissen über die stammesgeschichtliche Herkunft des Menschen im Spannungsfeld zwischen Forschung, Politik/Ideologie und Öffentlichkeit geschaffen wird. Da es um „uns selbst“ geht, werden dabei auch zentrale Kategorien wie „human“, „sex/gender“, „race“ und „nation“ verhandelt.

Ellinor Schweighöfer ist eine exzellente Kennerin dieser Literatur und baut in der Druckfassung ihrer Dissertation vielfältig darauf auf. Im Zentrum ihrer Studie „Vom Neandertal nach Afrika. Der Streit um den Ursprung der Menschheit im 19. und 20. Jahrhundert“ stehen vier Fossilienfunde: der Neandertaler (1856), der Pithecantropus erectus (Java, 1891), der Piltdown-Mensch (England, 1912) und das Taung-Kind (Südafrika, 1924). Schweighöfer zeichnet so die Verlagerung der Wiege der Menschheit von Europa über Südostasien nach Afrika nach, wie dies im Titel ihrer Arbeit bereits anklingt. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts formiert sich in der HOR ein Konsens, dass „wir“ aus Afrika stammen, und dies bildet den Schlusspunkt der Arbeit, die damit fast ein ganzes Jahrhundert abdeckt.

Schweighöfer nimmt bewusst eine Metaperspektive ein und fragt, wie diese vier Funde medialisiert und debattiert wurden und sich dabei allmählich „Ursprungsnarrative“ formten. Es geht also nicht um die Funde als solche, sondern um deren „Fundgeschichten“, die weit über das bloße Ereignis der Entdeckung hinausreichen. Akademische und allgemeine Öffentlichkeit sind hier nicht zu trennen, sondern interagieren, wie die Autorin immer wieder zeigt. Der transnationalen Dimension ihres Themas sucht Schweighöfer durch die Rekonstruktion einer „Beziehungsgeschichte“ zwischen deutscher und britischer Forschung gerecht zu werden, die sich in beständigem, oft kontroversem Austausch befanden, in einer nationalistisch grundierten Konkurrenz.

Das Buch gliedert sich gemäß der vier Hauptfunde in zwei zweigeteilte Großkapitel. Auffällig ist die schiere Länge des Neandertalunterkapitels (Kap. 2.1.). Schweighöfer widmet der Fundgeschichte des Neandertalers weit über hundert Seiten (S. 27–140), weil, so ihre Argumentation, sich bereits hier die wirkmächtigen Muster ausbilden, die sich dann mutatis mutandis auch bei den anderen Fossilien rekonstruieren lassen. Der Neandertalerfund wird im Laufe der Jahre durch die Beschreibung des Fundes und der durch kontroverse Interpretationen geprägten Aushandlungsprozesse zu einer „Meistererzählung“ geformt. Bei den späteren Funden wie Piltdown und Taung lässt sich bereits „von der vollständigen Etablierung und auch Automatisierung von narrativen Mustern“ sprechen (S. 373).

„Verifikationsstragie“ ist ein weiterer Schlüsselbegriff in der Rekonstruktion diskursiver Praktiken der HOR. Wie wird aus einem Stück versteinertem Knochen, aus einem schwer datierbaren Schädelfragment ein zentrales Objekt für die Rekonstruktion unserer Stammesgeschichte? In jedem der vier Fälle fragt Schweighöfer, mit welchen Mitteln die beteiligten Forscher ihren jeweiligen Interpretationen Gültigkeit zu verschaffen suchten. Dazu gehört etwa die Verortung der eigenen Funde „im Gefüge der bisher gemachten Entdeckungen“ (S. 224), die eingangs erwähnte Selbsthistorisierung der Forscher. Verschiedene Formen der Visualisierung zählen ebenfalls zu den Verifikationsstrategien, also der Versuch zu rekonstruieren, wie unsere Vorfahren ausgesehen haben könnten, um der eigenen Deutung mehr Überzeugungskraft zu verleihen. Die breite Anlage der Arbeit ermöglicht es Schweighöfer, langfristige, von einzelnen Funden losgelöste Entwicklungen sichtbar zu machen und die Herausbildung der genannten Muster und Praktiken zu zeigen. Dies sind die Stärken von „Vom Neandertal nach Afrika“.

Die profunde Kenntnis der wissenschaftshistorischen Forschung erlaubt es Schweighöfer, sehr ausgewogen zu argumentieren. Sie referiert, diskutiert, kritisiert und gewichtet – läuft aber dadurch auch Gefahr, in der umfangreichen Sekundärliteratur über die vier berühmten Funde zu „ertrinken“. Es fehlt in der Materialfülle bisweilen am argumentativen Zug, nicht immer wird klar, was die Autorin selbst Neues zu sagen hat. Mitunter mäandert der Text ein wenig. So ist das Buch zumindest streckenweise eher eine Geschichte der Paläoanthropologie in ihrem ersten Jahrhundert als eine methodisch eng geführte Rekonstruktion der jeweiligen Fundgeschichten.

Schweighöfers Studie ist mit 424 Seiten auch zu lang ausgefallen. Einzelne Teile wie etwa das Krao-Kapitel 2.2. (S. 141–165) hätte man im Sinne der Stringenz straffen oder gar weglassen können. (Hier geht es um die Zurschaustellung und Vermarktung von Krao, einer stark behaarten Frau, als „missing link“ im späten 19. Jahrhundert.) Die Arbeit ist dort am dichtesten, das heißt originellsten und spannendsten, wo Schweighöfer bisher wenig oder ungenutzte Archivbestände auswertet, zum Beispiel Zeitungsauschnittsammlungen zu Piltdown. Auch kann sie etwa durch die Auswertung der umfangreichen Korrespondenz Raymond Darts zeigen, dass der Entdecker des Taung-Kindes keineswegs ein wissenschaftlicher Außenseiter war, wie dies häufig zu lesen ist. Dart „war komplett eingebunden in die transnationale und vor allem die britische scientific community“ (S. 373).

Das Thema der Beziehungsgeschichte zwischen deutscher und britischer Forschung wird eingangs stark gemacht, dann aber nicht systematisch verfolgt. Ohnehin könnte man ja fragen, wieso ausgerechnet dieser binationale Fokus gewählt wurde. Der Pithecantropus erectus wurde vom Niederländer Eugène Dubois auf Java gefunden, das Taung-Kind vom Australier Dart in Südafrika – was die Autorin durch die Problematisierung der Kategorien „Zentrum“ und „Peripherie“ durchaus reflektiert. In „Vom Neandertal nach Afrika“ erfährt man nur wenig zur französischen Forschung und zur zentralen Gestalt von Marcellin Boule und seiner wirkungsmächtigen Interpretation des La Chappelle-aux-Saints-Neandertalers, wonach dieser kein Vorfahr des Homo sapiens sei. Auch nur am Rande erwähnt wird der Fund des „Peking-Mann“. Dabei schienen spektakuläre Fossilienfunde in China in den späten 1920er- und 1930er-Jahren wieder auf Ost-Asien als Wiege der Menschheit zu verweisen.

Der Nachteil von Schweighöfers breit angelegter Darstellung besteht nicht zuletzt darin, dass unweigerlich Lücken auftreten, deren Füllung noch mehr Raum erfordert hätte – und dies hätte den Rahmen einer einzelnen Studie dann endgültig gesprengt. So bleibt die Frage, ob ein engerer zeitlicher Fokus und eine Konzentration auf weniger oder nicht bekannte Quellen unter Umständen nicht ergiebiger gewesen wäre. Die Arbeit von Schweighöfer zeigt auch, dass eine Gesamtgeschichte der HOR noch zu schreiben wäre, eine enorme Herausforderung, die ein einzelner Historiker oder eine einzelne Historikerin wohl kaum zu bewältigen vermag. Gerade die erwähnten „Lücken“ zeigen, dass sich eine derartige Geschichte der Erforschung unserer Ursprünge letztlich nur als Globalgeschichte schreiben lassen wird.

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