D. Sieber (Hrsg): Patriotische Schriften

Cover
Titel
Patriotische Schriften, 1798-1801.


Herausgeber
Sieber, Dominik
Reihe
Johann Caspar Lavater: Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe, Band VIII
Erschienen
Zürich 2015: NZZ Libro
Preis
CHF 122.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sarah Baumgartner, Historisches Institut, Universität Bern

Der Zürcher Theologe und Schriftsteller Johann Caspar Lavater (1741–1801) sticht als eine der schillerndsten Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts hervor. Die Ausstrahlung des umtriebigen und charismatischen Pfarrers reichte weit über seine Vaterstadt hinaus: Ein riesiges Korrespondenznetzwerk verband ihn mit Persönlichkeiten aus halb Europa, und unter seinen zahlreichen Besuchern fanden sich Koryphäen wie Goethe. Von Lavaters Mitteilungsbedürfnis und von seiner immensen Schaffenskraft legen auch die mehr als 400 von ihm im Druck publizierten Werke beredtes Zeugnis ab.1 Um zumindest eine Auswahl davon der Forschung und weiteren Interessierten leichter zugänglich zu machen, lässt es sich ein Zürcher Editionsprojekt seit 1994 angelegen sein, einige als besonders wirkmächtig eingeschätzte Veröffentlichungen Lavaters im Rahmen einer kommentierten, historisch-kritischen Ausgabe neu herauszugeben.2 Geplant sind zehn Bände, von denen bislang deren sieben erschienen sind.3

Bis zum heutigen Tag berühmt ist Lavater namentlich für die „Physiognomik“, sein schon damals ebenso Aufsehen erregendes wie umstrittenes Ansinnen, menschliche Charaktere mit wissenschaftlichem Anspruch aus Gesichtszügen zu lesen. Dies und sein theologisches Werk, das ihm seinerzeit den Ruf religiöser Schwärmerei eingetragen hatte, gelten zwar zu Recht als Lavaters eigentliche „Lebenswerke“, doch erschöpft sich darin die Breite seines vielschichtigen Wirkens keineswegs.

Weniger bekannt, aber deswegen nicht weniger bemerkenswert ist, dass der geistliche Herr auch engagiert zu konkreten politischen Angelegenheiten Stellung nahm: Am Anfang und Ende seines öffentlichen Agierens stehen mutige politische Schriften. Bereits in noch jugendlichem Alter, unmittelbar nach Abschluss seines Studiums, machte er gemeinsam mit zwei Freunden die Machenschaften eines korrupten Landvogtes publik, was dann im „Grebelhandel“ tatsächlich die Anklage des Fehlbaren zur Folge hatte.4

Auch während seinen letzten Lebensjahren, als die politische Ordnung der alten Eidgenossenschaft im Gefolge der französischen Invasion zusammengebrochen war, fühlte Lavater – inzwischen etabliert als Pfarrer an einer der Zürcher Stadtkirchen – sich berufen, den neuen Machthabern über die Medien des persönlichen Briefes und des gedruckten Pamphletes ins Gewissen zu reden.

Einer Auswahl solcher Schriften ist der 2015 erschienene, von Dominik Sieber herausgegebene achte Band der historisch-kritischen Lavater-Edition gewidmet. Unter dem Titel „Patriotische Schriften“ versammelt der Band vier Veröffentlichungen Lavaters, die im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der am 12. April 1798 auf Geheiss der französischen Besatzer proklamierten „Helvetischen Republik“ entstanden waren.

Unmittelbar nach der Ausrufung des neuen Staatsgebildes gelangte Lavater mit einer Eingabe an Jean-François Reubell (1747–1807), den Präsidenten des französischen Direktoriums. Unter dem Motto „Wort eines freyen Schweizers an die große Nation“ gibt der Pfarrer darin unerschrocken und mit der für ihn typischen Leidenschaftlichkeit seiner Empörung über „das Betragen der Fränkischen Nation“ (S. 194) gegenüber seiner Heimat Ausdruck. Die Invasion und die Absetzung der alten Regierung prangert er als völkerrechtswidrigen Akt der Aggression an, die Konfiskation der eidgenössischen Staatsvermögen und die Kontributionsforderungen als Raub. Kühn wirft er der Nation, „die sich in mehr als einer Absicht die Große zu nennen berechtigt glauben kann“ (S. 192) vor, mit ihrem gewalttätigen und tyrannischen Gebaren ihre eigenen hehren politischen Freiheitsideale verraten zu haben. Den seit jeher freien Schweizern hätten die Franzosen nicht die Demokratie gebracht, sondern sie recht eigentlich versklavt: „man zwang uns die Freiheit auf, uns alle Freiheit rauben zu lassen“ (S. 208). Die Antwort, die Lavater darauf aus Paris erhielt, wurde samt seiner Entgegnung unter dem Titel eines „Brief-Wechsel“ ebenfalls bald über den Druck dem Publikum zugänglich. Etwas später wandte sich Lavater auch an das Vollziehungs-Direktorium, also die Regierung des helvetischen Zentralstaates, und forderte die Freilassung deportierter Mitbürger, die Einstellung des Prozesses gegen die ehemalige Regierung und die Rückgängigmachung der Zehntaufhebung, die ja auch das Einkommen des Pfarrers gefährdete.

Sein Engagement sollte für Lavater nicht folgenlos bleiben: er wurde, wie einige weitere einflussreiche Vertreter der alten Zürcher Eliten, nach Basel deportiert, allerdings schon bald nachdem die Machthaber sich seiner Harmlosigkeit versichert hatten, wieder freigelassen. Die Erlebnisse verarbeitete er in seinen als Briefroman angelegten „Freymüthigen Briefen über das Deportationswesen“. Während im Fall der drei oben genannten kleineren Schriften über Lavaters persönliche Initiative zur Publikation Unklarheit besteht, schuf er die „Briefe“, eine umfangreiche Collage aus authentischer und fingierter Korrespondenz, gezielt als einen an das Publikum gerichteten Kommentar zu den politischen Ereignissen am Beginn der Helvetik.

Eine umfangreiche Einleitung orientiert über den Autor, den politischen Kontext und die Beweggründe, dem jene Schriften ihre Entstehung verdanken. Dabei erläutert der Herausgeber die Bedeutung des politischen Engagements in Lavaters Biographie, liefert einen Abriss der politischen Ereignisse der Zeit und arbeitet Aspekte der Haltung des Zürcher Pfarrers zu der neuen Staatsverfassung heraus, die sich aus so unterschiedlichen Motiven wie seiner pflichtbewussten Gesetzestreue, dem von ihm verehrten Ideal der alteidgenössischen Freiheit, der Furcht vor Tyrannei und Chaos sowie einer endzeitlichen Deutung der aktuellen Ereignisse spies.

Der umsichtige Versuch einer politischen Einordnung des so facettenreichen Lavater nennt diesen einen „Grenzgänger zwischen zwei Epochen“ (S. 72), der als Zürcher Bürger der hergebrachten Ordnung anhing, sich aber ebenso für die Ideale von Freiheit und Gleichheit begeisterte – und doch letztlich als Christ und Pfarrer „nur seinen Glauben als Partei gelten ließ“ (S. 81). Diese Einschätzungen stützen sich auf den aktuellen Forschungsstand – davon zeugen die ausführlich zitierte Literatur und Danksagungen an zahlreiche Experten – und zudem auch auf eigene Forschungen des Herausgebers, die die Kenntnisse über die betreffenden Texte nochmals massgeblich erweitern. Dabei wurde vor allem unveröffentlichtes Material aus dem Nachlass ausgewertet, insbesondere Korrespondenz.

Den Richtlinien der Editionsreihe gemäss wird im Fall von mehrfach gedruckten Veröffentlichungen in der Regel die erste Auflage berücksichtigt, Änderungen gegenüber eventuellen weiteren Ausgaben sind im textkritischen Apparat vermerkt. Jede der vier edierten Publikationen wird separat ausführlich eingeführt und analysiert, wobei jeweils eine akribische Rekonstruktion der Textgenese vorgenommen wird, Grundzüge der Rezeption skizziert werden, und wo erforderlich auch die literarische Gattungszuordnung diskutiert wird. Besonders umfangreich fallen die Erläuterungen für Lavaters mutiges «Wort» an das französische Direktorium aus; das Pamphlet erregte schliesslich weit über die Eidgenossenschaft hinaus Aufsehen, wovon nur schon die zahlreichen Übersetzungen zeugen. Der Herausgeber hat es hier unter anderem auf sich genommen, die verschiedenen Versionen, in denen der Text in Umlauf kam, sowie die möglichen Erscheinungsorte und -zeitpunkte der Übersetzungen zu diskutieren, und er erörtert die Typologisierung des „Wortes“ im Kontext frühneuzeitlicher Protestschreiben.

Die „Patriotischen Schriften“ und die übrigen ansprechend gestalteten Bände der Lavater-Edition erschliessen der künftigen Forschung zum Zürcher Pfarrer wichtiges Grundlagenmaterial. Bedauerlich ist einzig, dass diese Neuausgabe der Lavaterschen Werke als Teil eines langjährigen Projektes nicht mehr von den Möglichkeiten des digitalen Edierens profitieren kann. Zwar wird die Werkausgabe auch im PDF-Format angeboten, doch scheint es aus heutiger Sicht zum Beispiel schade, dass parallel zu den Transkripten nicht auch Faksimiles sowohl der handschriftlichen Entwürfe wie der Drucke beigegeben werden konnten, und natürlich insbesondere, dass die unkomplizierte Integration neuer Verweisungen nicht möglich sein wird. Solche sind schon bald zahlreich zu erwarten, da die laufende weitere Erschliessung des Lavater-Nachlasses zweifellos noch weitere Erkenntnisse zu Tage bringen wird.5 Namentlich bezüglich der Rezeption stellen die präsentierten Einsichten, wie der Herausgeber selbst einräumt, bloss erste „Leseeindrücke“ (S. 177) dar – aber dies schmälert natürlich den Wert des Editionswerks keineswegs.

Anmerkungen:
1 Vgl. das als „Ergänzungsband“ erschienene Verzeichnis: Horst Weigelt (Hrsg.), Bibliographie der Werke Lavaters. Verzeichnis der zu seinen Lebzeiten im Druck erschienenen Schriften. Johann Caspar Lavater: Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe, Ergänzungsband, Zürich 2001.
2 Bis dahin existierte bloss eine Lavater-Neuausgabe, die jedoch einzelne Werke nur ausschnittweise und ohne kritischen Kommentar widergibt: Ernst Stähelin (Hrsg.), Johann Caspar Lavaters ausgewählte Werke, 4 Bände., Zürich 1943.
3 <https://www.lavater.com/werke> (15.04.2020).
4 Bereits erschienen in Bettina Volz-Tobler (Hrsg.), Jugendschriften 1762–1769. Johann Caspar Lavater. Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe, Band 1.1, Zürich 2008.
5 <https://www.lavater.com/briefwechsel> (15.04.2020).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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