Es ist ein großes Ziel, dass sich Klaus Kellmann gesetzt hat: Er möchte die Kollaboration mit Hitler-Deutschland in Europa während des Zweiten Weltkrieges darstellen, um so dem „Bewältigen der Zukunft, der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Bewusstsein[s] und einer gemeinsame[n] europäischen Identität“ (S. 9) zu dienen. Als „Mitglied und Nachfahre der Täternation“ (S. 9) habe er diese Aufgabe übernommen, da dies kein „Franzose, Norweger, Litauer oder Kroate getan hätte“ (S. 9), ja im Gegenteil: In Osteuropa werde das Thema betreffend „teilweise noch gelogen, dass sich die Balken biegen, ja Kollaboration in Widerstand umgeschrieben“ (S. 9). Und tatsächlich: Kellmann begibt sich auf ein in der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte diskursiv vermintes Feld.
Ausgehend von seinem geschichtsdidaktischen Impetus macht er sich zunächst an eine ausführliche Definition dessen, was er unter Kollaboration versteht (S. 11–33). Der Begriff war über längere Zeit moralisch-politisch besetzt und erfuhr erst kürzlich eine Umbewertung und gewann dadurch wieder an Bedeutung als Analysekategorie für die Interaktionen zwischen Besatzern und Besetzten während des Holocaust. Kellmann beschreibt diese als Zusammenarbeit zwischen ungleichen Partnern (S. 13) und weist auf die verfehlte „Dichtonomisierung von Kollaboration und Widerstand“ hin, die das oft „äußerst komplexe Beziehungsgeflecht“ (S. 13) nicht abbildet. Allerdings führt er dann mit der Frage nach der moralischen Beurteilung aufgrund der Motivation (S. 13) wiederum eine Kategorisierung ein, die dem eben Geschriebenen in gewisser Hinsicht widerspricht.
Kellmann stellt dann einen zweiten Definitionsversuch vor, macht Kollaboration am Kriegsverlauf fest und beschreibt diese als einen „komplexen, dynamischen Prozess, als permanentes Fluidum, das sich von einem Moment zum anderen kriegsrelevant verändern kann“ (S. 21) und spricht von ihr als „äußerst diffiziles Phänomen“ und „hochkomplexen Zusammenspiel“ (S. 21) aus den verschiedensten Akteuren mit ihren verschiedensten Motiven. Zur Eingrenzung seines Gegenstandes benutzt er das Kriterium eines „signifikanten Ausmaßes“ (S. 23) an Zusammenarbeit, womit er begründet, in die 24 Länderkapitel die neutrale Schweiz oder Schweden, nicht jedoch Spanien aufzunehmen. Diese Vorgehensweise des Durchdeklinierens von Land zu Land hat seine Tücken. So werden vor 1938 bestehende, danach aber eben durch das Vorgehen NS-Deutschland zerstörte Staatswesen wie Jugoslawien und Polen mit den völlig unterschiedlichen Realitäten und Formen der Besatzungsherrschaft gemeinsam behandelt, dazu auch noch verbündete Staaten wie etwa Ungarn oder Rumänien, was einer vergleichenden Analyse nur abträglich sein kann. Unverständlich ist auch, warum die Ukraine dabei in einem eigenen Kapitel behandelt wird.
Jedes Länder-Kapitel beinhaltet Vorgeschichte, Besatzungs-Realität und – das ist eines der großen Positiva des Buches – auch die Geschichte(n) der Auseinandersetzung mit Kollaboration und Kollaborateuren nach 1945 Ein Plus sind auch die den Länderkapiteln nachgestellten Überlegungen zum „europäischen Gedächtnis und europäischer Identität“ (S. 543–573), wären da nicht die noch einmal polemisch zugespitzten und zusammengefassten Länderkapitel in Kurzzusammenfassung und die Abwertung des Widerstandes als schwach und erbärmlich (S. 562). Selbst wenn es so gewesen sein sollte – Widerstand von anderen ex post einzufordern ist ahistorisch und kommt zudem einer Verhöhnung der Opfer nahe.
Insgesamt enttäuschen die Länderkapitel, weil sie zu grob zeichnen, viele Fehler enthalten und im Ton der moralischen Entrüstung geschrieben sind. Dazu kommt, dass Kellmann meist nur auf deutschsprachige Literatur zurückgreift und journalistischen Texten den gleichen Wert zumisst wie wissenschaftlichen. Es fehlen zudem einzelne Sonden in gesellschaftliche oder regionale Mikrostrukturen und wirklich länderübergreifende Kategorisierungen.
Beindruckend sind die Zahlen, die Kellmann präsentiert: Ein Drittel des nichtdeutschen europäischen Raums mit über 150 Millionen Menschen stand zeitweise unter deutscher Herrschaft, ohne dabei starke deutsche Kräfte zu binden. Die Vielfalt der Besatzungsregime, von der Unabhängigkeit über Militär- und Zivilverwaltung bis hin zur brutalen Herrschaft diverser „Gouverneure“ und „Protektoren“, sollte nicht verschleiern, dass in jedem Land willige Mithelfer bereitstanden. So war die Waffen-SS bald eine „multiethnische“ Truppe und auch in der Wehrmacht dienten mehr als zwei Millionen nichtdeutscher Soldaten und (mit-)ermöglichten so das zentrale Projekt der NS-Herrschaft – den Holocaust (S. 561).
Den Holocaust sieht Kellmann auch als „größte Position auf dem Schuldkonto der europäischen Kollaboration“ (S. 564). Solange es nicht gelinge, die Mitbeteiligung der Gesellschaften an diesem anstelle von Opfer- und Widerstandsmythen zu einem zentralen Teil des europäischen Gedächtnisses werden zu lassen, „wird es auch kein vereintes Europa geben“ (S. 573).
Im Folgenden sollen die Kapitel zu Österreich und der Tschechoslowakei einer näheren Kritik unterzogen werden. Bereits die Einbeziehung Österreichs in ein Werk zu Kollaboration mit dem Deutschen Reich während des Zweiten Weltkriegs vermag zu überraschen, war doch das Gebiet Österreichs nach dem „Anschluss“ im März 1938 ein originärer Bestandteil desselben. Kellmann betont auch, dass sich viele Österreicher über weite Strecken der Geschichte zunächst einmal als Deutsche gefühlt haben, und schildert die Genese der Anschlussidee und der österreichischen Mitbeteiligung am NS-Regime, jedoch durchsetzt von mehreren Fehlern und fragwürdigen Schlüssen. So zitiert er aus einem Memorandum Simon Wiesenthals aus den 1960er-Jahren, in dessen Folge sich „unhaltbare, unbewiesene und methodisch gesehen auch unbeweisbare Behauptungen“ tradieren1, die von einer starken Überrepräsentation der Österreicher an NS-Verbrechen ausgehen. Seine Aussage von der mangelnden Kraft des österreichischen Widerstands stimmt, nicht jedoch, dass dieser im Vergleich zum deutschen im „Altreich“ schwächer gewesen wäre; das Gegenteil ist der Fall.
Kellmanns Abriss über den Umgang Österreichs mit seiner NS-Vergangenheit ist über weite Strecken stimmig erzählt, so wie in den anderen Länderkapiteln auch dieser Part gelungener ist als der zum eigentlichen Kollaborationsgeschehen. Er schildert den Widerspruch zwischen der offiziösen Opferthese und den Bemühungen aller Parteien zur Reintegration der ehemaligen Nationalsozialisten in die Gesellschaft. Auch der „Affäre Waldheim“ und dem Entstehungsprozess der österreichischen Nation widmet er breiten Raum, leider auch hier nicht ohne Fehler, die ein wissenschaftliches Lektorat leicht hätte beseitigen können. So war Bruno Kreisky 1954 keineswegs schon österreichischer Außenminister (S. 54), und Kurt Waldheim unterlag nicht Rudolf Kirchschläger bei seinem ersten Antreten zur Präsidentenwahl 1971 (S. 59).
Im Kapitel zur Tschechoslowakei versucht sich Kellmann an einer Parallelerzählung zu den Tschechen, Slowaken und (Sudeten-)Deutschen, was das Lesen nicht gerade vereinfacht und zudem die Frage aufwirft, ob die Rollen der (dem Deutschen Reich angeschlossenen) Sudetendeutschen, der besetzten Tschechen und der im vertraglich an das Deutsche Reich gebundenen slowakischen Staat lebenden Slowaken überhaupt vergleichbar sind. Dabei zieht er interessante Schlussfolgerungen, etwa, wenn er auf die großen tschechischen und slowakischen „Meistererzählungen“ nach 1945 hinweist (S. 426), die den Widerstand glorifizierten und etwa die Verfolgung und Vernichtung der tschechischen und slowakischen Juden, die unter aktiver Mithilfe des slowakischen Staates, aber auch von Behörden des Protektorats von statten gingen, externalisierten oder verschwiegen; oder wenn er das Fehlen einer gemeinsamen tschecho-slowakischen Erinnerungskultur konstatiert (S. 429). Er arbeitet die Handlungsspielräume und die ideologische Bandbreite des slowakischen Tiso-Regimes 1939–1945 in Übereinstimmung mit den neuen Forschungsergebnissen heraus (S. 416f.), konterkariert jedoch seine eigenen Aussagen, wenn er einige Seiten davor den „Marionettencharakter“ (S. 413) der Slowakei herausstreicht. Es gelingt es ihm auch hier nicht, Fehler zu vermeiden. Die ersten Parlamentswahlen fanden 1920, nicht 1919 (S. 409) in der ČSR und nicht ČSSR statt (S. 411). Die Regierung des Protektorats mit dem „Staatspräsidenten“ Emil Hácha ließ kein KZ für politische Gefangene, sondern Arbeits- und Internierungslager für die tschechischen Roma und Sinti errichten (S. 414). Emanuel Moravec war kein tschechischer Faschist (S. 414).
Insgesamt fehlt es der Publikation so an analytischer Schärfe, Genauigkeit und Distanz. Abgesehen davon ist es wohl auch nur schwer möglich, einen so breit angelegten Überblick aus einer Hand zu schreiben.
Anmerkung:
1 Kurt Bauer, Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938–1945, Frankfurt am Main 2017, S. 252.