Cover
Titel
Mytho-Poetics at Work. A Study of the Figure of Egmont, the Dutch Revolt and its Influence in Europe


Autor(en)
Rittersma, Rengenier C.
Reihe
Brill's Studies in Intellectual History 266
Erschienen
Anzahl Seiten
XIII, 416 S.
Preis
€ 166,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Mörke, Historisches Seminar, Universität Kiel

Die deutsche Originalfassung des hier anzuzeigenden englischsprachigen Buchs erschien 2009 unter dem Titel Egmont da capo – eine mythogenetische Studie in der Reihe des Münsteraner Zentrums für Niederlande-Studien. Gegenüber der ursprünglichen Version, 2006 am European University Institute in Florenz als Dissertation angenommen, ist die Neufassung mit ihren sechs Anhängen lediglich um einen weiteren Anhang, ein ausführliches Zitat aus den sogenannten Fugger-Zeitungen, ergänzt. Mit der vorliegenden Übersetzung, sorgfältig und kenntnisreich ausgeführt von Christopher W. Reid, wird sie einem erweiterten wissenschaftlichen Fachpublikum zugänglich gemacht. Der Gegenstand der Arbeit und ihr methodischer Zuschnitt lassen diese Erweiterung sinnvoll erscheinen. Zum einen ist das lange mythische Nachleben Egmonts durchaus ein europäisches Phänomen, zum anderen unterbreitet die Untersuchung mit ihrem methodischen Design ein Angebot, das für thematisch ähnliche Studien interessant ist.

Worum geht es Rittersma? Zunächst beobachtet er die jahrhundertelange Beschäftigung mit der Figur des Grafen Lamoral von Egmont (1522–1568), hingerichtet in Brüssel wegen seiner Unterstützung für die spanische Krone; die Ermordung gilt als Ausgangspunkt für den Spanisch-Niederländischen Krieg und der daraus resultierenden Lösung der nördlichen Niederlande aus spanischer Herrschaft. Zwar gehört der niederländische Adlige nicht zur ersten Garde der mythisch zu Heroen überhöhten historischen Gestalten, aber er siedelt bis heute im historischen Gedächtnis. Gerade deshalb lohnt es, sich mit der Mythogenese dieser Figur in einer Weise zu befassen, wie es Rittersma tut. Prägnant formuliert er das Frageraster, das seine Arbeit einrahmt: „How and why did the name Egmont achieve such resonance throughout the centuries, from the Mediterranean to East Berlin? What did he represent? What fears and desires did he communicate? For whom did he serve as a scapegoat or figurehead? What was it about this figure and his story which sparked the imagination of different individuals and groups in distinct periods? What constituted its epoch-specific utility, and why did this historical figure lend himself so readily – at times as if made to order – to future generations?“ (S. 8).

Mit diesen Fragen hegt er das Thema einerseits ein, um es im Rahmen einer Dissertation handhabbar zu machen, andererseits fokussiert er damit plausibel auf die Genese des Mythos Egmont. Jene Genese beginnt unmittelbar im Anschluss an die Hinrichtung des Grafen Lamoral van Egmont und seines Standesgenossen Philippe de Montmorency, Graf von Hoorn, in Brüssel im Jahr 1568 und findet ihren Abschluss gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als die Person des Egmont endgültig zum Mythos geworden sei.

Es geht um die Rekonstruktion des „crystalization process of the myth“ (S. 10), wie Rittersma sein Erkenntnisziel in etwas blumiger Wissenschaftssprache auf den Punkt bringt. Zur Verfolgung dieses Ziels entwirft der Autor in der Einleitung ein anspruchsvolles methodologisches Design. Sein Mythosbegriff orientiert sich an den Konzepten Hans Blumenbergs und Roland Barthes. Die argumentative Reife seiner Studie zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Rittersma nicht das in Qualifikationsarbeiten oftmals anzutreffende Namedropping betreibt, kombiniert mit einem auf die Einleitung beschränkten Begriffsgewölk, sondern vielmehr unter flexibler Zuhilfenahme jenes methodologischen Designs einen argumentativen Leitfaden spinnt, der durch die Arbeit führt.

Der Text ist dreigeteilt, entsprechend den drei identifizierten Hauptphasen der Mythogenese Egmonts. Teil 1 behandelt „Egmont in Proto-historiography“, die Periode der frühen publizistischen Reaktionen auf die von Zeitgenossen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven als außerordentliches Geschehen wahrgenommenen Hinrichtung des Grafen. Dabei wird die Mehrschichtigkeit in den Motiven der frühen Egmont-Rezeption aufgedeckt. Die Abhängigkeit des Egmontbildes von der Positionierung der jeweiligen Autoren im niederländischen und europäischen Politik- und Konfessionssystem führt dabei zu ersten wertenden Markierungen dieses Bildes, deren Weiterentwicklung in den späteren Phasen verfolgt werden kann. Dass die antispanische Schicht, die mit der Entwicklung der leyenda negra ein langfristig wirksames Stereotyp ausformte und dass der niederländische Freiheitsdiskurs für die Bildformung Egmonts eine besondere Rolle spielte, überrascht nicht. Aber auch andere Entwicklungen, wie insbesondere die Ausformung einer verfeinerten Hofkultur mit ihren besonderen Anforderungen an die Rolle des Höflings, spielten eine wichtige Rolle für die Beurteilung von Egmonts Persönlichkeit. Das Bild vom redlichen, in politicis eher naiven Egmont, der gleichsam zum Opfer seines Mangels an Taktierfähigkeit geworden ist, wandelte sich im Lauf der Mythogenese zu dem eines tugendhaften Kämpfers gegen machiavellistische Falschheit. Rittersma entwickelt seine Argumentation vor der umfassenden Kenntnis anderer zum Mythos gewordener Personen. Immer wieder bezieht er unter anderen Wilhelm von Oranien ein, dessen Beiname „Der Schweiger“ für einige Autoren ebenfalls auf diese machiavellistische Dimension verweist, dessen posthume Bildformung nach seiner Ermordung 1584 ihn gleichwohl sehr bald zum „Vater des Vaterlandes“ der niederländischen Republik überhöht.

Die Querbezüge zu anderen personenorientierten Mythogenesen belegen auch die praktisch-politische Dimension dieser Prozesse sowie ihre Rückkopplung an politisch-philosophische Konzepte. Der sprechende Titel des Teiles 2 „To Exploit the Anachronism: Egmont in Historiography“, in dem wesentliche historiographische Arbeiten vom späten 16. bis zum späten 18. Jahrhundert analysiert werden, deutet auf die die Mythogenese durchziehende Ungleichzeitigkeit der Figur des Egmont. Auf die neue Qualität dieser Phase gegenüber der ersten, der protohistoriographischen, und die Verbindung beider verweist der Autor mit einem Vergleich aus der Biologie. Er strapaziert das Phänomen der Mykorrhiza, der Symbiose zwischen Pilzen und pflanzlichem Wurzelgeflecht, um zu verdeutlichen, wie sich die in der protohistoriographischen Phase angelegten Elemente des Egmontbildes in einen gesellschaftlichen Diskurs einnisten, der „the whole range of cultural expressions (literature, painting, music, monuments, etc.)“ infiltriere (S. 117). Man mag darüber streiten, ob solcherart Analogie für die Analyse des mythogenetischen Prozesse notwendig ist. Gleichwohl unterstützen sie das Erkenntnisziel, nämlich eben jenen mythogenetischen Prozesses zu verstehen.

Teil 3 „To Eulogise the Unfeigned: Egmont in the European Age of Revolution“ rekurriert auf die lange Entwicklung, in der schlussendlich das Bild vom aufrechten, aufrichtigen, unverfälschten Egmont seine Wirkung entfaltet. Schillers „Geschichte des Abfalls der Niederlande“ und Goethes „Egmont“ stehen hier im Mittelpunkt der Analyse. Die Entstehungsgeschichte beider Werke entfaltet ein Panorama der europäischen Geistes- und Politikgeschichte, indem Rittersma nach den Bedingungen und Beziehungen ihrer Entstehung in der Ideen- und Politikgeschichte Europas in jener Zeit fragt und auch offenlegt, wie der Egmont des Goethe’schen Dramas zu dem Egmont des 19. Jahrhunderts wurde. Habe er noch zu Beginn der revolutionären Epoche als Repräsentant „of the inner freedom“ gegolten, so sei Egmont um 1810 bereits zu einem „traditional political hero of freedom“ (S. 332) mutiert. Im „ideological age“ (S. 335) schließlich sei er dann Beute sowohl des Nationalismus wie auch des Kommunismus geworden.

„Once a figure is transformed into myth, it achieves an effect that transcends its historical facticity“ (S. 337), so der Schlüsselsatz der „Concluding Remarks“. In der Tat zeigt Rittersmas Arbeit genau dies am Beispiel des Egmont. Er legt die komplexe Beziehung von Mythos und Realität offen. Was er in der Einleitung als Leistung von Mythen und Legenden profiliert, dass sie nämlich eine „dual reality“ (S. 20), eine „Zweitwirklichkeit“, wie es im deutschen Original heißt, schaffen, belegt seine Arbeit in argumentativer Tiefe wie Breite gleichermaßen.

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