"Untergetaucht". Jüdische Verfolgte in Berlin, 1941–1945

: Die Banalität des Guten. Hilfeleistungen für jüdische Verfolgte 1941–1945. Berlin 2018 : Metropol Verlag, ISBN 978-3-86331-396-8 385 S. € 24,00

: Submerged on the Surface. The Not-So-Hidden Jews of Nazi Berlin, 1941–1945. New York 2019 : Berghahn Books, ISBN 978-1-78533-455-9 XIV, 241 S. $ 135.00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Kain, Berlin

Zwei jüngst publizierte Dissertationsschriften beschäftigen sich mit der Flucht jüdischer Verfolgter in die „Illegalität“ im nationalsozialistischen Deutschland der Jahre 1941 bis 1945. Dem Phänomen des „Untertauchens“ widmen sich beide Studien aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Während sich Richard Lutjens vor allem dem Schicksal und den Überlebensstrategien der untergetauchten Juden in Berlin zuwendet, richtet Susanne Beer in ihrer Arbeit den Fokus auf die Hilfe für die Untergetauchten.

Beer konstatiert, dass die Umstände, die unter den Bedingungen des NS-Regimes zur Hilfe für jüdische Verfolgte führten, selten heroisch, sondern oft eher trivial und zumeist „das Ergebnis einer Mischung aus Zufällen, günstigen Gelegenheiten und kleinen Gesten“ waren (S. 330). Ihre Studie über die Hilfeleistungen für jüdische Verfolgte trägt daher – angelehnt an den von Hannah Arendt in ihrem Bericht über den Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann genutzten Begriff der Banalität – den sicherlich auch provokativ gemeinten Titel „Die Banalität des Guten“. Denn statt nach einer Generalisierbarkeit der Motive und Beweggründe der Helfer zu suchen, verweist der Begriff der Banalität auf ihre alltäglichen Erfahrungen und Handlungsräume. Zugleich nimmt er ihnen den Anschein, übermenschlich, selbstlos und uneigennützig gewesen zu sein und aus einer moralischen Integrität heraus gehandelt zu haben. Anders als Arendt gebraucht Beer den Terminus der Banalität freilich nicht im Sinne einer vermeintlichen Gedankenlosigkeit der Betroffenen. Denn den Helfern verfolgter Juden war durchaus bewusst, dass ihr Handeln der NS-Rassentheorie und der daraus resultierenden Praxis entgegenlief und sie diese fundamental sabotierten.

Mittlerweile liegen zahlreiche biographische Studien zu einzelnen Helfern, aber auch zu übergreifenden Hilfenetzwerken vor. Susanne Beer hat nun eine überblicksartige Darstellung des Phänomens der Hilfe für jüdische NS-Verfolgte vorgelegt. Geschichts- und sozialwissenschaftliche Perspektiven werden von ihr kombiniert und dadurch neue Akzente gesetzt. Die zentrale Frage der Studie ist jene nach dem Antrieb der Helferinnen und Helfer. Welche sozialen Bedingungen und Voraussetzungen, welche biografischen Erfahrungen und situativen Konstellationen befähigten sie zur Hilfe? Um dies zu klären, verfolgt Beer einen kollektiv-biographischen Ansatz und widmet sich in ihrer vergleichenden Analyse insgesamt 52 Helferbiographien. Der regionale Fokus der gewählten Fälle liegt auf Berlin, was wohl im Wesentlichen der Quellenlage geschuldet ist. Lediglich ein Viertel der untersuchten Hilfeleistungen für untergetauchte Juden fanden im übrigen Reichsgebiet statt.

Die Arbeit gliedert sich in zehn Kapitel. Einleitend werden zunächst der methodische Ansatz und die verwendeten Quellen beschrieben, während im darauffolgenden Abschnitt die Forschungsliteratur umfangreich und detailliert vorgestellt wird. Beer gelingt hier eine äußerst lesenswerte, systematische Auswertung der geschichts- und sozialwissenschaftlichen Literatur zur Thematik. Darüber hinaus räumt sie mit der häufig zu lesenden Behauptung auf, dass die Beschäftigung mit der Hilfe für jüdische NS-Verfolgte von der Forschung weitestgehend vergessen blieb. Tatsächlich lässt sich bereits seit dem Ende der 1960er-Jahre von einem kontinuierlichen Publikationsaufkommen und spätestens seit den 1980er-Jahren von einem beträchtlichen Forschungsinteresse sprechen (S. 51f.), welches bis heute anhält.

Die beiden nachfolgenden Kapitel dienen der historischen Kontextualisierung. Sie zeichnen den Prozess der Segregation und schrittweisen Exklusion der Juden aus der deutschen Gesellschaft nach und skizzieren sowohl Umfang und Organisation der Deportation der deutschen Juden als auch die Möglichkeiten der Betroffenen, sich ihrer drohenden Verschleppung in ein ungewisses Schicksal (etwa durch Suizid oder Flucht) zu entziehen.

An dieser Stelle benennt die Studie auch die Anzahl jener, die in den Jahren 1941 bis 1945 deutschlandweit verfolgten jüdischen Menschen halfen. Ausgehend von ca. 10.000 Untergetauchten schätzt Beer sie auf etwa 14.000 (S. 123) und revidiert damit die bisherigen Annahmen der Forschung, welche bislang von mindestens 20.0001, zuweilen sogar bis zu 50.000 Helferinnen und Helfern ausging.2 Dem Hinweis, dass eine verlässliche Schätzung ihrer Anzahl beim derzeitigen Forschungsstand jedoch kaum möglich scheint, ist ausdrücklich zuzustimmen. Denn es fehlt – mit wenigen Ausnahmen – an entsprechenden Regional- und Lokalstudien.

Die Abschnitte fünf bis neun widmen sich schließlich der Analyse der Hilfeleistungen für jüdische Verfolgte, wobei die Perspektive auf die Thematik kapitelweise variiert. So handeln die Kapitel 5 und 6 von der alltäglichen Praxis des Helfens und untersuchen unter anderem die Organisation geeigneter Verstecke, die Lebensmittelbeschaffung oder die Planung möglicher Fluchtwege für die Untergetauchten. Auch das konkrete Alltagsleben im Versteck und die Beziehungsdynamiken zwischen Helfern und Verfolgten werden beleuchtet. Dass sich einige der Helfer auch finanziell an der Notlage der Juden bereicherten und Verfolgte teilweise emotionale und physische Grenzüberschreitungen oder sexuelle Ausbeutung zu erleiden hatten, wird ebenfalls thematisiert. Zur Darstellung kommen zudem die vielfältigen Formen jüdischer Selbsthilfe. Denn die Voraussetzungen jüdischer Selbstbehauptung wurden nicht selten erst durch die Hilfe für verfolgte Juden geschaffen. Des Weiteren wird auf die Rekrutierung von Mithelfern, die Funktionsweise von Hilfeketten und -netzwerken, aber auch auf die Gefahren, etwa durch Denunziation, und die im Falle der Entdeckung drohenden Strafen für die Helfer eingegangen.

Die Betrachtung der Helfer aus soziologischer Sicht ist Gegenstand der nachfolgenden Kapitel. Kategorien wie Alter, soziale Herkunft und Geschlecht werden analysiert und mit den Ergebnissen früherer Studien und den Statistiken des Deutschen Reichs verglichen. Ferner geht die Studie auf die fruchtbaren sozialen Milieus der Hilfe ein und untersucht die politischen Positionierungen der Helfer, um deren Integration in die beziehungsweise Abgrenzung von der NS-Gesellschaft herauszuarbeiten. Dabei kommt Beer zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass die Mehrzahl der Helfer keine dezidierte Konfrontation mit dem NS-Regime wagte, sondern ihre Distanzierung vom Regime zumeist unabgeschlossen und brüchig blieb. „Anstelle einer Totalopposition“ lebten sie in „parallelen Welten“ (S. 296). Anstatt offen zu protestieren, leisteten sie im Privaten Widerstand und passten sich äußerlich an nationalsozialistische Normen an. „In diesem Sinne gehörte das sprichwörtliche Heulen mit den Wölfen, die Fähigkeit, sich durch Mimikry seinem Umfeld anzugleichen, zu den zentralen Bedingungen des Helfens im Nationalsozialismus“, konstatiert die Autorin (S. 337).

Abschließend wendet sich die Studie der Nachkriegszeit zu und zeichnet wiederum detailliert und kenntnisreich unter anderem das oftmals mühselige Ringen um eine öffentliche Anerkennung der Hilfeleistungen nach. Auch wird die Erinnerung an die Helferinnen und Helfer im bundesdeutschen Kontext dargestellt. Zu bedauern ist, dass der Frage nach der Bedeutung der Hilfe für jüdische NS-Verfolgte in der Erinnerungskultur der DDR nicht nachgegangen wurde. Hierzu wird lediglich auf die kaum vorhandenen Vorarbeiten verwiesen (S. 318).

Das große Verdienst der Studie ist es, die Substanz der bisherigen Forschung zur Problematik der Hilfe für NS-Verfolgte herauszukristallisieren. Zum anderen kann die Arbeit bisherige Forschungserkenntnisse und -vermutungen durch die Analyse und den Vergleich einer Vielzahl von Fallbeispielen festigen und zugleich zu deren Differenzierung beitragen. Beers Untersuchung bestätigt beispielsweise, dass Frauen durchschnittlich häufiger Verfolgten beistanden als Männer. Sie zeigt aber auch auf, dass Männer dagegen häufiger als Vermittler bei der Suche neuer Versteckmöglichkeiten für die Verfolgten auftraten (S. 222).

Die Helferinnen und Helfer untergetauchter Juden spielen für Richard Lutjens in seiner Studie „Submerged on the Surface“ lediglich eine Nebenrolle. Das verwundert insofern, da er um ihre Bedeutung für das Überleben der in die „Illegalität“ geflüchteten Juden weiß: „Almost no person survived the war without help at some point from non-Jews“ (S. 52). An anderen Stellen charakterisiert er ihre Hilfe als überlebenswichtig (S. 52), maßgeblich (S. 57) beziehungsweise selbstlos (S. 206). Trotzdem warnt er davor, die Hilfe für verfolgte Juden zu romantisieren (S. 88). Denn selbst wenn es in Berlin bis zu 30.000 Helferinnen und Helfer gab, so machten sie doch nur „a miniscule percentage of the city’s entire population“ aus (S. 20). Lutjens schreibt an dieser Stelle zudem, dass meist mehr als ein Dutzend Personen daran beteiligt waren, einem einzigen Juden zu helfen. Allerdings bleibt er Quellen für die hier genannten Zahlen schuldig. Dennoch ist es richtig, dass die Anzahl jener, die es wagten, sich gegen die rasse-antisemitische NS-Ideologie und Herrschaftsausübung aufzulehnen und verfolgten Juden zu helfen, nicht so groß war, wie es aus heutiger Sicht sicherlich wünschenswert gewesen wäre.

Lutjens wirft den Fokus seiner überzeugenden Analyse auf die Selbstbehauptung der in den Untergrund geflüchteten Berliner Juden und legt erstmals eine umfassende Gesamtdarstellung des Lebens der Untergetauchten vor. Die Studie ist in vier jeweils chronologisch angelegte Hauptkapitel unterteilt: „Untertauchen“ („Submerging“), „Überleben“ („Surviving“), „Leben“ („Living“) und „Auftauchen“ („Surfacing“). Sie geben die alltäglichen Erfahrungen, Konfliktsituationen und Handlungsoptionen der Verfolgten in den verschiedenen Phasen ihrer „Illegalität“ wieder.

Anders als Susanne Beer, die von insgesamt ca. 5.000 in der damaligen Reichshauptstadt Untergetauchten ausgeht (S. 113), schätzt Lutjens deren Anzahl auf etwa 6.500 (S. 212). Gestützt auf die langjährige Forschungsarbeit der Gedenkstätte Stille Helden in Berlin geht er von 1.700 Überlebenden aus, die sich in und um die Stadt herum versteckt hielten (S. 26). Ihr Überleben hing vor allem von der Fähigkeit zur Selbständigkeit und der raschen Eingewöhnung in ihr neues Leben in der „Illegalität“ ab, bemerkt Lutjens (S. 76). Glück beziehungsweise das Schicksal oder die Hilfe und Unterstützung durch Nichtjuden waren nicht allein ausschlaggebend, um diese Zeit zu überstehen. Bedeutsamer sei es gewesen, dass die Untergetauchten einen individuellen, sich über den gesamten Zeitraum ihrer „Illegalität“ ziehenden Lernprozess durchliefen, der durch das Erproben und Austesten bestimmter Handlungsoptionen (Beschaffung von Unterkunft und Nahrung, Kontaktaufnahme zu Nichtjuden etc.), aber auch von Irrtümern und Rückschlägen geprägt war (S. 91).

In seiner Arbeit gibt Lutjens nicht nur die vielfältigen Erfahrungen der in Berlin untergetauchten Juden wieder. Vielmehr konstruiert er eine Geschichte dieser Erfahrungen, indem er die zunächst scheinbar einzigartigen, persönlichen Schicksale der Überlebenden analysiert und danach fragt, was sie miteinander verbindet. So werden Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten in den Erfahrungen der Untergetauchten sehr überzeugend herausgearbeitet (etwa zur Mobilität, persönlichem Mut, der Fähigkeit zum Lügen etc.). Im Gegensatz zur kollektiven Erinnerung der Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager gab es jedoch keine einheitliche, kollektiv erinnerte Erfahrung des Lebens in der „Illegalität“. „Surviving submerged in the city was both an individual and individualistic act“ (S. 3), der von den Überlebenden im Übrigen auch als solcher erinnert wird.

Das Überleben und Leben der Untergetauchten spielte sich in der Regel nicht im Verborgenen ab. Der von Lutjens gewählte Untertitel seiner Studie „The Not-So-Hidden Jews of Nazi Berlin“ weist hierauf hin. Gleichwohl dieser Umstand der historischen Forschung bereits bekannt ist, macht gerade seine detaillierte Analyse und Darstellung den Wert der Arbeit aus. Jene Berliner Juden, die sich durch den Gang in die „Illegalität“ der drohenden Deportation (und damit ihrer Ermordung) zu entziehen suchten, konzentrierten sich mehr auf das Verbergen ihrer jüdischen Identität als auf das physische Verstecken. Tagsüber (teilweise auch in der Nacht) bewegten sich die Untergetauchten oft im öffentlichen städtischen Raum: Sei es, weil ihre Quartiersgeber sie aus Furcht vor Entdeckung nur in den Nachtstunden bei sich aufnahmen, weil sie auf der Suche nach einem neuen Nachtquartier waren, weil sie ausgestattet mit falschen Identitäten einer bezahlten Beschäftigung nachgingen oder weil sie beispielsweise auf dem Schwarzen Markt Lebensmittel zu erwerben hofften. Dabei waren sie ständig der Gefahr ihrer Entdeckung und Inhaftierung ausgesetzt. Ausführlich beschreibt Lutjens die Bedrohungen, die den Alltag der Untergetauchten bestimmten: unter anderem Razzien durch Polizei und Gestapo, im Auftrag der Gestapo tätige jüdische „Greifer“, Denunziationen (auch durch Vertraute und Helfer), physische und sexuelle Gewalt, Krankheiten, Schwangerschaften, Abtreibungen oder der Tod eines mituntergetauchten Verwandten (S. 152ff.).

Wie Susanne Beer verfolgt auch Richard Lutjens einen kollektiv-biographischen Ansatz. In einer bemerkenswerten Fleißarbeit wurden die Nachkriegsaussagen von über 400 Überlebenden (also von ca. 25 Prozent aller untergetauchten Berliner Juden) sowie Daten zu Alter und Geschlecht von 1.074 Untergetauchten (ca. 63 Prozent aller Überlebenden) analysiert. Die so gewonnenen Informationen flossen nicht nur in die eigentliche Abhandlung ein, sondern werden im Anhang des Buches ausführlich zusammengestellt und diskutiert. Hier finden sich statistisch validierte Erkenntnisse etwa zur Gesamtzahl der untergetauchten Juden, zur Anzahl derer, die die Zeit ihrer „Illegalität“ überlebten, zum Zeitpunkt ihres Untertauchens, ihrem Geschlecht, ihrem Alter, zum familiären Status und zur Größe von gemeinsam untergetauchten Familien.

Leider gelingt es Lutjens – anders als Beer – nicht immer, seinem Thema eine zuweilen beiwohnende moralische Aufladung zu nehmen. Dies schmälert aber keineswegs den Erkenntniswert seiner Studie.

Susanne Beer und Richard Lutjens leisten mit ihren Arbeiten jeweils einen eingehenden und tiefgründigen Überblick der Hilfe für verfolgte Juden im nationalsozialistischen Deutschland beziehungsweise des Alltags und der Erfahrungsgeschichte der Untergetauchten. Sie liefern weitreichende Hintergrund- und Detailinformationen, welche in beiden Abhandlungen durch zahlreiche Diagramme und Tabellen veranschaulicht werden. Sie helfen Forschungslücken zu schließen, zeigen aber auch Zukunftsperspektiven der Erforschung des jeweiligen Sujets auf. Beiden Studien ist es daher zu wünschen, dass sie möglichst viele Leserinnen und Leser finden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Johannes Tuchel, Widerstand gegen die Judenverfolgung 1933 bis 1945, in: Christoph Hamann / Beate Kosmala (Hrsg.), Flitzen – verstecken – überleben? Hilfe für jüdische Verfolgte 1941–1945. Geschichte, Quellen, Kontroverse, Berlin 2013, S. 8–12, hier S. 11.
2 Vgl. Samuel P. Oliner / Pearl M. Oliner, The Altruistic Personality. Rescuers of Jews in Nazi Europe, New York 1988, S. 2.

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