Cover
Titel
Autorität und Demokratie. Eine Kulturgeschichte des Erziehungswandels in Westdeutschland und Frankreich 1945–1975


Autor(en)
Levsen, Sonja
Erschienen
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
711 S., 7 Abb.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk Schumann, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Die Geschichte von Kindheit und Jugend in Westdeutschland nach 1945 hat, abgesehen von Ausprägungen der Jugendkultur, bislang kaum das Interesse der zeithistorischen Forschung gefunden, sondern ist vornehmlich der Historischen Erziehungswissenschaft überlassen worden. Mit der im doppelten Sinn gewichtigen, aus ihrer Habilitationsschrift hervorgegangenen Studie will Sonja Levsen diesem Mangel abhelfen. In deren Zentrum stehen die Argumentationsmuster alltagsnaher Diskurse über das Verhältnis von Erziehung und Demokratie. Levsens Aufmerksamkeit gilt vorrangig den Debatten in Westdeutschland, während der Perspektive auf Frankreich primär die Funktion zukommt, eine Vergleichsfolie zu generieren, um der westdeutschen Entwicklung besonders scharfe Konturen zu verleihen. Dabei fragt Levsen im Einklang mit der inzwischen etablierten Herangehensweise an historische Vergleiche auch nach wechselseitigen Beziehungen. Transnationaler Austausch zwischen beiden Ländern fand jedoch – dies ist einer ihrer bemerkenswerten Befunde – auf dem Feld der Erziehung während der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte kaum statt.

Ausgangspunkt von Levsens Überlegungen ist die schon vor der „68er“-Bewegung sich etablierende und später von der Forschung übernommene These, die mit dem Begriff des „Autoritarismus“ (S. 14) bezeichnete Tradition gehorsamsfixierter Erziehung in Deutschland habe die Ausbildung demokratischer Einstellungen verhindert, der NS-Herrschaft den Weg geebnet und sei deshalb in der neuen Demokratie unbedingt zu überwinden. Levsen stellt die Diskussion dieser These zugleich in den größeren Kontext der Forschungsdebatten um „Westernisierung“ und „Liberalisierung“ sowie um den „Wertewandel“ in den Nachkriegsjahrzehnten. Das schließt die Frage ein, welcher Zäsurcharakter dem Komplex „1968“ zukommt. Aus der Fülle der sich damit anbietenden Untersuchungsgegenstände wählt Levsen vier aus, die einen besonders engen Bezug zu Autoritätsproblemen in der Erziehung aufwiesen und große Breitenwirkung entfalteten: Hierarchien und Partizipation in der Schule; das Verhältnis von Jugend und Politik; Disziplin und Strafen in der Schule sowie jugendliche Sexualität und die ihr zugemessenen Freiheitsräume. Angesichts der nicht eindeutig zu klärenden und sich im Untersuchungszeitraum außerdem wandelnden Definitionen von „Jugend“ entscheidet sich Levsen für einen weiten Zugriff, der die 10- bis 19-Jährigen in den Blick nimmt, konzentriert sich aber auf die weiterführenden Schulen, was für Westdeutschland eine tendenzielle Fokussierung auf die gebildeten Mittelschichten bedeutet.

Die herangezogenen Quellen sind solche der „mittleren Ebene“ (S. 33), in erster Linie Zeitschriften für Lehrer:innen und solche von Elternverbänden der verschiedenen Ebenen; außerdem breit diskutierte Schriften von pädagogischen, soziologischen und psychologischen Expert:innen, nicht zuletzt solche, die auf Umfragen basierten; weiterhin in Auswahl Schülerzeitungen, kommerzielle Jugendzeitschriften sowie überregionale Presse; ergänzend schließlich neben Memoiren auch archivalische Quellen. Dass diese alltagsnahen Quellen neben den Befunden zum Erziehungsdiskurs „begrenzte, aber doch vielfältige Einblicke in die Praxis [geben]“ (S. 35), trifft gewiss zu, doch ist deren Reichweite nicht genau zu bestimmen. Dies ist freilich nicht als Vorwurf, sondern als klärender Hinweis zu verstehen, denn Levsen argumentiert in diesem Punkt – wie überhaupt – sehr abgewogen. Man darf hoffen und erwarten, dass ihre Untersuchung nicht wenige Regional- und Lokalstudien hervorbringt, die dieser Praxis und ihrem Wandel nachgehen werden.

Nach einem heranführenden Kapitel, das die Ausgangslage in beiden Ländern seit dem Kriegsende behandelt, widmen sich die folgenden vier Abschnitte im ersten Hauptteil der Arbeit den erwähnten Themenfeldern bis zum Vorabend der Entwicklungen von „1968“; die beiden Kapitel des zweiten Teils setzen sich mit deren Folgen und somit ihrem Zäsurcharakter auseinander. Nachhaltig prägende Wirkung für die weitere Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Autorität und Demokratie schreibt Levsen den jeweiligen Ausgangsnarrativen zu. In Westdeutschland setzte sich, angestoßen nicht zuletzt von der US-amerikanischen Re-Education-Politik, die Erzählung einer unseligen Tradition der Autoritätsfixierung gegen die anfängliche Interpretation des Nationalsozialismus als autoritätszerstörend durch. In Frankreich hingegen, wo die Ursachen der Niederlage von 1940 (nicht Lehren aus dem Vichy-Regime!) im Vordergrund der öffentlichen Diskussion standen, deutete das vorherrschende Narrativ diese Niederlage als Versagen egoistischer Eliten und stellte ihr eine vor allem von der Jugend getragene Résistance gegenüber. Daraus erwuchsen sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie die in beiden Ländern nun (wieder) etablierte Demokratie zu sichern sei: Während in Westdeutschland selbstbestimmtes, mit Widerspruch verbundenes Handeln zum vorrangigen Erziehungsziel aufrückte, stand in Frankreich das Wecken von Gemeinsinn im Vordergrund. Demokratisierung bedeutete hier einen erweiterten Zugang zur höheren Bildung, der wiederum im Nachbarland zunächst noch keine Rolle spielte. Indem sie den spezifischen Diskursmustern seit den späten 1940er-Jahren große Relevanz für die weitere Entwicklung zumisst, argumentiert Levsen gerade nicht mit dem aus der Forschung vertrauten Gegensatz zwischen fest in einer gemeinsamen westlichen Demokratietradition verankerten Ländern einerseits und einem hier zunächst Defizite aufweisenden, diese aber im Lauf der „langen“ 1960er-Jahre aufholenden (West-)Deutschland andererseits. Dies wird gewiss fruchtbare Diskussionen über die gängigen Forschungsparadigmata auslösen.

Während Levsen zeithistorischen Interpretationen, die im Kern die vormalige Sonderwegsthese fortschreiben, somit eine Absage erteilt, präsentiert sie für den Untersuchungszeitraum eine alternative Deutung, welche die im Vergleich besonders weit definierten schulischen Handlungsspielräume westdeutscher Jugendlicher in den Mittelpunkt rückt. Deren Ausmaß kann sie anhand der Entwicklung der Schülermitverwaltungs-Aktivitäten belegen, die sich im Lauf der 1950er-Jahre ausweiteten, sich auf regionaler Ebene vernetzten und Kritik an Schulleitungen einschlossen. Weitere Belege liefert die Expansion der Schülerpresse, die seit Beginn der 1960er-Jahre zudem den Widerspruch als primäre Bürgertugend pries und mit ihrer Forderung nach Zensurfreiheit auf wachsende Zustimmung stieß, sogar bei den Kultusministerien. In Frankreich dagegen agierten Klassensprecher:innen zur selben Zeit wesentlich eingeschränkter und eine Schülerpresse war noch gar nicht existent. Außerschulische Jugendverbände spielten in den Debatten über Demokratie-Erziehung in beiden Ländern keine zentrale Rolle; allerdings kamen aus dem Linkskatholizismus in Frankreich deutlich weitergehende Partizipationsforderungen als aus katholischen Organisationen in Westdeutschland. Ein ganz ähnliches Muster zeigt die Auseinandersetzung mit im weiteren Sinn politischen Themen in der Schule, die in Westdeutschland erwünscht war und sich im Medium der Schülerzeitungen wie bislang übersehener Oberstufenarbeitskreise vollzog, während in Frankreich derartige Diskussionen in der Schule tabu blieben, aber, angestoßen maßgeblich durch den Algerienkrieg, in einem Teil der Jugendverbände geführt wurden.

Weniger klare Unterschiede zwischen beiden Ländern ergeben die Befunde zu schulischen Strafregimen. In Westdeutschland blieben Körperstrafen noch bis in die 1960er-Jahre hinein deren akzeptierter Bestandteil, in Frankreich hingegen waren sie bereits marginalisiert und durch andere Strafformen, insbesondere das (lange) Nachsitzen ersetzt; die jeweilige Handhabung in der Familie wich aber möglicherweise weniger voneinander ab. Der Umgang mit jugendlicher Sexualität sei wiederum, so Levsen, bis Mitte der 1960er-Jahre als „kultureller Wandlungsprozess mit ausgeprägten transnationalen Gemeinsamkeiten“ (S. 354) zu verstehen, ungeachtet eines auch hier kaum existenten transnationalen Meinungsaustauschs. Die Abwehr von Gefahren stand im Vordergrund, doch sollte dies nicht, wie anhand der Diskussion über Masturbation ersichtlich, durch „Angstpädagogik“ (S. 380) erreicht werden, sondern durch Aufklärung – zunächst im Rahmen der Familie und dann auch mit Sexualkundeunterricht in der Schule, was seit Beginn der 1960er-Jahre von verschiedener Seite gefordert wurde: in Westdeutschland schon von bildungspolitischen Akteuren, in Frankreich von Elternverbänden. Bezüge zur Demokratie-Erziehung wurden dabei bis Mitte der 1960er-Jahre weder westlich noch östlich des Rheins hergestellt. Levsen widerspricht hier explizit der These Dagmar Herzogs, der westdeutsche Sexualitätsdiskurs habe sich in diesem Zeitraum durch eine ausgesprochene Lustfeindlichkeit in Abwehr einer fehlgeleiteten Liberalisierung der NS-Zeit ausgezeichnet.

„1968“ erwies sich in Frankreich definitiv als Zäsur, wo nun nachdrücklich Mitbestimmungs-Forderungen in der Schule erhoben wurden, sich die Partizipationsmöglichkeiten von Schüler:innen daraufhin erweiterten und sie mehr persönliche Freiheiten zugestanden erhielten, besonders einprägsam das den Schülerinnen gestattete Tragen von Hosen; außerdem wurde der Unterricht selbst dialogischer. Für Westdeutschland bestätige sich dagegen, so Levsen, die in der Forschung etablierte Deutung „langer“ 1960er-Jahre, in denen schon vor 1968 einsetzende Prozesse jetzt größere Dynamik gewannen, mit dem Ergebnis etwa der nun förmlichen Kodifikation der Zensurfreiheit von Schülerzeitungen. Gleichwohl handelte es sich nicht, so Levsen wiederum in Absetzung von der vorherrschenden Forschungsmeinung, um eine bloße Vollendung der „Ankunft im Westen“ (Axel Schildt), sondern eben um einen „Sonderweg“ (S. 516), wegen der engen Verknüpfung von Fragen der Partizipation und Unterrichtsgestaltung mit der Erziehung zur Demokratie und der Überhöhung des „Ungehorsams als zentraler Bürgertugend“ (S. 556). Eine weitere westdeutsche Besonderheit, die geradezu „obsessive Züge“ annahm (S. 578), lag zudem, so Levsen, im Umgang mit jugendlicher – und kindlicher – Sexualität. Hier hatte sich, angestoßen und maßgeblich vorangetrieben vom allgegenwärtigen Sozialpädagogen Helmut Kentler, seit Mitte der 1960er-Jahre ein Deutungsmuster etabliert, das lustvolle Sexualität schon bei Kindern als Vorbedingung für die Ausbildung einer demokratischen Persönlichkeit bestimmte, häufig unter Verweis auf angebliche Praktiken bei „Naturvölkern“ und mit verhaltener Zustimmung selbst in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Zur düsteren Debatte um den lange tabuisierten sexuellen Missbrauch von Kindern im Kontext reformpädagogischer Initiativen und Institutionen trägt Levsen hier Erhellendes bei.

Am Ende steht die plausible These vom „Entstehungsprozess eines neuen, in vielen Aspekten spezifisch deutschen Demokratieverständnisses“ (S. 631) im Verlauf der 1960er-Jahre. Dabei sieht Levsen die Bedeutung des Föderalismus im Ganzen eher in den ihm innewohnenden Triebkräften als in der Fortdauer von Unterschieden. Zu Recht weist sie auf die Notwendigkeit weiterer transnational vergleichender Forschungen hin. Es stellt sich auch die Frage, auf welche Resonanz im Schul- und Familienalltag die von ihr behandelten Diskurse und pointierten Emanzipationsforderungen an Orten trafen, die nicht im besonders reformaffinen und deshalb häufig von ihr angeführten Hessen oder in der Nachbarschaft von Universitätsstädten und den dort aktiven „68ern“ lagen. Aber das ist nur eine weitere Anregung, die sich aus dieser auf einer ungemein breiten Quellen- und Literaturgrundlage ruhenden, gut lesbaren und sorgfältig argumentierenden, empirisch ergiebigen und eingefahrene Forschungsthesen produktiv kritisierenden Studie beziehen lässt, die bald als Standardwerk gelten wird.