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Titel
Heiligkeiten. Konstruktionen, Funktionen und Transfer von Heiligkeitskonzepten im europäischen Früh- und Hochmittelalter


Herausgeber
Bihrer, Andreas; Fritz, Fiona
Reihe
Beiträge zur Hagiographie 21
Erschienen
Stuttgart 2019: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
241 S.
Preis
48,00 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Larissa Düchting, Deutsches Hutmuseum Lindenberg

Der Titel des Sammelbandes irritiert zunächst: Heiligkeiten, also die Pluralform. Doch schnell findet der Leser auf die Frage, warum es nicht nur um die Heiligkeit im Singular geht, eine Antwort in der Einführung von Fiona Fritz. Denn wie von ihr festgestellt wird, gab es keine feste Menge von Eigenschaften und Lebensformen, die Heiligkeit als solche definierten, weswegen im nachfolgenden Band von verschiedenen Heiligkeiten ausgegangen wird. Aufgezeigt werden sowohl die diachrone wie synchrone Pluralität von Heiligkeitsentwürfen und deren Nutzungen als auch die analytische Zusammenführung der Ebenen „Konstruktionen“, „Funktionen“ und „Transfer“. So wird unter Konstruktion die Praxis der Zuschreibung von Heiligkeit verstanden, die in sich auch keine stringente ist, was an den verschiedenen Beispielen in den späteren Beiträgen deutlich wird. Dass Heiligkeit multifunktional sein kann, wird immer wieder ersichtlich, und dass diese Konstruktionen und Funktionen sowohl in andere Regionen als auch auf andere Heilige transferiert werden konnten, zeigt die Vielschichtigkeit des Themas erneut auf.

Im Anschluss an die Einleitung von Fritz gibt Andreas Bihrer einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand der Hagiologie und die bisherigen Untersuchungen zu den drei Ebenen. Hierbei stellt er fest, dass vor allem die Konstruktion von Heiligkeit bisher stark von der Forschung beachtet wurde, die Funktionen und Transfers hingegen nur zu einem geringen Teil Aufnahme in die Untersuchungen fanden. Ihm erscheinen besonders solche Forschungen lohnend, die diese drei Aspekte in den Blick nehmen (S. 28).

Der nachfolgende Band wurde in drei Abschnitte untergliedert, deren erster die Konstruktionen von Heiligkeiten, deren zweiter die Funktionen und deren dritter den Transfer thematisiert. Dennoch wird recht schnell beim Lesen klar, dass es eine starke Überlappung der einzelnen Abschnitte gibt, was die Vielschichtigkeit des Themas unterstreicht. Jeder der drei Abschnitte des Bandes besteht aus drei Beiträgen, denen jeweils ein kurzer englisch-sprachiger Abstract vorangestellt ist. Die Aufsätze zeigen im Einzelnen, dass eine klare Einteilung in die drei Kategorien in keiner Weise eine scharfe in sich abgeschlossene ist, sondern dass Konstruktionen, Funktionen und Transfers stark miteinander verwoben sind. Der regionale Schwerpunkt des Bandes liegt in Nordeuropa, doch kommen neben den Regionen Skandinaviens, Englands und des Reiches auch Frankreich und Spanien vor. Zeitlich liegt der Fokus auf dem Früh- und Hochmittelalter, mit Ausblicken in das Spätmittelalter. Ein Orts- und ein Personenregister am Ende des Bandes erleichtern dem Leser die Suche nach einzelnen Informationen.

Im ersten Abschnitt des Bandes rückt Paul Gazzoli die Heiligkeit des Heiligen Ansgar in den Fokus, während sich Steffen Hope der Sakralität des Heiligen Olaf widmet. In beiden Aufsätzen kann nachvollzogen werden, wie sich die Deutung der Heiligkeit im Laufe der Jahrhunderte wandelte und welche Facetten im Laufe der Zeit verstärkt wurden und welche verschwanden, um so auch den kirchenpolitischen Interessen entgegenzukommen. Von Sara E. Ellis Nilsson wird die Stilisierung vierer Frauen in Skandinavien zu Heiligen in den Blick gerückt, wobei sie feststellen kann, dass diese Heiligen genutzt worden seien, um Skandinavien in das christliche Europa zu integrieren (S. 87).

Der erste Aufsatz im Abschnitt zu den Funktionen von Heiligkeiten von Christian Oertel über die Entwicklung von Heiligenkulten im 12. und 13. Jahrhundert in Schweden zeigt, welche Auswirkungen Informationen über die Heiligenverehrungen in Frankreich auf die lokalen schwedischen Kulte haben konnten. So seien Heiligkeitsvorstellungen aus Paris übernommen worden, die auf die lokalen Kulte übertragen worden seien. Durch die Festigung der Kulte könnten die Bistümer gestärkt worden sein.

Dass Heiligkeit nicht immer unumstritten war, wird von Karolin Künzel am Beispiel des Heiligen Ælfheah von Canterbury aufgezeigt. Hier seien hagiographische Schriften zum einen dazu verwendet worden, die Heiligkeit zu beweisen, und zum anderen dazu, der neuen normannischen Bevölkerung in England Identifikationsmaterial zu geben. Somit seien den hagiographischen Werken mehrere Funktionen zugekommen. Diese Multifunktionalität von Schriften im Zusammenhang mit den Heiligen wird auch im Beitrag von Jeremy Winandy ersichtlich, der die Nutzung der Vita Abbonis zum einen als Lehrmittel für nachfolgende Äbte und zum anderen als Vorlage für den erfolgreichen Kampf gegen den lokalen Bischof identifiziert.

Im dritten Abschnitt unter der Überschrift Transfer widmen sich die Aufsätze von Julia Weitbrecht, Uta Kleine und Klaus Herbers speziell der Frage, welche Aspekte des Heiligen transferiert wurden. Wie wurden die Modelle von Heiligkeiten aktualisiert und den jeweiligen Bedingungen angepasst? Dies geschieht bei Weitbrecht durch eine Untersuchung der Oswaldlegende, die durch unterschiedliche narrative Erzählstrategien aktualisiert worden sei und so eine Umdeutung erfahren konnte. Bei Kleine wird vor allem der Martyriumsgedanke untersucht, der bei der Verehrung des Erzbischofs Thomas Becket von Canterbury zur Wirkung gekommen sei und später auch bei der Verehrung des Heiligen Engelbert von Köln eine wichtige Rolle spielte. Eine besondere Bedeutung kann sie hierbei dem vergossenen Blut zuschreiben (S. 202).

Dass ein Transfer auch ganz plastisch vorgenommen werden konnte, verdeutlichen die Translationen, die von Herbers in Spanien in den Blick genommen werden. So seien Heilige mit ihren Verehrungstraditionen in andere Regionen transferiert worden, wo neue Erzählstrategien auch zu einer anderen Wahrnehmung von Heiligkeiten führen konnten.

Es schließt sich ein Anhang an, in dem in einem Kapitel eine Sammlung online verfügbarer Materialien zu hagiographischen Fragen vorgestellt wird. Dieses ist unter http://www.hagiographysourcebook.uni-kiel.de/ zu finden. Einige Gedanken zum Schluss von Felicitas Schmieder verbinden verschiedene Linien des Buches. Hier wird der Mehrwert einer Aufhebung von Typologien hervorgehoben, wenn es um die Kategorisierung von Heiligen geht. Auch die Bedeutung der Texte und vor allem auch ihres Wandels im Laufe der Jahrhunderte wird hier stark betont Dies erscheint vor dem Hintergrund der zunehmenden Auseinandersetzung mit der réécriture sehr sinnvoll, da jeder Text in seinen Veränderungen eine völlig andere Wirkung entfalten konnte. So muss Schmieder zugestimmt werden, dass bei hagiographischen Werken nicht immer die klassischen Editionsmethoden greifen können, da gerade die Veränderungen im Laufe der Zeit Auskunft über die Wahrnehmung oder aber auch Einsetzung der Heiligen und ihrer Texte geben können. Ein genauer Blick in die Handschriften und nicht nur in die Editionen verspricht also weitere Erkenntnisse.

Auch werden von Schmieder die drei Schlagworte des Buches wieder aufgegriffen, wobei sie diese in einen engen Bezug zueinander setzt, der auch in den einzelnen Beiträgen des Bandes ersichtlich geworden ist. So ist die Funktion des Heiligen stark mit der Konstruktion seiner Heiligkeit verbunden, die aber je nach Interesse verändert werden kann. Die Übertragung von funktionierenden Konstruktionsmethoden in andere Regionen oder auf andere Heilige können je nach gewünschter Funktion dabei Hand in Hand gehen.

Der vorliegende Sammelband ist ein weiteres Werk in einer Fülle von Büchern zur Hagiographie, doch durch seine besondere Methodik, die verschiedene Zugänge zu den Quellen ermöglicht, ist er sehr relevant. Die einzelnen Aufsätze führen vor, welche Erkenntnisse sich durch eine Änderung des Zugangs gewinnen lassen, und regen so zu einer neuen Beschäftigung an. Hier wäre interessant zu sehen, ob dieses Schema auf heilige Orte oder Reliquien ebenso anwendbar wäre. Eine Diskussion mit der Kunstgeschichte könnte hier weitere Erkenntnisse bringen. Auch ein Blick über den christlichen Tellerrand hinaus auf andere Heiligkeitsvorstellungen könnte die eigene Wahrnehmung schärfen und vielleicht wieder ganz neue Fragen in der Forschung aufwerfen. Der Band zeigt, dass, auch nach vielen Jahren der Forschung, noch viel Potential noch in den hagiographischen Werken steckt.

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