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Titel
Wirtschaftswunder global. Die Geschichte der Überseemärkte in der frühen Bundesrepublik


Autor(en)
Dörre, Steffen
Reihe
Beiträge zur europäischen Überseegeschichte 108
Erschienen
Stuttgart 2019: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
394 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Speich Chassé, Historisches Seminar, Universität Luzern

Im Oktober 1950 sprach der Hamburger Oberbürgermeister Max Brauer im Rahmen des „Ibero-Amerika-Tages“ zu einer illustren Schar von städtischen Kaufleuten. Dabei hielt er fest, Westdeutschland sei „heute nichts anderes als ein größeres Belgien ohne den Kongo“ (S. 78). Viele seiner Zuhörer und Zuhörerinnen verfügten über persönliche, langjährige Erfahrung im Außenhandelsgeschäft. Sie hatten in wenigen Jahren fundamentale Neukonzeptionen und Brüche erlebt. Die Fassung der weltweiten wirtschaftlichen Interaktionen im System einer „Weltwirtschaft“ und die Frage nach der Stellung Deutschlands darin war seit dem frühen 20. Jahrhundert vermehrt thematisiert worden. Hochfliegende Pläne der Erschließung weit entfernter Faktor- und Produktemärkte waren ihnen im NS-System vorgeführt worden. Doch gerade jüngst hatten sie erleben müssen, wie das dichte Außenhandelsgeflecht Deutschlands durch den herabfallenden Eisernen Vorhang mitten entzweigeschnitten wurde. Zugleich war um 1950 nicht klar, welchen Nutzen die verbliebenen Imperialmächte aus ihren Kolonien ziehen können würden und welche Handlungsspielräume es für (West-)Deutschland gab.

Milieus wie die Hamburger Kaufmannschaft und Anlässe wie der genannte „Ibero-Amerika-Tag“ bieten das Material für die anregende Studie von Steffen Dörre. Der Verfasser hat einen präzisen Untertitel gesetzt, dessen Präzision allerdings leicht zu überlesen ist: Es geht um die Geschichte des Überseehandels „in“ der frühen Bundesrepublik und um nichts anderes. Die Studie fragt, wie die Elite der deutschen Kaufmannschaft und der Exportwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg jene Räume der Weltwirtschaft konzipierte und wahrnahm, die am Horizont des expandierenden Kapitalismus nach all den jüngsten Turbulenzen weiterhin aufschienen. Aber es geht nicht um diese potenziellen und realen Märkte selbst. Wer sich für die effektive Außenhandelsstruktur der jungen Bundesrepublik interessiert und etwa wissen will, in welchen Weltregionen Direktinvestitionen in welchem Ausmaß getätigt wurden, legt das Buch rasch beiseite. Und auch wer die Verbindungen zwischen der Außenwirtschaft und dem neu zu begründenden Projekt einer Außenpolitik der Bundesrepublik verstehen will, wie sie zum Beispiel Ludwig Erhard 1953 skizzierte1, findet kaum einschlägige Informationen.

Der glasklar geschnittene Gegenstand des anzuzeigenden Buches wird in acht Kapiteln von unterschiedlicher Dichte erörtert, die von einem substanziellen Vorwort (Kapitel I) und einem weiterführenden Fazit (Kapitel X) gerahmt werden. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von den unmittelbaren Nachkriegsjahren bis in die Krise der frühen 1970er-Jahre. Dörre stützt sich auf zahlreiche Archive, von denen einige von der historischen Forschung bislang kaum berücksichtigt worden sind. Seine Quellen sind vor allem serielle Dokumente von Institutionen, in denen die Entscheidungsträger ihr Wissen teilten, abstimmten und sich gegenseitig berichteten. Erstens sind dies relativ exklusive wirtschaftsbürgerliche Vereine wie der „Bundesverband der Deutschen Industrie“ (BDI) und die vier Ländervereine „Afrika-Verein e.V.“, „Ibero-Amerika-Verein e.V.“, „Nah- und Mittelost-Verein e.V.“ und der „Ostasiatische Verein e.V.“ sowie weitere Export-, Industrie- und Überseeclubs. Zweitens stützt sich der Verfasser auf Quellen aus den staatlichen beziehungsweise halb-staatlichen Außenhandelsausschüssen, Industrie- und Handelskammern und Verbänden. Hier fragt man sich, warum die „Kreditanstalt für Wiederaufbau“ nicht prominenter vorkommt. Und drittens hat er wissenschaftliche Institutionen wie das „Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv“, das „Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel“, die „Carl Duisberg Gesellschaft für Nachwuchsförderung“, den „Bund Katholischer Unternehmer“ sowie die „C. Rudolf-Poesgen-Stiftung e.V. zur Förderung von Führungskräften in der Wirtschaft“ genauer untersucht. Topografisch ergibt sich aus diesem Quellenfokus ein Blick auf die Hansestädte Hamburg und Bremen sowie auf Stuttgart und München. Ab ca. 1960 wurde „Übersee“ außerdem im Raum Köln/Düsseldorf/Bonn zum Thema, wo sich die junge Bundesrepublik ein neues wirtschaftlich-politisches Zentrum schuf.

Im ersten Untersuchungsschritt (Kapitel II) rekapituliert der Verfasser frühe „Good-will-Missionen“ nach Lateinamerika, Asien und Afrika, auf denen neue Kontakte hergestellt und bestehende auf ihre Wertigkeit überprüft wurden. Der zweite Schritt (Kapitel III) zeigt, wie sich dabei ein pauschalisierendes und die globale Komplexität sinnhaft reduzierendes Konzept von „Übersee“ verfestigte. Im Kapitel IV („Institutionen des Überseewissens“), das von seiner Länge her deutlich hervorsticht, stellt Dörre im dritten Schritt die vielen sachbezüglichen Institutionen vor und gibt einen ersten Eindruck von der Strukturiertheit der in ihnen stattgehabten Wissensproduktion. Der vierte Argumentationsschritt (Kapitel V) resümiert den Strukturwandel des deutschen Außenhandels in der interessierenden Zeit. Dann gilt der Blick wieder den deutschen Institutionen (Kapitel VI) beziehungsweise deren Wandel in den 1960er-Jahren. Das anschließende Kapitel VII bringt die wichtigsten Erkenntnisse darüber auf den Punkt, wie in der jungen BRD die „Übersee“-Märkte konzipiert wurden. Erstens ist festzuhalten, dass überhaupt ein klar begrenzbar scheinender Raum jenseits der in der OEEC beziehungsweise der OECD versammelten Volkswirtschaften aufschien; und zweitens zeigt die Studie von Dörre, inwiefern den untersuchten Akteuren im Zugriff auf diese wie auch immer als „anders“ wahrgenommene Wirtschaftswelt die Kategorie „Kultur“ bedeutsam schien. Das Selbstverständnis der untersuchten Akteure lässt sich kurz gesagt so zusammenfassen: Wirtschaftliches Wachstum habe mit einer spezifisch leistungsorientierten Mentalität zu tun, die sich in der Deutschen Wirtschaftsgeschichte weltweit vergleichend besonders akzentuiert habe und deshalb als Gesinnung zu verbreiten sei. Die Konstruktion einer Differenz zwischen irgendwie unter- und überlegenen Wirtschaftskulturen wird im Kapitel VIII thematisiert. Diese Differenzwahrnehmung stellt dann den Schlusspunkt der Untersuchung dar (Kapitel IX), denn sie verschwand um 1970 überraschend schnell aus den untersuchten Quellenkorpora. Dörre zeigt eine Art „Mainstreaming“ des weltwirtschaftlichen Räsonnements in den 1970er-Jahren. Nun zerfiel die Plausibilität, alle peripheren Gebiete als „Übersee“ begrifflich zusammenzufassen, weil einzelne Länder (wie Taiwan oder Süd-Korea) deutliche Entwicklungsgewinne gegenüber anderen (wie Kongo oder Togo) bewiesen. Nun entstand auch so etwas wie eine weltgesellschaftliche Kommunikation, in der es keinen Platz mehr gab für einen spezifischen Blick aus Hamburg, München oder Düsseldorf.

Die historische Forschung über Wissensbestände im Nord-Süd-Konflikt boomt seit einigen Jahren. Steffen Dörre bringt mit den von ihm teilweise erstmals erschlossenen Quellenbeständen zur Bundesrepublik hier wesentliche Neuerungen. Der Begriff „Übersee“ hat offenbar in der deutschen Debatte eine klare Konjunktur, also einen Anfang um 1950 und ein Ende um 1970, was mit der Wahrnehmungsstruktur bezüglich des Nord-Süd-Gefälles auch mit anderen Industrieländern übereinstimmt. Die vorliegende Untersuchung erweitert vor diesem Hintergrund die Historiographie zur Entwicklungsfrage („Development“) bedeutend, indem sie zusätzliche Akteure in den Blick nimmt. Dörre gelingt es überdies, eine klare und weiterführende Position in der Kontroverse zu stärken, wie die Errungenschaften des „Cultural Turn“ auf die Wirtschaftsgeschichte zu wirken haben. Sein Buch zeigt in sprachlich eindrücklicher Klarheit, dass „Wirtschaft“ nicht einfach eine Sache der wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbücher ist, sondern eine Alltagsangelegenheit von Führungseliten. Klug positioniert er sich in der neueren Wirtschaftsgeschichtsschreibung, die nicht Wirtschaft als Gegenstück zu Kultur einsetzt, sondern eine kulturgeschichtliche Zugangsweise zum Wirtschaften vorschlägt und sich für geteilte Konzeptionen, Begriffe, Raster, Diskurse und „mentale Landkarten“ (S. 21) interessiert. So öffnet sich ein Raum für die Analyse vergangener Handlungen und Entscheidungen.

Das Feld, das diese Studie adressiert, war bislang gefüllt mit unternehmensgeschichtlichen Studien, die biographisch auf den Handlungsspielraum einzelner Entscheidungsträger fokussierten. Nun wird ein breiterer Horizont eingerückt. Dörre macht auch klar, dass die bestehende Historiographie zu „Development“-Wissen, die sich nur auf die entwicklungsökonomische Literatur stützt, ihren Gegenstand zu einem gewissen Grad verfehlt, weil die relevanten Akteure nie nur auf die Zahlen blickten, sondern das Problem der weltwirtschaftlichen Ungleichheit immer auch als eine Kulturproblematik wahrnahmen. Die Rede des Hamburger Oberbürgermeisters Max Brauer von 1950 wirkt heute fremd. Die Studie von Steffen Dörre zeigt, wie diese Distanznahme vor sich ging, und ist insofern äußerst erhellend.

Anmerkung:
1 Ludwig Erhard, Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt, Düsseldorf 1953.

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