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Titel
Enduring Alliance. A History of NATO and the Postwar Global Order


Autor(en)
Sayle, Timothy A.
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 346 S.
Preis
$ 29.99
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Jan Stöckmann, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

Dieses Buch erscheint zu einem denkbar passenden Zeitpunkt. Während Donald Trump seine Bündnispartner zu höheren Verteidigungsausgaben drängt und Emmanuel Macron die Idee einer europäischen Armee aufwärmt, legt Timothy Andrews Sayle von der University of Toronto eine umfassende Innenschau der NATO vor. Von den Anfängen des Bündnisses 1948 bis zum Ende des Kalten Krieges führt er seine Leserschaft versiert, anschaulich und unterhaltsam durch das nicht immer leicht verständliche Machtgefüge der transatlantischen Nachkriegsordnung. Der Untertitel ist gleichwohl etwas irreführend, geht es doch nicht um die globalen Ausprägungen des Bündnisses, ja nicht einmal um den Ost-West-Konflikt, sondern in erster Linie um interne Rivalitäten und das Verhältnis der Amerikaner zu den Europäern. Vereinfacht ausgedrückt lautet Sayles These, dass die NATO ihr Fortbestehen vor allem der Sorge um das europäische Machtgleichgewicht verdankt, das stets von sowjetischer Einflussnahme einerseits und wiederaufkeimendem deutschem Militarismus andererseits bedroht wurde, zugleich aber auch dem europäischen Wunsch, weiterhin von den Vereinigten Staaten protegiert zu werden.

Die altbekannte raison d’être der NATO – to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down – treffe nach Sayle insofern für ihre gesamte Lebensdauer zu, als dass die meisten ihrer Protagonisten sich von den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts leiten ließen, nicht wie oft angenommen von den ideologischen Trennlinien des Kalten Krieges. Mit anderen Worten: Das beliebte Narrativ der NATO als einer Gemeinschaft freier und demokratischer Staaten, die auf gemeinsamen Traditionen oder gar Werten fuße, sei bestenfalls eine Fassade. Stattdessen habe sich das Bündnis vor allem darin bewährt, die Gefahren der Demokratie abzuwenden, nämlich die Tendenz einer desinteressierten Öffentlichkeit, sich entweder der sowjetischen Propaganda hinzugeben oder, schlimmer, aus den eigenen Reihen einen neuen starken Mann zu wählen (in der Tat geht es hier um Männer, denn mit Ausnahme von Margaret Thatcher tritt kein weiblicher Akteur in Erscheinung). Selbst nach Ende des Kalten Krieges bestehe diese amerikanische Sorge fort, erschwert durch die kümmerlichen Verteidigungsausgaben der Europäer, aber auch durch deren zögerliche Haltung zu Einsätzen in Afghanistan und Libyen.

Seine Argumentation ergibt sich aus einer detailreichen Schilderung von Gipfeltreffen, militärischen Planspielen und Notenwechseln, zusammengetragen aus einer Vielzahl anglo-amerikanischer Archive. Gleich zu Beginn stehen dabei jene Strategen im Vordergrund, die, wie der Leiter der Westeuropa-Abteilung im amerikanischen Außenministerium Theodore Achilles, die größte Gefahr im Wahlverhalten der europäischen Bevölkerung und in ihrer Manipulation durch politische Extremisten sahen. Das Trauma der Appeasement-Politik spielte hier besonders aus britischer Sicht eine wichtige Rolle. Spätestens nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsunion 1954 setzte sich daher die anglo-amerikanische Auffassung durch, dauerhaft alliierte Verbände in Westeuropa zu stationieren, deren Hauptaufgabe in politischer Abschreckung, nicht in militärischer Verteidigung bestand. Ohne auf den institutionellen Aufbau näher eingehen zu müssen, gelingt es dem Autor so, ein Psychogramm der NATO zu entwickeln, das den Rest der Abhandlung durchzieht.

Die folgenden Kapitel widmen sich den bekannten Reifeprüfungen der NATO während der Suez-Krise, der nuklearen Aufrüstung nach Sputnik sowie den Querschüssen von Charles de Gaulle ab 1958. Dabei zeichnete sich ab, dass die NATO weder ein Forum für nationalstaatliche Befindlichkeiten noch ein Streitschlichter spätkolonialer Konflikte in Algerien und im Kongo sein würde. Zugleich profilierte sich Washington als nukleare Supermacht, indem es Unterstützungsangebote zwischen London und Paris ausspielte, aber auch, indem es sein Potential während der Berlin- und Kuba-Krisen demonstrierte. Die zwiespältige Lehre aus dieser ersten Hälfte des Kalten Krieges war, dass militärische Abschreckung zwar funktionierte, aber nicht allen Bündnispartnern schmackhaft gemacht werden konnte. Dieses Spannungsverhältnis verstärkte sich in den folgenden Jahren durch die massive sowjetische Aufrüstung sowie die verzweifelten Versuche, ein System nuklearer Teilhabe innerhalb der NATO zu errichten.

Zu den besten Passagen des Buches gehört jene über die strategische Neuausrichtung der NATO nach Frankreichs Teilaustritt 1966. Hier kamen militärische, politische und wirtschaftliche Interessen in einer Komplexität zusammen, wie sie nur von multi-archivarischen Studien nachgezeichnet werden können. Angesichts der enormen Kosten alliierter Truppen in Deutschland drängte Washington auf einen höheren Verteidigungsbeitrag Bonns, was die Regierung Ludwig Erhards zunächst ablehnte. Indessen versuchte Großbritannien, die Rolle Frankreichs in der NATO zu füllen, befand sich aber in wirtschaftlich prekärer Lage. Zudem war London an einem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft interessiert, dem Paris wiederum im Wege stand. Schließlich näherte man sich in den Verhandlungen bis auf 40 Millionen Dollar an – eine Summe, für die US-Präsident Lyndon B. Johnson nicht bereit war, die NATO aufzugeben, und die auch Erhards Nachfolger Kurt Georg Kiesinger schließlich zum Einlenken brachte. Wieder einmal, so Sayle, war es innenpolitischer Druck, der die Allianz an den Rand des Scheiterns gebracht hatte.

Nach den glücklosen Versuchen in den späten 1960er-Jahren, der NATO eine Form politischer Handlungsfähigkeit zu verleihen, waren es sodann die USA unter Richard Nixon und Henry Kissinger, die die Bündnispartner neu einschwören mussten. Letzterer hatte in seiner Rede vom 23. April 1973 ein „europäisches Jahr“ ausgerufen, das jedoch von integrationsfreundlichen Europäern missverstanden wurde und ihn später dazu nötigte, den Ambitionen einer separaten europäischen Verteidigungspolitik Einhalt zu gebieten. Noch ungeschickter war sein Nachfolger Jimmy Carter, der zunächst erfolglos auf konventionelle Aufrüstung pochte und dann seine europäischen Partner mit der politisch unliebsamen Neutronenwaffe brüskierte. Letztlich gelang den Parteien, auch dank der doppelzüngigen Verhandlungsstrategie Helmut Schmidts, eine Einigung über die Modernisierung der europäischen Atomwaffen, während sie sich gleichzeitig zur internationalen Abrüstung bekannten.

Freilich kam den zunehmend zerstrittenen NATO-Mitgliedern das Ende des Kalten Krieges nicht ungelegen, bedeutete es doch eine lang ersehnte finanzielle Entspannung. Gleichzeitig, so Sayle, änderte sich jedoch wenig an der Interessenlage der Mitglieder. Amerikanische Diplomaten befürchteten auch nach 1989, dass Moskau die westdeutsche Öffentlichkeit dazu verführen könnte, eine neutrale Haltung zwischen Ost und West einzunehmen, und empfahlen folglich, den Machtbereich der NATO eher noch auszubauen. In der Diskussion um vorgebliche Zusagen zur NATO-Osterweiterung schlägt sich Sayle auf die Seite der jüngeren Forschung von Mary Sarotte und anderen, obwohl er die strittigen Aussagen James Bakers nicht verschweigt. Michail Gorbatschows Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung und NATO-Mitgliedschaft verbucht er gleichermaßen als Verhandlungserfolg Helmut Kohls wie als Versäumnis der Sowjets. Beides bleiben aber Randnotizen. Entscheidender ist für den Autor hingegen, dass die Kohäsionskräfte der NATO auch bis ins 21. Jahrhundert wirksam bleiben, nämlich die Angst vor einer Störung des europäischen Kräftegleichgewichts durch Russland oder Deutschland.

Genau hierin liegt jedoch die Schwachstelle der Arbeit. Denn obgleich Sayles Protagonisten an zahllosen Stellen auf die Gefahren der unzuverlässigen deutschen Bevölkerung hinweisen, die den Einflussversuchen der Sowjetunion bestenfalls gleichgültig gegenüberstehe, schlimmstenfalls NATO-kritische Positionen einnehme, bleibt unklar, wie begründet diese Sorgen waren. Nur in wenigen Fällen geht der Autor überhaupt auf konkrete Gefahren ein. Wir erfahren beispielsweise durch CIA-Berichte, dass sowjetische Diplomaten 1977 versucht haben sollen, Einfluss auf SPD-Mitglieder zu nehmen, um die Neutronenwaffe zu verhindern, können aber nicht einschätzen, inwiefern dieser Versuch erfolgreich war. An anderer Stelle erweckt der Autor den Anschein, als seien die deutsche und italienische Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss maßgeblich von sowjetischen Agenten unterwandert gewesen, verweist jedoch auf einschlägige Literatur von Holger Nehring und Benjamin Ziemann, die eine deutlich differenziertere Interpretation nahelegt.

Sayle mag richtig damit liegen, dass amerikanische Strategen in der Fragilität Deutschlands eine zentrale Motivation für den Erhalt der NATO sahen – und tatsächlich ist dieser Nachweis eine der Stärken der Arbeit. Über weite Strecken folgt er jedoch den Einschätzungen seiner Quellen unkritisch, ohne ihre Plausibilität anhand anderer Belege (wie Umfragewerte, deutsche Quellen etc.) zu hinterfragen. Handelte Washington aus Paranoia oder Kalkül? Eine Episode in den 1960er-Jahren suggeriert, dass John F. Kennedy entwarnende Erkenntnisse seiner Geheimdienste bewusst ignorierte, um das Schreckgespenst einer deutschen Atombombe weiter politisch einzusetzen. Könnte man ein solches Vorgehen systematisch nachweisen, würde es die These des Buches entscheidend stützen. Doch so bleibt die Beweislage relativ dünn, möglicherweise auch weil das Buch weit über den zeitlichen Rahmen der zugrunde liegenden Dissertation (1955–1968) hinausgeht.

Nichtsdestoweniger besticht Sayles Arbeit gerade aufgrund ihrer zugespitzten Argumentation und ist interessierten Zeit- und Militärhistorikern sehr zur Lektüre zu empfehlen. Denn wie der Autor im Epilog selbst schreibt, ist weder die NATO Vergangenheit noch ihre Geschichtsschreibung abgeschlossen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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