Am Anfang des anregenden Bandes der Politikwissenschaftlerin Tanisha M. Fazal (University of Minnesota) steht eine einfache, aber merkwürdige Beobachtung: Das humanitäre Völkerrecht hat sich qualitativ und quantitativ in den letzten Jahrzehnten ungeheuer ausgeweitet, aber sowohl Kriegserklärungen als auch Friedensschlüsse, die traditionell die Scheidelinien zwischen dem ius ad bellum und dem ius in bello kennzeichnen, sind weitgehend außer Gebrauch gekommen. Von 1900 mit den beiden Haager Friedenskonferenzen bis zu den Genfer Abkommen von 1949 seien die meisten Delegierten noch Militärs gewesen, danach aber ganz überwiegend Zivilisten, vielfach Völkerrechtler. Ob sich also die „Gesetzgebenden“ von den praktischen Bedürfnissen der „Gesetznehmenden“ zu weit entfernt haben, fragt Fazal (S. 42). Das wäre die Umkehrung der etwa von Martti Koskenniemi vertretenen Ansicht des Rechts als „gentle civilizer of nations“.1
So einfach macht es sich die Autorin aber nicht. Sie geht von dem klassischen Correlates of War Dataset für alle Kriege – bewaffneten Auseinandersetzungen mit mehr als 1.000 Toten – für die Jahre 1816 bis 2012 aus2 und wendet sie mit eigenen weiterentwickelten Datenbanken auf ihre Fragen an (International War Initiation and Termination bzw. – dazu unten – Civil War Initiation and Termination). Zu allen Fragen gibt sie knappe (zu knappe!) welthistorische Einordnungen und Überblicke, häufig von der Antike an. Dazu hat sie (mit Mitarbeitern) umfassend alle infrage kommenden Kriege untersucht und kodiert die Informationen für Kriegserklärungen, Einhaltung des Humanitären Völkerrechts (HVR) im Krieg und die Friedensschlüsse. Das legt sie in Balkendiagrammen, Kurven und komplexen logistischen Regressionsanalysen dar. In diese bringt sie eine Fülle von weiteren Variablen ein. So geht es etwa um Unterschiede zwischen Großmächten und anderen Staaten, um europäische oder außereuropäische Staaten. Das HVR weitete sich aus, zum Beispiel auch zum Schutz von Kulturgütern. Sie diskutiert unterschiedliche Inhalte von Friedensverträgen. Hier ist es besonders schwer, einheitliche Formen zu finden. Friedensverträge hängen sicher stark vom Ausgang des völligen Sieges einer Seite oder der weitgehenden Gleichheit beider Seiten ab. Gab es erzwungene Regimewechsel, territoriale Veränderungen, einen Staatsuntergang etc.? Fanden die Vorgänge vor oder nach Gründung der Vereinten Nationen statt? Jeden einzelnen Schritt des methodischen Fragens und der Kodifizierungsabsichten erläutert Fazil geduldig und verständlich und benennt dazu ihre Hypothesen.
Als Kontrollgruppe diskutiert sie für alle drei Fragen – Kriegserklärung, HVR im Krieg und Friedensverträge – vier Konflikte in jedem Kapitel: den Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898, den „Boxeraufstand“ in China 1900, den Bangladesch-Krieg von 1971 und den Falkland-Malvinas-Krieg von 1982. Dazu zieht sie historische Fachliteratur heran, meist nur je ein gründliches Werk, und berichtet auf einer halben bis ganzen Seite, warum etwa der Krieg von 1898 geradezu mustergültig mit einer Kriegserklärung anfing, beide Seiten sich weitgehend ans HVR hielten und einen wahren Frieden schlossen; bei den anderen Konflikten war das anders. „Eine einfache Kongruenzanalyse […] bestätigt die Aussage, dass Kriegsparteien, die mehr Verträge des ius in bello ratifiziert haben, mit geringerer Wahrscheinlichkeit Kriegserklärungen abgeben und Friedensverträge schließen als Kriegsparteien in ähnlicher Position, die weniger Verträge des ius in bello ratifiziert haben,“ lautet eine typische Argumentation (S. 142). Andere Datenanalysen liefern auch nach Fazals Hypothesen merkwürdige Resultate, dann sucht sie diese Abweichungen behutsam in qualitative Erklärungen zu überführen. Insgesamt lässt sie aber keinen Zweifel daran, warum es zum Beispiel kaum noch Kriegserklärungen gibt: Dieser Akt sei ein Schritt über eine rote Linie, sich an die Gesetze des Krieges zu halten – oder sich eben den entgegengesetzten Weg offenzuhalten (S. 162). Ähnliches gibt es zum Friedensvertrag (S. 238). Sie argumentiert also nicht aus dem Wesensgehalt des Rechts her, wie es etwa Völkerrechtler machen würden, sondern vom Zweckmäßigkeitskalkül der beteiligten Staaten her.
Wem diese Black Box von utilitaristisch agierenden Staaten-Monaden zu abstrakt erscheint, dem hat Fazal aber noch drei weitere, gleichsam quer liegende Kapitel zu Bürgerkriegen zu bieten, die sich gleichfalls durch den ganzen Untersuchungszeitraum ziehen: Unabhängigkeitserklärungen in Bürgerkriegen durch „Sezessionisten“ oder „Rebellen“, Angriffe auf Zivilpersonen und Friedensverträge in Bürgerkriegen. Auch diese Akteure werden in sich unter anderem nach stark und schwach, einig oder fragmentiert differenziert. Die quantitative Analyse wird in allen drei Kapiteln mit der qualitativen ergänzt: der texanischen Sezession von Mexiko in den 1820er- bis 1840er-Jahren, die Südmolukken seit 1959 und den Südsudan von den 1960er-Jahren bis zur Unabhängigkeit 2011. Überraschend ist das Ergebnis hier gegenläufig: Rebellengruppen, schwache eher als starke, halten sich eher an das HVR, nach Ende von Bürgerkriegen gibt es häufiger Friedensverträge, welche die zugrundeliegenden Probleme „lösen“. Obwohl Rebellen etc. zunächst einmal gegen geltendes Recht der Staaten verstießen, appellierten diese an die Staatengemeinschaft und gerade deswegen sei die nachträgliche Anerkennung, sei es der Sezession, sei es der inneren Reformen, wichtig. Solche Friedensverträge kämen oft durch – am besten multilaterale – Vermittlung zustande. Staatengemeinschaft wird hier annähernd mit UNO bzw. humanitärem Völkerrecht als Bezugsinstanz gleichgesetzt. Im Rahmen der multilateralen Vermittlungen kommen auch die NGOs vor, deren Behandlung Fazal im Ausblick für künftige Studien ankündigt.
Als Historiker habe ich mit dem methodischen Herangehen und den Zielen, nämlich künftige Strategien für die ja viel zahlreicheren Bürgerkriege zu entwerfen, Schwierigkeiten. Die Studie ist Teil eines wohl etablierten und ausdifferenzierten Zweiges internationaler Politikwissenschaft, die durch diese Vorbehalte getroffen sind: Hauptsache man kodiert etwas als gleichartig, dann kann man auch schön alles Mögliche korrelieren. Das fängt an mit den weitgehend statischen Kriegen – Fazal diskutiert einmal selbst, wie sehr der Zweite Weltkrieg durch asiatische Gewaltanwendung schon 1929 vorstrukturiert wurde. Dasselbe gilt für die Staaten, die als wohl kalkulierende rationale Akteure vorgeführt werden, bei denen nur die Fachleute der Gewaltanwendung, eben die Militärs, vielleicht mehr zu sagen haben sollten. Wirtschaft, Religion spielen neben manchem anderen keine Rolle. Die Skepsis richtet sich allgemein gegen die Kodierung von Äpfeln und Birnen, die damit endet, dass sich für diese oder jene Annahme etwa eine fünfmal so große Wahrscheinlichkeit ergäbe, kurz: gegen die Scheinsicherheit von Datensätzen aus historisch sehr heterogenen Daten, die aus Historikersicht nur qualitativ angemessen verstanden werden können. Die Fallbeispiele versuchen im Ansatz solchen Einwänden zu begegnen; eine Fülle wenig bekannter Kriege oder Bürgerkriege wird mit leichter Hand in die elaborierten Definitionen eingestreut, vielfach gerade um zu erläutern, warum diese oder jene Ausnahme gelte.
Als Historiker, der sich mit zum Teil ähnlichen Fragestellungen3 beschäftigt hat, habe ich dennoch viele Anregungen erhalten. Das gilt zumal für die Zusammenfassung des Paradoxes der unterschiedlichen Erscheinungsformen von Bürgerkriegen und Kriegen mit dem HVR. Für Fazal gibt es einen Konsens, dass sich in der UN-Ära für beide Kriegsarten Friedensverträge als beste Lösung darstellen – die Frage ist nur: Wer trägt diesen Konsens? Es gebe eine „Spannung zwischen dem modernen humanitären Völkerrecht, das Anreize schafft, die gegen die Unterzeichnung von Friedensverträgen sprechen, und die Präferenz von Verhandlungslösungen, die Konfliktparteien zur Lösung von Verträgen drängt“ (S. 361). Diese werde in Bürgerkriegen anders als in zwischenstaatlichen Kriegen aufgelöst. Genau dazu wünschte sich ein Historiker aber mehr differenzierte qualitative Studien, die vielleicht auch nur für die jüngste Vergangenheit Gemeinsamkeiten und Unterschiede schärfer in ihrer jeweiligen Singularität herausarbeiteten.4 Und schließlich wäre an Fazals Ergebnisse die Frage zu stellen, ob sich hinter ihrer paradoxen Dichotomie die Unterscheidung zwischen herkömmlichem Interessenausgleich und formalisiertem Völkerrecht verbirgt. Das allerdings wäre eine gar nicht so neue Erkenntnis.
Anmerkungen:
1 Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge 2001.
2https://correlatesofwar.org (03.04.2020).
3 Zuletzt: Jost Dülffer, Friedensschlüsse und Friedlosigkeit 1945–1990, in: Gerd Althoff u.a. (Hrsg.), Frieden. Theorien, Bilder, Strategien von der Antike bis zur Gegenwart, Dresden 2019, S. 331–345.
4 Für ein entsprechendes Vorgehen mit verwandten Fragestellungen einer anderen Epoche etwa: Jost Dülffer / Martin Kröger / Rolf-Harald Wippich, Vermiedene Kriege. Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krim-Krieg und Erstem Weltkrieg 1856–1914, München 1997 (33 Fallstudien); Thomas Mahnken / Joseph Maiolo / David Stevenson (Hrsg.), Arms Races in International Politics. From the Nineteenth to the Twenty-First Century, Oxford 2016.