M. Herzer: The Media, European Integration and the Rise of Euro-journalism, 1950s–1970s

Titel
The Media, European Integration and the Rise of Euro-journalism, 1950s–1970s.


Autor(en)
Herzer, Martin
Erschienen
Anzahl Seiten
XIV, 357 S.
Preis
€ 80,24
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Henrich-Franke, Wirtschaftsgeschichte, Plurale Ökonomik, Universität Siegen

„Europa“ wird heutzutage im öffentlichen Diskurs allzu oft als Synonym für die Europäische Union verwendet. Dass damit aber viele Staaten des Kontinents – und zukünftig sogar Großbritannien – implizit ausgeblendet oder übergangen werden, fällt kaum ins Gewicht. Diese synonyme Verwendung und die postulierte „Einzigartigkeit“ der Europäischen Union resultieren – so das Hauptargument des hier zu besprechenden Buchs – aus einer Transformation der Berichterstattung über die Europäischen Gemeinschaften zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren. Spätestens in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre begannen Journalisten in (west)europäischen Medien ein europäisches Integrationsnarrativ zu konstruieren, das das Bild einer abstrakten technokratischen Institution in das eines demokratischen und wirtschaftlich prosperierenden Gebildes umdeutete. Diese als „Euro-Journalisten“ erfassten „Gatekeeper“ der Interpretation des supranationalen europäischen Einigungsprojekts waren tief verankert in elitären Netzwerken aus EG-Kommissaren wie Hallstein, Marjolin oder Mansholt, höheren EG-Bürokraten, nationalen Parteien, Wirtschaftsverbänden und gesellschaftlichen Protagonisten supranationaler Integrationsbemühungen. Sie teilten deren Perspektiven wie Motivationen und trugen ihren Teil dazu bei, dass ein Europanarrativ gesponnen wurde, das sich aus drei Elementen zusammensetzte: (1) Die Europäischen Gemeinschaften erhielten einen „sui generis“-Charakter dahingehend zugesprochen, dass sie durch ihre supranationale Grundausrichtung die einzig tatsächlich nützliche Form europäischer Integration garantieren, wodurch andere intergouvernementale westeuropäische Organisationen wie der Europarat delegitimiert wurden. (2) Die Europäischen Gemeinschaften wurden zu einem Garanten für wirtschaftlichen Wohlstand, Frieden und globalen Einfluss in der bipolaren Welt des Kalten Krieges stilisiert. Obgleich die „Euro-Journalisten“ tief in „nationalen“ Europadiskursen verankert waren, teilten sie die Ansicht, dass die Europäischen Gemeinschaften der einzige Ort seien, um politische wie wirtschaftliche Differenzen zwischen ihren Mitgliedsstaaten effektiv zu überwinden. (3) Die Organe der Europäischen Gemeinschaften und ihre individuellen Vertreter wurden zu Wächtern europäischer Interessen gemacht, wohingegen nationalen Regierungen und Regierungsvertretern nicht selten nationale Egoismen unterstellt wurden, die eine grundsätzliche Gefahr für Wohlstand und Frieden seien. Dieses von den „Euro-Journalisten“ einmal konstruierte „Europanarrativ“ sei – so der Verfasser – derart wirkmächtig gewesen, dass es noch Jahrzehnte später eine Interpretationsfolie liefere, mit der Journalisten die Europäische Union wahrnehmen und über sie berichten würden.

Die Dissertationsschrift von Martin Herzer setzt es sich zum Ziel, die Entstehung des umschriebenen „Euronarratives“ durch die von ihm als „Euro-Journalisten“ erfassten Medienvertreter zu rekonstruieren. Die Studie, die sich als ein weiterer Beitrag zum Forschungsfeld der Mediengeschichte der europäischen Integration versteht, gliedert sich – neben Einleitung und Fazit – in fünf thematische Abschnitte. In Kapitel 2 werden die 1950er- und 1960er-Jahre als eine Phase dargestellt, in der die Berichterstattung in westeuropäischen Medien sowohl kritisch als auch zurückhaltend mit den Europäischen Gemeinschaften (EGKS, EWG und Euratom) umging. Noch waren Sympathien für andere Formen der Zusammenarbeit wie den Europarat weit verbreitet. Kapitel 3 nähert sich, unter anderem in einem biografischen Zugriff, der ersten Leitkategorie des Buchs, das heißt der Gruppe der „Euro-Journalisten“ an. Einzelne Protagonisten, wie den FAZ-Wirtschaftsredakteur Hans Herbert Götz, zeichnet Herzer in ihren Verflechtungen mit Elitennetzen der supranationalen europäischen Integration nach und arbeitet dabei die Genese journalistischer Überzeugung und Motive auf. Multinationale (Familien-)Geschichten sowie ein breites Interesse an Wirtschaftspolitik waren der Nährboden, auf dem eine kohärente Gruppe von „Euro-Journalisten“ gedeihen konnte, die in den Europäischen Gemeinschaften den einzig gangbaren Weg in die Zukunft Europas sahen. Auf diesem Fundament aufbauend wird in Kapitel 4 die zweite Leitkategorie des Werks entwickelt und die Entstehung eines dominanten „Euronarrativs“ nachgezeichnet, das durch das britische Beitrittsgesuch und die EG-Erweiterung im Jahr 1973 an Attraktivität und Überzeugungskraft gewann. Für die frühen 1970er-Jahre konstatiert Herzer in Kapitel 5 dann eine Konsolidierung des „Euro-Journalismus“ in dessen Kontext das „Euronarrativ“ sich trotz bestehender Differenzen in der Interpretation der Wirtschaftspolitik angesichts der enormen ökonomischen Verwerfungen als dominante Interpretationsfolie durchsetzte. Wie sehr diese die Wahrnehmung der europäischen Medien prägte, diskutiert Herzer schließlich in Kapitel 6. Der Autor zeigt, wie die in den 1970er-Jahren einsetzenden Tagungen des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs durch die „Euro-Journalisten“ ebenso zu europäischen Medienevents gemacht wurden, wie die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments im Jahr 1979. In monatelangen Vorbereitungen planten Presseagenturen, Journalisten und nicht zuletzt die Europäische Rundfunkunion die Wahlberichterstattung. Sie versuchten, den Bürgern die Institutionen und Funktionen der Gemeinschaft entlang ihrer Wahrnehmung näher zu bringen, um die Wahlbeteiligung zu steigern und die erste Direktwahl zu einem Erfolg für das supranationale Integrationsprojekt werden zu lassen.

Das Buch besticht durch ein sehr klares Narrativ und die sehr breit angelegte Auswertung von Archiven und Zeitzeugeninterviews. Der Autor ist bemüht, die „Euro-Journalisten“, ihr „Euronarrativ“ und ihre personellen Vernetzungen an der Schnittstelle von europäischer Integrationsgeschichte und Mediengeschichte multiperspektivisch zu betrachten. Dazu wurden Medienarchive ebenso ausgewertet wie politische Archive der Mitgliedsstaaten und der EU. Vielfältige Zeitzeugeninterviews ermöglichen es, Einblicke in die persönlichen Motive und Vorgehensweisen der Journalisten zu rekonstruieren. Diese breite Quellenbasis nutzt Herzer, um überzeugend herauszuarbeiten, wie stark Medienvertreter in Brüsseler Elitenetzwerke involviert waren und daran partizipierten, nicht nur ein positives Bild der Europäischen Gemeinschaften zu zeichnen, sondern diese gleichfalls als Nukleus europäischer Einigungsbemühungen zu legitimieren.

Wenngleich das Werk als ein wichtiger Beitrag zur europäischen Integrations- wie Mediengeschichte einzustufen ist, wirkte es dem Rezensenten mitunter doch zu teleologisch der eigenen Botschaft verpflichtet. Insbesondere die Leitkonzepte des „Euro-Journalisten“ und des „Euronarrativs“ – eigentlich sehr sinnvolle und klar definierte Konzepte – erscheinen allzu oft wie überstrapazierte Containerbegriffe, die wenig Spielraum für Variationen lassen. Um diese Starre aufzubrechen, wäre es hilfreich gewesen, die Untersuchungsperspektive um kleinere Staaten an der europäischen Peripherie zu erweitern, statt sich einmal mehr auf die großen vier zu stützen. Komparative Perspektiven, so die Vermutung des Rezensenten, hätten den einen oder anderen Beitrag zum „Euronarrativ“ in ein anderes Licht gerückt. So erinnert die Berichterstattung der Europäischen Rundfunkunion über die erste Direktwahl strukturell wie inhaltlich an eine Reihe anderer europäischer Medienevents jenseits der Europäischen Gemeinschaften, bei denen die Europäische Rundfunkunion koordinierend eingriff und sich um europäische Narrative bemühte.

Alles in allem hat Martin Herzer eine bemerkenswerte und äußerst lesenswerte Studie vorgelegt, die der Rezensent nachhaltig zur Lektüre empfiehlt. Kritische Anmerkungen sollten deshalb auch als Einladung verstanden werden, ein wichtiges Thema an der Schnittstelle der europäischen Integrations- und Mediengeschichte nicht zuletzt mit Blick auf eine sich ändernde Berichterstattung durch neue (digitale) Medientechnologien und sich wandelnde „Europanarrative“ weiter zu diskutieren.

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