P. Grosse: Kolonialismus, Eugenik und buergerliche Gesellschaft

Titel
Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland 1850-1918.


Autor(en)
Grosse, Pascal
Erschienen
Frankfurt am Main 2000: Campus Verlag
Anzahl Seiten
266 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk van Laak, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Daß Afrika für Deutschland einmal von erheblicher Bedeutung gewesen ist, wem ist das heute noch bewußt? Allenfalls wird man sich erinnern, daß es einmal deutsche Kolonien gab, vielleicht noch, daß es sich dabei um die heutigen Länder Kamerun, Namibia, Tanzania und Togo handelte. Diese oft schwache Kunde vom "dunklen Kontinent" ist kein Wunder, denn schon während des Ersten Weltkriegs hatte Deutschland als erste Kolonialmacht eine vollständige Dekolonisation erlebt, und damit schienen die noch zarten Bindungen mit Afrika wieder gekappt. Zwar wurde noch jahrzehntelang ein propagandistisch aufwendiger "Kolonialismus ohne Kolonien" betrieben, doch hatte man es in Deutschland bald zu schätzen gewusst, nicht mehr mit Unabhängigkeitsbestrebungen in den Kolonien und mit deren investitions-intensiver "Inwertsetzung" belastet zu sein. Die Kolonialzeit wurde geradezu aktiv verdrängt, so daß sie heute im öffentlichen Bewußtsein der Deutschen kaum noch präsent ist - in historischer Perspektive freilich sehr zu Unrecht. Denn in der Ära zwischen ungefähr 1880 und 1960, in der die Erschliessung und Neuordnung der global begrenzten Räume, Rohstoffe und Energievorräte zu gedanklichen Fixpunkten und folglich zu Leitmotiven des Politischen wurden, hatte Afrika für Deutschland eines der wichtigsten Projektions-, Erschliessungs- und Experimentierfelder gebildet.

Pascal Grosse, Arzt und Historiker am Virchow-Klinikum der Charité in Berlin, greift in seinem Buch die schon von Hannah Arendt vertretene Ansicht auf, daß die Wurzeln von Rassismus und NS-Totalitarismus im Zeitalter des Imperialismus aufgespürt werden müssen. Er deutet die relativ kurze Phase des aktiven deutschen Kolonialismus (1884-1914/18) als eine wesentliche Durchgangsstation für die Konstituierung einer "rassischen Ordnung", die dann nach Erstem Weltkrieg und dem "Verlust" der Kolonien verstärkt auf Deutschland selbst zurückwirkte. Die koloniale Erfahrung der Deutschen stellte gleichsam "das Reißbrett dar, auf dem der deutsche bürgerliche Nationalstaat eine neue Herrschaftsform entwarf, die auf einem 'modernen' biologistischen Gesellschaftsverständnis beruhte" (S. 10f.).

Die Konfrontation der Europäer mit der einheimischen Bevölkerung in den Kolonien durchlief seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Phasen: Zunächst galten die "Eingeborenen" als "lästige", allenfalls exotische Wesen, deren Schicksal gegenüber der Mission, die Kolonialländer für die europäische Weltwirtschaft "fruchtbar" zu machen, wenig galt. Vor dem Hintergrund der darwinistischen Ideologie der Kolonisatoren schien der "Untergang der Naturvölker" eine unvermeidliche, ja letztlich begrüssenswerte Tatsache zu sein, förderte sie doch den "natürlichen" Selektionsprozess der Völker und Rassen und machte Platz für die vermeintlich Leistungsstärkeren. 1

Wo dieser Verdrängungspolitik nicht gänzlich nachgegeben wurde, entstand durchaus eine Bereitschaft zur Assimilation, wobei man wie selbstverständlich von der Integration der peripheren Gesellschaften in die Kultur der Metropole ausging. Immerhin wurden hierbei die Naturvölker im Sinne der Aufklärung überhaupt für "entwicklungsfähig" gehalten. Eine dritte Position zielte auf die Dissimilation zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten, indem sie von der grundsätzlichen biologischen Differenz der Rassen ausging und für diese getrennte Entwicklungswege postulierte. 2 Dahinter verschwanden - nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts so hellsichtig erscheinende - Einsichten, wie sie dem Anthropologen Georg Gerland schon 1868 gelangen, daß nämlich "die Kluft, die den civilisirten Menschen vom sogen. Wilden trennt, bei weitem nicht so gross ist, als man sich oft einbildet" (S. 111).

Der Umschwung zur Politik der rassischen Dissimilation wurde um die Jahrhundertwende gedanklich in fast allen Kolonialländern vollzogen. Er war aus der gestiegenen Furcht vor Proletarisierungstendenzen in den Kolonien und damit vor Aufständen, politischer Radikalisierung und Partizipationsbestrebungen der Kolonialvölker erwachsen. Parallel zum Umgang mit der "sozialen Frage" durch die bürgerliche Sozialreform in den Industrieländern sollte die "Eingeborenenfrage" durch eine - hier freilich anthropologisch, nicht sozial - gegliederte Ständegesellschaft mit wohlfahrtsstaatlichen Elementen überwunden werden. Seit dem 1900 in Paris einberufenen "Internationalen Kongress für koloniale Soziologie" diskutierte man international eine kulturelle und rassische Dissimilation bei gleichzeitiger Fortentwicklung der wirtschaftlich-materiellen Grundlagen der "Eingeborenen". Die Debatte mündete später in das "colonial development" und schliesslich - wenn auch unter veränderten gedanklichen Vorzeichen - in die "Entwicklungshilfe".

So weit zieht Grosse seine Darstellung jedoch nicht, er endet vielmehr mit dem Ersten Weltkrieg. Dabei sieht er die deutsche Kolonialpolitik spätestens jetzt einen "Sonderweg" beschreiten: Während die Engländer und Franzosen im Zuge der allgemeinen Militarisierung auch ihre Kolonialvölker in ihre strategischen Konzepte einbauten, bestanden die Deutschen weiterhin auf einer strikten rassischen Trennung. Deutsche Kolonialisten warfen ihren Konkurrenten sogar "Verrat", ja eine Forcierung des "Rassenkampfes" vor und stilisierten sich demgegenüber zu Hütern der Reinheit der "weissen Rasse". Der Vorwurf der "schwarzen Schande" erhielt durch den Einsatz farbiger Truppenteile im Krieg eine dramatische Evidenz, mehr noch durch ihre Beteiligung an der Besetzung des Rheinlandes in der Nachkriegszeit. Die gezielt geschürte Empörung über das nun vermeintlich bereits "vor Deutschlands Türen" stehende Afrika wurde von den völkischen Rassisten entsprechend instrumentalisiert. Die Debatte über die "Rheinlandbastarde" mündete dann mit der staatlichen Sanktionierung des rassischen Paradigmas schon 1937 in eine erste Welle gewaltsamer Sterilisationen. 3

Grosse erklärt das Aufkommen rassistischer und eugenischer Argumentationen als eine der "modernen" Strategien zur Rationalisierung des Umgangs mit gesellschaftlichen Konfliktfeldern. Der Abbau sozialer Spannungen, sei es zwischen den "Klassen" in Europa oder den "Rassen" in den Kolonien, zielte letztlich auf eine Steigerung ökonomischer Effizienz. Die Einheimischen wurden sukzessive als wichtigstes "Aktivum" der Kolonialwirtschaft entdeckt. Statt auf ihre Vernichtung zielte die Kolonialpolitik nun immer stärker auf ihre "Erhaltung", um sie als Arbeitskräfte und als Konsumenten in den kolonialen Wirtschaftskreislauf einzugliedern.

Medizin und Sozialhygiene besaßen hierbei Leitfunktionen, doch ergaben sich zwischen der Logik der Eugenik und derjenigen von Wirtschaft, Militär und Sozialpolitik zahlreiche Zielkonflikte. Grosse beschreibt einige der daraus entstehenden Debatten exemplarisch: Zunächst mußten die Kolonien als "deutsches Land" definiert werden, um sie dem planerischen Zugriff der zivilen Verwaltungsbehörden unterwerfen zu können. Dies gelang seit 1906/07 zumindest teilweise unter der von Kolonialstaatssekretär Bernhard Dernburg forcierten "Kolonialreform", die den politischen Rückenwind im Gefolge der überaus blutigen Niederschlagung von Aufständen in Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika nutzte. Dabei konnte Dernburg auf die Erkenntnisse der "Kolonialwissenschaften" zurückgreifen, die sich die Erschließung und Nutzbarmachung der Kolonien zum Ziel gesetzt hatten. Für die Medizin und andere Humanwissenschaften, für die Wirtschaft oder die Technik herrschten in den deutschen Kolonien geradezu ideale "Laborbedingungen", in denen ungehinderte "Feldforschungen" möglich waren. 4 Daher war die Kolonialzeit für viele Wissenschaften eine wichtige Durchgangsstation, aber auch ein prägendes Muster für die Kooperation zwischen Staat, Wirtschaft und Wissenschaft im Sinne deutscher "Weltpolitik".

Daß die Kolonialwissenschaften einem sozialpolitischen Erkenntnisinteresse unterlagen, hatte sich schon zu Beginn der deutschen Kolonialzeit bei der Diskussion der Frage erwiesen, ob die "Weissen" in den tropischen Regionen überhaupt dauerhaft lebens- und leistungsfähig sein könnten. Dabei standen sich anthropologische Grundannahmen über die Bedeutung von Anlage und Umwelt für die menschliche Sozialisation gegenüber, die sich später als Gegensatz zwischen "Rasse" und "Raum" fortschrieben und mal als unversöhnliche Gegensätze, mal als komplementäre Faktoren auftraten (wie etwa in der jetzt vieldiskutierten "Volks- und Kulturbodenforschung"). 5 Die "Akklimatisationsfrage", von Kolonialgegnern wie Rudolf Virchow negativ beantwortet, spielte später hinüber in die Problematik der "Mischehen" bzw. der "Rassenmischung", denn es stellte sich heraus, das ein Großteil - Schätzungen spechen von etwa 80% - der deutschen Kolonisatoren an der turbulenten kolonialen 'frontier' mehr als nur kulturelle Kontakte zu Einheimischen unterhielten.

Dies stellte die Kolonialverwaltung wiederum vor grundsätzliche Probleme, denn welchen rechtlichen und staatsbürgerlichen Status sollte man den "Mischlingen" zusprechen, zu denen 1914 etwa 3600 Menschen gerechnet wurden? Die Spannung blieb bis 1914 unaufgelöst. Zwar wurde mit einigem Aufwand versucht, im Interesse der "Rassereinheit" deutsche Frauen für eine Übersiedlung in die Kolonien anzuwerben, was August Bebel nicht zu Unrecht als "staatlichen Mädchenhandel" kritisierte. Doch hatte die Initiative nur geringen Erfolg, so daß alternativ versucht wurde, die Autonomie der männlichen Sexualität mit dem Argument des "öffentlichen Gemeinwohls" zu beschneiden. Denn in der biologistischen Perspektive führte die rassische "Bastardisierung" geradewegs zu sozialer Devianz, Kriminalität und letztendlich zu völkischem Untergang.

Für Grosse verliefen diese Grundsatzdebatten parallel zur Entstehung und zunehmenden Präzisierung eines anthropologischen Rassebegriffs. Unter Rückgriff auf die Erkenntnisse der modernen Biologie und Vererbungslehre bildete sich eine eugenische bzw. "rassehygienische" Matrix heraus, die von der blossen Beschreibung rassischer Unterschiede zu einer prognose- und anwendungsorientierten Wissenschaft überging, um sich schließlich als eine Sozialtechnologie zu verstehen, die auf die künftige anthropologische Zusammensetzung des deutschen Volkes bzw. der Menschheit insgesamt Einfluß zu nehmen versuchte. Tatsächlich war die Eugenik eine internationale Erscheinung, die aufgrund des Zusammentreffens von dynamischem Entwicklungsparadigma mit globalisierten Sozialbeziehungen entstanden war und hierauf mit einer Systematisierung und Neuordnung "homogenisierter" völkischer Einheiten zu reagieren versuchte. Dadurch wurden Sozialbeziehungen "biologisiert" und ihre Steuerung durch eine gezielte "Auslese" nahegelegt. Wo sich eugenisches Denken geschichtsphilosophisch auflud, wurden im Bereich der Bevölkerungsentwicklung, der Migration, der Siedlungspolitik, der Wohlfahrtspolitik usw. Handlungszwänge suggeriert, die auf die Wiederherstellung einer "natürlichen rassischen Ordnung" abzielten.

Die Eugenik verstand sich als eine "moderne", wissenschaftliche Variante der Sozialpolitik, als eine interdisziplinäre Human- und Naturwissenschaft. Als solche stellte sie eine der möglichen Fortentwicklungen bürgerlich-meritokratischer Visionen dar, die durch den gezielten Eingriff in die Quantität der Bevölkerung und die Qualität ihrer biologischen Anlagen die gesamtgesellschaftliche Leistungsfähigkeit steigern wollten. Nach dem Verlust der Kolonien schlug sie als Option in Deutschland stärker als in den noch verbliebenen Kolonialländern durch, um schließlich in die Etablierung eines "Rassenstaates" zu münden, der vorgab, nach außen gegen die rasch anwachsende "farbige Front", nach innen gegen die "Durchmischung" mit "Gemeinschaftsfremden" vorzugehen. Es wäre in diesem Zusammenhang eine lohnende Fragestellung der kontrafaktischen Geschichte, ob sich völkische, eugenische und rassistische Gedankenwelten weniger ausgeprägt hätten, wenn Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg weiterhin eine Kolonialmacht geblieben wäre.

In ihrer Fixierung auf Fragen der Rasse, des Geschlechts sowie der militärischen Gewalt läßt die Arbeit von Grosse die Handschrift der amerikanischen "(post-)colonial studies" erkennen. An sie erinnert auch eine gewisse Neigung zu Schematismen, auch wenn der Autor gleich zu Beginn seinen Zugriff als eine "allgemein- und wissenschaftshistorische Topographie" ausweist, die nicht auf Chronologie abziele, sondern auf die kontextualisierende Charakterisierung von "Schnittstellen zwischen deutschem Kolonialismus und einer eugenisch geprägten kolonialen Rassenpolitik" (S. 17). Manche der Argumentationslinien bleiben dabei etwas in der Luft hängen. Man wünschte sich stärkere Hinweise auf Verhältnismäßigkeiten, auf Trägergruppen etc., aber auch auf konkurrierende Deutungsmodelle, etwa die der umweltorientierten Geopolitik. Auch vermag Grosses Schlußwendung, die den eugenischen Diskurs in die militärpolitischen Konzepte einer "völkischen Wehrgemeinschaft" einordnet, nicht vollständig zu überzeugen.

Doch ist die Arbeit insgesamt von bewundernswert präziser Sprache und Systematik. Zweifellos stellt sie einen notwendigen und überaus wichtigen Beitrag zur Aufklärung der geistigen Horizonte dar, die das Handeln vieler Zeitgenossen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, nicht nur in Deutschland und bisweilen noch über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus bestimmte. Die Bedeutung des kolonialen "Labors" als prägende Durchgangsstation wäre für andere Wissenschaften und Praxisfelder noch genauer zu beschreiben. Dies dürfte auch die "wissenschaftliche" Ost- und Westforschung wieder in einen grösseren Rahmen einordnen und dabei ihre relative Maßstäblichkeit gegenüber der Kolonialforschung erweisen. Grosse selbst kündigt in seinem Buch eine Studie zur Kolonialmigration in Deutschland zwischen 1870 und 1945 an. Man darf sehr gespannt darauf sein.

Anmerkungen:
1 Über Entstehung und Folgen dieser Wahrnehmung gab es zuletzt eine lesenswerte Studie von Sven Lindquist: Durch das Herz der Finsternis. Ein Afrika-Reisender auf den Spuren des europäischen Völkermords, Frankfurt am Main/New York 1999.
2 In einer Studie über Kamerun hat Andreas Eckert diesen Befund jetzt für die koloniale Stadtplanung nachgezeichnet, vgl. ders.: Grundbesitz, Landkonflikte und kolonialer Wandel. Douala 1880 bis 1960, Stuttgart 1999.
3 Vgl. hierzu Rainer Pommerin: Die Sterilisierung der Rheinland-Bastarde. Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit 1918-1937, Düsseldorf 1979.
4 Die einschlägigen Forschungen zu dieser Tradition der Kolonialmedizin von Wolfgang Uwe Eckart (Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884-1945, Paderborn 1997) fertigt Grosse in auffälliger Beiläufigkeit ab (S. 41).
5 Vgl. die Forschungen von Michael Fahlbusch, Willi Oberkrome, Peter Schöttler etc.

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