M. Müller: Vergnügen und Geselligkeit in Stralsund und Reval im 18. Jahrhundert

Cover
Titel
Das Entstehen neuer Freiräume. Vergnügen und Geselligkeit in Stralsund und Reval im 18. Jahrhundert


Autor(en)
Müller, Matthias
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern. Reihe V: Forschungen zur Pommerschen Geschichte 51
Erschienen
Weimar 2019: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arvid Hansmann, Greifswald

Mit dem heute selbstverständlichen Begriff der „Freizeit“ stößt man bei der Betrachtung der Lebens- und Alltagspraxis vorindustrieller Gesellschaften an Grenzen, da er erst Ende des 19. Jahrhunderts in die ökonomische Welt im Allgemeinen übertragen wurde. In der Publikation seiner 2016 an der Universität Greifswald eingereichten Dissertation stellt Matthias Müller den Begriff der „Freiräume“ in den Fokus, um sich der Ständegesellschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu nähern. Er setzt dabei voraus, dass es bestimmter Institutionalisierungen und Lokalisierungen bedurfte, um Möglichkeiten von „Vergnügen und Geselligkeit“ im komplexen Sozialgefüge der Zeit auszuloten. Sein Ziel ist es, diejenigen Freiräume näher zu betrachten, die sich in dieser Zeit neu herausbildeten.

Den Untersuchungsraum bilden die hinsichtlich Bevölkerungsstruktur und Einwohnerzahl vergleichbaren Ostseestädte Stralsund und Reval (Tallinn). Dabei ist es dem Autor zunächst ein Anliegen, jeweils die politischen, ökonomischen und sozialen Parallelen und Unterschiede darzulegen. In besonderer Weise hat er dabei den Begriff der „borderlands“ (Grenzräume) im Blick, was er zum einen mit der Lage Stralsunds in Schwedisch-Pommern und Revals an der Peripherie des russischen Zarenreiches und zum anderen durch die gemeinsame enge Verbindung mit dem kulturellen und wirtschaftlichen Gefüge des Ostseeraumes begründet.

Für die zeitliche Eingrenzung führt er die politischen Gegebenheiten an. In dem Teil Pommerns, der Schweden in der Folge des Großen Nordischen Krieges (1700–1720/21) verblieben war und der skandinavischen Monarchie weiterhin einen Anteil am Heiligen Römischen Reich sicherte, setzte erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts wieder ein allgemeiner wirtschaftlich-kultureller Aufschwung ein. Ähnlich sah es in Estland aus, das unter der Herrschaft Katherinas II. (1762–1796) zwar stärker in das Zarenreich eingebunden wurde, sich aber zugleich als eine „Tür nach Europa“ verstand. Für beide Territorien und ihre Hauptstädte führten grundlegende Veränderungen der politischen Verhältnisse um 1800 zu einem massiven Einschnitt, der den Untersuchungszeitraum abschließt.

Große Bedeutung misst Müller der sozialen und ökonomischen Entwicklung bei. Mit der Zunahme einer gut situierten und gebildeten bürgerlichen Gesellschaftsschicht, die sich dem Adel selbstbewusst gegenüberstellte, kam es zur Etablierung einer „Öffentlichkeit“, die durch mediale Präsenz (etwa Zeitungen) und durch institutionalisierte Zusammenkünfte charakterisiert war. Gleichzeitig ging dieser Prozess mit der consumer revolution einher, die zu einem vermehrten Erwerb von Repräsentations- und Luxusgütern (etwa Porzellan und Kolonialwaren) führte.

Für Müller ist der Umstand zentral, dass auch die Orte und Institutionen, die sich dem Vergnügen und der Geselligkeit widmeten, den Prozessen der sozialen Emanzipation und der Kommerzialisierung unterworfen waren. Wie er betont, hat die Forschung bisher nur größere urbane Zentren oder Regionen in Nordwesteuropa in den Blick genommen – eine „Analyse von mittelgroßen Städten außerhalb der westeuropäischen Zentren [trage] zur Fundierung des empirischen Wissens und zur Schärfung des Gesamtbildes bei.“ (S. 25)

Um den Charakter von Vergnügungen und Geselligkeit in Stralsund und Reval zu konkretisieren, untersucht Müller drei charakteristische Ausdrucksmittel, nach denen sich sein Werk entsprechend in drei Hauptkapitel gliedert: Glücksspiele, das Theater sowie Bälle und Maskeraden. Dabei betont er, hier nicht einen systematischen Vergleich dieser Vergnügens- und Geselligkeitsformen anzustreben, sondern „vielmehr die grundsätzlichen Entwicklungslinien anhand von zwei exemplarisch gewählten Städten des Ostseeraumes, deren Aussagen sich komplimentieren“ (S. 30), zu beschreiben und zu analysieren. Als eine wesentliche Quelle für seine Untersuchung zieht Müller die in dieser Zeit bereits umfangreich erschienenen Zeitungen, Zeitschriften und anderen Druckerzeugnisse heran. Darüber hinaus bezieht er die rechtlich-normativen Zeugnisse, wie Gesetze und Verordnungen, mit ein. Dabei handelt es sich um Normen, die entweder von der städtischen und landesherrlichen Obrigkeit oder von gesellschaftlichen Institutionen (z. B. Klubs) in Form von Statuten herausgegeben wurden. Für die Umsetzung der Gesetze lieferten ihm die handschriftlichen, nichtöffentlichen Gerichts- und Polizeiakten dienliche Hinweise. Lotteriepläne und Ziehungslisten, die Akten der Stralsunder Freimaurerloge „Zur Eintracht“ sowie die Tagebücher des Wanderschauspielers Carl Julius Christian Schüler und des Stralsunder Pastoren Johann Christian Müller vervollständigen die Quellengrundlage der Arbeit.

Im ersten Hauptkapitel, das von den Glücksspielen handelt, ist es Müllers Intention, „die standesübergreifenden Freiräume der Glücksspiele darzustellen und gleichzeitig deren unterschiedliche Organisationsformen und Legitimationsstrategien aufzuzeigen“ (S. 65). Dabei unterscheidet er grundsätzlich zwischen Lotterien und Karten- bzw. Würfelspielen, da erstere reine Glücksspiele waren, während letztere durch das jeweilige Können der Spieler zumindest partiell „Wettkampfbedingungen“ voraussetzten. Die Durchführung von Glücksspielen bedurfte einer moralischen Legitimation. Gerade Lotterien unterstanden einer steten Kritik, der man dadurch begegnete, dass man den Gewinn karitativen Zwecken zusprach. So veranstaltete die Stadt Reval mehrere Lotterien, die einem Zuchthaus sowie Kirchenausstattungen zugutekommen sollten. Da es im Falle der Lotterie der Stralsunder Freimaurerloge „Zur Eintracht“ nicht gelang, einen hinreichend großen Teilnehmerkreis zu rekrutieren, konnten die versprochenen Gewinne nicht durch Einnahmen abgefangen werden, was zu einem finanziellen Totalschaden führte, in dessen Folge sich die Loge auflöste.

Im zweiten Hauptkapitel, zum Theater, verdeutlicht Müller zunächst den Wandel der gesellschaftlichen Stellung des Schauspiels im 18. Jahrhundert. Die Wahrnehmung als „jugendgefährdender, sozial subversiver und plumper Müßiggang“ (S. 234) wich zunehmend der Einschätzung als anspruchsvoller Unterhaltung mit didaktischem Wert. Mit der Akzeptanz in bürgerlichen und adligen Kreisen ging gleichzeitig eine zunehmende Kommerzialisierung einher. Während in der Folge in Reval ein öffentlich auftretendes Liebhabertheater aus Vertretern der führenden Gesellschaftsschichten entstand, errichtete die Stralsunder Johannisloge „Zur Eintracht“ ein festes Theatergebäude. Beim angestrebten Profit ging es beiden Institutionen zunächst jedoch nicht um den eigenen Gewinnzuwachs, sondern wie bei den Glücksspielen um wohltätige Zwecke. Aber bereits Ende des 18. Jahrhunderts finanzierten Revaler Aktionäre ein festes Ensemble, von dem sie sich eine möglichst hohe Rendite erhofften. Dementsprechend wurden Theater wie Unternehmen geführt, denen ein Prinzipal vorstand.

Der Wechselwirkung aus Angebot und Nachfrage standen reglementierende Gesetzgeber gegenüber. War der Stadtrat, meist durch Freikarten oder finanzielle Zuwendungen, regelmäßig bereit, die Auftritte der Schauspielgesellschaften zu genehmigen, so zeigte die jeweilige Regierung eine größere Skepsis. Besonders unter Zar Paul I. (1796–1801) erfolgte eine strenge Zensur, die gelegentlich absurde Züge annahm: Beispielsweise musste bei der Oper Das rote Käppchen die Farbe in grün umbenannt werden, um einen vermeintlichen Bezug zu den Mützen der revolutionären Jakobiner zu vermeiden. In Stralsund wurde der Aufführung von Schillers Die Räuber mehrfach verschoben, da man insbesondere unter Militärangehörigen Krawalle befürchtete. Die populärsten Stücke waren jedoch leicht verständliche Lustspiele sowie zunehmend größer inszenierte Opernprojekte.

Im dritten Hauptteil zu Bällen und Maskeraden charakterisiert Müller diese als institutionalisierte Form des Festes bzw. des Vergnügens, die dennoch eine gewisse Freiheit erlaubte. Dabei macht er auch hier einen schrittweisen Wandel deutlich, der mit dem gesellschaftlichen Bedeutungszuwachs des Bürgertums einherging. Am Beispiel der Huldigung König Gustavs III. von Schweden 1773 in der Stralsunder Nikolaikirche zeigt er zum einen, dass die offiziellen Feierlichkeiten weiterhin den Ritualen ständischer Hierarchien folgten. Zum anderen ergaben sich im Anschluss an die eigentliche Huldigungsfeier Gelegenheiten für ständeübergreifende Kontakte.

In Reval boten hierfür die halböffentlichen Räumlichkeiten der Klubhäuser den entsprechenden Rahmen, während in Stralsund das 1766 errichtete Theater regelmäßige Zusammenkünfte ermöglichte. Zudem entwickelte sich der einstige Wallfahrtsort Kenz im Westen Vorpommerns zu einer Kurstätte, die in den Sommermonaten Gäste verschiedener Sozialgruppen anzog. Auch wenn zwar mit der Zahlung des Eintritts formal alle Gäste gleichgestellt waren, blieben doch zugleich strikte Verhaltensregeln, die sich in detaillierten Ball- und Tanzordnungen widerspiegelten, gültig. Frauen waren zur „Sittlichkeit“ angehalten, das „wilde Tanzen“ galt als Ausdruck „sündigen Verhaltens“.

In seinem Fazit resümiert Müller, dass der Aufstieg des Bürgertums und die zunehmende Kommerzialisierung die traditionelle Ständeordnung zwar nicht aufheben, aber doch etwas lockern konnten. Die Schaffung von Räumen zur geselligen Zusammenkunft war ein Mittel, außerhalb der Alltagszeit neue Verhaltensregeln zu etablieren, die weniger auf Herkunft als auf finanzieller Ausstattung fußten. Das Beispiel der Ostseestädte Stralsund und Reval zeigt zugleich, wie weit diese Freiräume auch von der übergeordneten politischen Situation (in Schweden bzw. dem russischen Zarenreich) abhängig waren.

Insgesamt bietet Müller in dieser klar gegliederten Studie dem Leser einen detaillierten Einblick in die Gesellschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mit seinem Fokus auf die borderlands des Ostseeraumes hat er Regionen und Epochen ins Licht gerückt, die in den tradierten Narrativen Europas oft übergangen werden – obwohl sie in ihrer sozialen wie künstlerisch-kreativen Vielgestaltigkeit zu dessen Identität beigetragen haben.

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