Die besprochene Dissertationsschrift stellt die erste empirische Studie zur Wirkung von digitalen Spielen auf das Geschichtsbild von Spieler/innen dar und leistet damit einen wichtigen Beitrag, um diese klaffende Lücke in Forschungsfeldern wie Medienwissenschaften, Public History, Game Studies, Geschichtswissenschaften, Archaeogaming (hier ist die Rezensentin verortet) und vor allem der Geschichtsdidaktik zu füllen. Daniel Giere strukturiert seine Arbeit in fünf Kapitel. Einleitend stellt er die Bedeutung digitaler Spiele als „integraler Bestandteil unserer Kultur“ (S. 10) heraus und leitet daraus den Untersuchungsgegenstand ab. Ziel der Arbeit ist es demnach, diverse theoretische und methodische Grundlagen herauszuarbeiten und diese in einer empirischen Studie anzuwenden, um „erste Ergebnisse zur geschichtsbewussten Rezeption historischer Repräsentationen digitaler Spiele zu erhalten“ (S. 15).
Zunächst stellt Giere diverse Modelle und Konzepte aus den Kommunikationswissenschaften, der Psychologie, den Game Studies, der Geschichtswissenschaft und -didaktik vor und prüft diese auf ihre Anwendbarkeit für die übergreifende Fragestellung. Diese vielfältigen Überlegungen zielen darauf, Grundlagen zu Lernprozessen mittels Computerspielen darzulegen, und erörtert, wie diese Lernprozesse abgefragt und empirisch belegt werden können. Daran anknüpfend entwickelt er ein theoriegeleitetes Modell für die Durchführung seiner Studie. Die Wirkung der Rezeption der digitalen Spielwelt auf das Geschichtsbewusstsein (Transfereffekte) wird qualitativ untersucht, während latent geschichtsbewusste Transferprozesse durch eine quantitative Untersuchung analysiert werden. Dieser Mixed Methods-Ansatz stellt eine der Stärken der Arbeit dar. Während der qualitative Ansatz genauere Einzelanalysen ermöglicht, erreicht Giere mit dem Einsatz quantitativer Methoden, dass die Übertragbarkeit der Ergebnisse eingeschätzt werden kann.
Dem Modell folgt Giere im Hauptteil seiner Arbeit. Zuerst analysiert er das für die Studie ausgewählte Spiel, „Assassin‘s Creed III“, aus einer Makroperspektive. Diese belegt er durch das Hochladen von Videomaterial mit der gespielten Szene auf YouTube, wodurch auch Nicht-Spieler/innen die Analyse nachvollziehen können. „Assassin‘s Creed III“ ist Teil einer bekannten Videospielreihe, in der die Spieler/innen in verschiedenen Perioden der Geschichte in einen fiktiven Kampf zwischen Templern und Assassinen eingreifen. Sie ist bekannt für detaillierte Rekonstruktionen der Vergangenheit und stellt deshalb eine geeignete Wahl für die Studie dar. Der dritte Teil spielt während der Amerikanischen Revolution und der Unabhängigkeitskriege zwischen 1753 und 1783. Da im Rahmen einer Studie von den Teilnehmer/innen nicht das ganze Spiel gespielt werden kann, wählt Giere die „Boston Tea Party“ als geeignetes Szenario aus. Hier analysiert er zuerst die spielweltlichen Darstellungen und vergleicht sie anschließend mit der aktuellen fachwissenschaftlichen Historiographie. In der „Boston Tea Party“-Szene im Spiel ist es die zentrale Aufgabe der Spieler/innen, englische Soldaten umzubringen, die versuchen, die Versenkung der Teeladung am Griffins-Anleger gewaltsam zu verhindern. Auch wenn die Zerstörung des Tees am 16. Dezember 1773 historischer Fakt ist, sind die Gewalttätigkeit und die in den Akt einbezogenen Figuren kontrafaktisch. Allgemein fließen im Spiel historisch belegte Menschen in die Figuren ein, deren Hintergründe und Motivationen allerdings stark verschwimmen, um die Handlungen des fiktiven Hauptcharakters in den Vordergrund des Geschehens zu rücken.
Die Studienteilnehmer/innen werden in eine Treatment-Gruppe, die diese Szene spielt, und eine Kontrollgruppe, die das nicht tut, eingeteilt. Die Datenaufnahme erfolgt vor und nach dem Spielen mithilfe von Fragebögen und Interviews. Giere schätzt seine Studie als objektiv und verlässlich ein, fügt aber einschränkend hinzu, dass „durch die Vielfalt der verschiedenen Verarbeitungen von Geschichte im digitalen Spielformat […] eine vorschnelle Verallgemeinerung […] nicht sinnvoll“ ist (S. 341). Er übt auch Selbstkritik in Bezug auf seine aus 58 Studierenden der Universität Hannover bestehende Stichprobe. Diese ermögliche „keine repräsentativen Aussagen zur Grundgesamtheit der Spieler des tertiären Bildungssektors [...]“ (S. 276). Diesen Einschätzungen kann zugestimmt werden. Wenn auch die Ergebnisse der durchgeführten Studie folglich nicht allgemein übertragbar sind, geben sie dennoch wertvolle Hinweise auf Rezeptions- und Lerngeschehen, die durch das Spielen ausgelöst werden.
Im Vergleich der Kontroll- und Treatment-Gruppe zeigt sich, dass nach dem Konsum des Spieles von den Spieler/innen häufiger historische Erzählformen angeboten werden. An dieser Stelle können auch langfristige Transfereffekte von historischen Erzählweisen aus dem Spiel in das Geschichtsbewusstsein der Spieler/innen vermutet werden. An der Vielzahl der übernommenen Eindrücke aus dem Spiel und der Selbsteinschätzung der Treatment-Gruppe zeigt sich, dass das Spiel einen deutlichen Einfluss auf die Beschreibung der historischen Stadt Boston hat. Spieler/innen erwähnten häufig Dinge und Personen, mit denen sie im Spiel interagieren konnten (z. B. streichelbare Hunde) und die für das Spiel von Bedeutung waren (z. B. Soldaten). Auch Nicht-Spieler/innen schätzten die Rekonstruktion der Stadt anhand von Screenshots als sehr realistisch ein. Die Ergebnisse der Studie bestätigen dabei die Nützlichkeit der von Giere entwickelten theoretischen Ansätze und des Indexes der allgemeinen Realismuseinschätzung, mit dem er arbeitet. Er hält fest: „Je stärker die Nutzer das Produktversprechen der Bewerbung ,die Wahrheit hinter dem grausamsten Krieg der Geschichte der Amerikanischen Revolution erfahren zu haben‘, als erfüllt ansehen, desto realistischer schätzen sie die historischen Repräsentationen von Assassin‘s Creed® III ein“ (S. 347). Giere kann zeigen, dass die Vorbildung nur einen moderaten Einfluss darauf hat, ob Spieler/innen die gespielte Szene kritisch wiedergeben oder ob sie bei der Frage nach den realen Ereignissen die Erzählung des Spiels übernehmen. Alle Studienteilnehmer/innen übernahmen Informationen aus dem Spiel bezüglich des Aussehens der historischen Stadt und 43 Prozent der Treatment-Gruppe die spielweltliche Abfolge der „Boston Tea Party“. Mithilfe von manipulierten Screenshots aus dem Spiel, in denen Anachronismen eingebaut wurden, kann Giere zeigen, dass die Studienteilnehmer skeptischer bezüglich der Gesamtdarstellung des Spiels werden, nachdem sie einen Anachronismus erkannt haben. Die in Gieres Studie teilnehmenden Masterstudierenden des Fachs Geschichte zeigten sich skeptischer gegenüber der historischen Erzählung des Spiels als die Erstsemesterstudierenden. Die kritischeren Teilnehmer/innen reflektierten auch ihr eigenes Vorwissen zu der „Boston Tea Party“ stärker. Giere stellt daraufhin fest, dass für zukünftige Studien eine Ausdifferenzierung des Indikators „Reflexion des Vorwissens“ wünschenswert wäre.
Zuletzt fasst er zusammen, welche Implikationen für historisches Lernen im Digitalen aus der Studie ableitbar sind. Er gibt einen wertvollen Überblick, wie die Ergebnisse der Studie gewinnbringend für die Geschichtsdidaktik an Schulen eingesetzt werden können, und fokussiert insbesondere die Reflexionsfähigkeit der Lernenden in Bezug auf eigenes Vorwissen, Rekonstruktionsmöglichkeiten von Vergangenem und dem Konstruktcharakter von Geschichte im Allgemeinen.
Gieres Studie ist ein begrüßenswerter Ansatz, die Wirkung von digitalen Spielen auf historisches Wissen und das Verständnis von Geschichte bei Spieler/innen empirisch zu untersuchen. Ihre große Stärke liegt vor allem in der stringenten Erarbeitung eines theoriegeleiteten Modells, das auf einer fachlich herausragend breiten Basis aufgebaut wird. Wie Giere selber bemerkt, ist die von ihm ausgewählte Stichprobe nicht geeignet, um weitgreifende Aussagen zu machen, und auch „Assassin‘s Creed III“ kann nur für eine bestimmte Kategorie von Spielen repräsentativ sein. Mehr kann eine im Rahmen einer Dissertation durchgeführte Studie jedoch auch nicht leisten, insbesondere da ein arbeitsaufwendiger Mixed-Methods-Ansatz gewählt wurde. Kleinere methodische Unsicherheiten zeigen sich im Umgang mit den statistischen Methoden. Da die Ergebnisse jedoch vorsichtig interpretiert werden, schmälern diese den Gesamtwert des Buches nicht. Die Nachvollziehbarkeit der Berechnungen im Sinne der Open-Science-Bewegung wäre nur über die empfehlenswerte Veröffentlichung der Datenbasis möglich gewesen. Die Ergebnisse stellen nichtsdestotrotz wichtige erste Erkenntnisse eines bis dato nicht empirisch untersuchten und drängenden Forschungsfeldes dar. Dem Autor ist eine wichtige Grundlagenarbeit gelungen. Es wäre wünschenswert, dass dieser Ansatz in vielfacher Weise rezipiert und weitergeführt wird.