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Titel
Die Hitlerjugend. Geschichte einer überforderten Massenorganisation


Autor(en)
Postert, André
Erschienen
Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
458 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lisbeth Matzer, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

André Postert vergleicht in seinem Buch die Idealvorgaben der Reichsjugendführung (RJF) mit den davon abweichenden Realitäten der Hitler-Jugend-Praxis.1 Seine Kernthese, dass HJ-Propaganda und Wirklichkeit stark auseinanderklafften, ist dabei etwas, das schon in früheren Forschungen benannt wurde.2 Nichtsdestotrotz sind die aufgeworfenen Fragen nach der Vielfalt jugendlicher Lebensrealitäten, nach Handlungsspielräumen innerhalb der „Volksgemeinschaft“ und nach dem individuellen Verhalten in und gegenüber der Hitler-Jugend Teil eines aktuellen Forschungstrends, der vor allem biographische Einzelstudien befördert (hat). Während Postert viele dieser Werke rezipiert, legt er den Fokus aber neben Egodokumenten und Interviews auf eine Fülle von regionalen und lokalen HJ-internen Quellen. Dadurch zeigt er Abweichungen von der propagierten Norm in breiterem Rahmen auf.

Sein Fokus liegt auf der männlichen Jugend zwischen 10 und 18 Jahren, vereinzelt liefert er aber Exkurse zur weiblichen Jugend, die allerdings für daran Interessierte nur schwer zu finden sind. Geographisch liegt der Schwerpunkt auf den Kerngebieten des „Dritten Reiches“ – dem „Altreich“ in den Grenzen bis 1938 –, wobei er zwar vereinzelt Quellen aus dem heutigen Österreich für seine Argumentation berücksichtigt, diese allerdings nicht korrekt oder ausreichend kontextualisiert (S. 155f., 164–166, 271, 285). Ebenso fehlen differenzierte Ausführungen dazu, wie die Hitler-Jugend ihre Praktiken in anderen nach 1933 „heimgeholten“ Gebieten wie dem Saarland ab 1935, der „Ostmark“ ab 1938 und den verschiedenen Besatzungs- und Annexionsgebieten in Ost-, Süd- und Westeuropa adaptierte. Dies ist zwar unter Ablehnung des Anspruchs auf Vollständigkeit (S. 21) legitim, hätte aber einen noch stärkeren Blick auf die anvisierten Graubereiche und Freiräume innerhalb der Jugendorganisierungspraxis ermöglicht.

Hauptkapitel I beschäftigt sich mit dem Übergang von Parteijugend zur staatlichen Jugendorganisation mit allumfassenden Anspruch. Dabei zeigt Postert anhand vieler Einzelbeispiele, dass es sich beim strukturellen Aufbau und der Konsolidierung der Hitler-Jugend unter Überführung und Auflösung anderer, konkurrierender Jugendorganisationen um einen mehrjährigen Prozess handelte. Auch das zwischen Konflikt und Kooperation wechselnde Verhältnis von Hitler-Jugend und Kirchen (S. 61–87) sowie Schule und Hitler-Jugend (S. 99–113) zeichnet er hier nach, konzentriert sich aber primär auf die Zeit bis Kriegsbeginn 1939.

Das zweite Hauptkapitel des Buches beginnt mit Ausführungen zum attestierten „prekären“ Charakter der Hitler-Jugend – ein Urteil, dass Postert zusammen mit den Begriffen „fragil“ und „defizitär“ schon in der Einleitung als Definition der NS-Jugendorganisationen festhält (S. 19f.), allerdings weder als roten Faden für das Buch nutzt noch in der „Bilanz“ aufgreift. Hauptkapitel II rückt davon ausgehend Abweichungen vom propagierten Idealbild der RJF stärker ins Zentrum, wobei der Autor viele Beispiele für Veruntreuung und Korruption oder undiszipliniertes Verhalten wie Vandalismus liefert. Etwas zu reißerisch widmet er sich „unsittlichem Verhalten“ Jugendlicher – besonders im Kontext von Homosexualitätsvorwürfen oder nicht näher definierten anderen sexuellen Handlungen von HJ-Mitgliedern –, ohne dies jedoch beispielsweise mit den Erkenntnissen von Dagmar Herzog in Beziehung zu setzen.3 Bei der Diskussion um Ideologie im HJ-Alltag (S. 194–196) wäre eine Rezeption von Standard-Erkenntnissen zu Wirkweisen der HJ-Pädagogik wünschenswert gewesen.4 So hätte auch die Relevanz der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und der Teilnahme von HJ-Angehörigen an der Verfolgung von Jüdinnen und Juden im hier etwas brüchigen roten Faden des Buches deutlich gemacht werden können. Dafür liefert Postert aber informative Details zur HJ-Heimbeschaffungspraxis im Spannungsfeld von Propaganda und pragmatischer Realität (S. 234–249) und gibt Einblicke in ebenso divergierende Praktiken der HJ-Lagergestaltung (S. 262f., fortgesetzt auf S. 362–365).

Kapitel II beendet Postert mit dem Subkapitel 5, das inhaltlich in den dritten Hauptteil und dessen ersten Abschnitt zum Themenkomplex Freiwilligkeit und Zwang im Kontext der 1939 im „Altreich“ eingeführten Jugenddienstpflicht5 übergeht. Hier zeigt Postert, dass mit der formalen Aufnahme nicht automatisch auch eine (regelmäßige) Teilnahme an HJ-Aktivitäten verbunden war (S. 258–260). Die verschiedenen in Reaktion darauf etablierten Strategien zur Steigerung der Teilnahme – von der Koppelung der HJ-Mitgliedschaft an die Ausgabe von Lebensmittelkarten bis hin zu Strafdrohungen und Jugendarrest – werden daran anschließend erläutert. Das Spannungsfeld zwischen Hitler-Jugend und dem häufig unter „Jugendopposition“ zusammengefassten Spektrum jugendlicher Freizeitaktivitäten einerseits (S. 323–378) und die Frage nach der „Freiwilligkeit“ der Mitgliedschaft in der Hitler-Jugend und NSDAP gegen Ende des Zweiten Weltkrieges (S. 393–408) andererseits bilden die inhaltlich wichtigsten Bestandteile dieses Kapitels. Beide Aspekte schildert Postert ausführlich und informativ, wobei ihm gelingt, verschiedene Forschungskontroversen für Lesende aufzubereiten, ohne ein pauschales Urteil vorzugeben.

Unter „Bilanz“ erfahren Leser/innen Neues über den Umgang mit ehemaligen HJ-Mitgliedern unter alliierter Besatzung sowie über die Versuche der Besatzungsmächte zur jugendlichen Reeducation (S. 409–421) und den Transfer von HJ-Personal und Strukturen in die Freie Deutsche Jugend der DDR (S. 419–420). Die schon in der Einleitung dargelegte Kritik am verbreiteten Mythos einer totalen, unausweichlichen Hitler-Jugend greift Postert hier erneut auf, indem er darlegt, dass ebendiese Mythenbildung als Rechtfertigungsstrategie ehemaliger HJ-Mitglieder in der frühen Besatzungszeit ihren Ausgang nahm (S. 415, 418). Trotzdem findet sich am Ende der „Bilanz“ eine Zeitzeugen-Aussage über die angeblich primär „kulturellen“ Ausprägungen der Jugendarbeit (S. 421) – eine gängige Entschuldungsstrategie post-1945, die entsprechend dekonstruiert werden müsste. Während er in dieser Tradition stehende Autobiographien zwar vereinzelt als Quellen heranzieht, hätte das Buch gerade von einer analytisch-vergleichenden Auseinandersetzung mit diesen narrativen Strategien in einem separaten Kapitel profitiert.

Vermutlich durch den Anspruch, so viele der gesichteten Quellen wie möglich im Buch zu Wort kommen zu lassen, verliert man sich leicht in den teilweise zu stark aneinandergereihten Einzelbeispielen. Ohne ausreichend Vorwissen über die Hitler-Jugend sowie die in ihrer Geschichte relevanten Zäsuren (1933 – 1936 – 1938 – 1939) fällt es deshalb schwer, sich in der Fülle der präsentierten Details zu orientieren. Dies wird durch die fehlende chronologische und inhaltlich kohärente Gliederung verstärkt. Auch wird es Lesenden auf weiten Strecken selbst überlassen, die dargelegten Quellenbeispiele und Ausführungen beispielsweise zu den Kriegseinsätzen (S. 300–323) oder den Maßnahmen zur (gewaltvollen) Umerziehung (S. 378–383) in die Zielvorgaben des Buches einzuordnen. Im Weiteren hätte das Werk auch in Hinblick auf den Belegapparat und der nicht durchgehend vorhandenen sprachlichen Differenziertheit noch von einem zusätzlichen Lektorat profitiert, damit nicht NS-Begriffe wie beispielsweise „Jugendschutzlager“ undifferenziert reproduziert (S. 379f., 389) oder besetzte Gebiete einfach als „Ostgebiete“ (S. 289) subsummiert werden, während jede Form der Erklärung oder Kontextualisierung ausbleibt (S. 289f., 340).

Als Einstieg in die HJ-Geschichte eignet sich das Buch somit weniger. Für Lesende mit entsprechendem Vorwissen über die NS-Jugendorganisationen, deren prinzipielle Funktionsweisen und Hintergründe bietet es aber bei aufmerksamem Lesen interessante Einsichten und sicher gewinnbringende Anknüpfungspunkte – besonders für weitere Forschungen mit lokalen, regionalen oder geographisch übergreifenden Schwerpunkten. Immerhin zeigt Postert, dass Vorgaben und Ideal der RJF nur selten der Praxis vor Ort entsprachen, und liefert so einen weiteren Beleg für die Vielfältigkeit der Lebensrealitäten und Handlungsspielräume Jugendlicher im Nationalsozialismus.

Anmerkungen:
1 Im Gegensatz zur aus Sicht der Rezensentin unklaren Benennungspraxis des Autors wird in dieser Rezension Hitler-Jugend als Sammelbegriff für die alle Jungen und Mädchen zwischen 10 und 18 Jahren umfassende Organisation verwendet, was auch der gängigen Diktion der RJF entsprach. Auch lehnt die Rezensentin die Bezeichnung „Bewegung“ für die Hitler-Jugend ab.
2 Arno Klönne, Widersprüche der HJ-Sozialisation, in: Ulrich Herrmann (Hrsg.), „Die Formung des Volksgenossen“. Der „Erziehungsstaat“ des Dritten Reiches, Weinheim 1985, S. 206–215. Auch rezente Ausstellungen vermitteln diese Erkenntnisse bereits, bspw. Jugend im Gleichschritt!? Die Hitlerjugend zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Wanderausstellung und Web-App des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, Köln 2016, URL: <https://museenkoeln.de/ns-dokumentationszentrum/default.aspx?s=2368#> (15.09.2021).
3 Dagmar Herzog, Hubris and Hypocrisy, Incitement and Disavowal: Sexuality and German Fascism, in: dies. (Hrsg.), Sexuality and German Fascism, New York 2005, S. 1–21.
4 Gisela Miller-Kipp, „Totale Erziehung“ im nationalsozialistischen Deutschland. Die Hitler-Jugend, in: Klaus-Peter Horn u.a. (Hrsg.), Pädagogik im Militarismus und im Nationalsozialismus. Japan und Deutschland im Vergleich, Bad Heilbrunn 2006, S. 207–226; Kathrin Kollmeier, Erziehungsziel „Volksgemeinschaft“ – Kinder und Jugendliche in der Hitler-Jugend, in: Klaus Peter Horn u.a. (Hrsg.), Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011, S. 59–79.
5 In der „Ostmark“ wurde die Jugenddienstpflicht erst 1941 eingeführt, was Postert wiederholt nicht berücksichtigt, wenn er Quellen aus dem Gau Oberdonau rezipiert (S. 271, 285).

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