Lange Zeit herrschte die Vorstellung, der Kalte Krieg sei so etwas wie ein totaler Krieg gewesen, wenn schon kein realer Krieg, dann aber eine totale mentale Mobilmachung der Menschen. Er sei gleichsam durch alle Poren in die Gesellschaften eingesickert. Bahnbrechende Arbeiten wie die von Tony Smith, Odd Arne Westad und manchen anderen haben jedoch seit der Jahrtausendwende deutlich gemacht, dass ein Kalter Krieg gerade im globalen Süden ausgetragen wurde und dort auch in vielen „heißen“ Kriegen eine Vielzahl der Toten im Vergleich zum Norden zur Folge hatte. Es gab neben den Konflikten auch Kooperation und weitgehend von diesem Grundkonflikt freie Gebiete.
In diesen Trend schreibt sich der in der Schweiz aufgewachsene, an der McGill University in Montreal lehrende Lorenz Lüthi ein. Auch er möchte zum „decentering“ (wenn auch nicht zum „provincializing“, Chakrabarty) von Europa beitragen. Das geschieht auf mehrere Weisen. Zunächst einmal ist es die im Titel genannte Pluralität unterschiedlicher Kalter Kriege. Sodann ist es die unterschiedliche Dauer einzelner Kalter Kriege und schließlich sind es auch die je anderen Akteure und Problemlagen, die verhandelt und ausgetragen wurden. Das geschieht in insgesamt 24 Kapiteln von jeweils knapp über zwanzig Druckseiten, gebündelt in wiederum sieben Teile, die zusammenfassend bündig eingeleitet werden. Am Anfang steht Asien, vorgeführt anhand von China, Vietnam und Indien. Dann kommt der Mittlere Osten, ebenso in drei Kapiteln zentriert um den israelisch-arabischen Konflikt im Zeitablauf. Und erst in Kapitel 14 ist Europa „between the Superpowers“ dran. „The Cold War occurred in multiple incarnations at different levels in the international system and at different geographical areas of the world.” (S. 4) Dieser Ansatz ermöglicht es Lüthi wiederum, die jeweiligen regionalen Akteure in den Blick zu nehmen, die oft seit Jahrzehnten begründete eigene Konflikte aus ihren genuinen eigenen Interessen wahrnahmen und austrugen. „Unrelated“, also: nicht mit dem zentralen Kalten Krieg zusammenhängend, ist eines der Lieblingsattribute des Autors. Das verspricht spannende Erörterungen, statt Top-down also Bottom-up?
Das ist nur bis zu einem gewissen Grade zutreffend, denn auch die regionalen Akteure sind bei Lüthi die alten oder sich neu bildenden Staaten und ihre führenden Politiker, die in unterschiedlicher Form „agency“ haben bzw. traditionell gesprochen: Macht- und Statuspolitik betreiben, untereinander Konflikte haben, verhandeln, vereinbaren oder zu Gewalthandeln übergehen. Insgesamt entsteht so eine eher an traditionellen Maßstäben orientierte Diplomatiegeschichte, die auf einer staunenswerten Breite an Material beruht. Lüthi hat zu fast allen Kapiteln und Aspekten eigene Archivstudien betrieben – von denen der Deutschen Demokratischen Republik über China bis hin zu Australien; er weist darüber hinaus eine Fülle an Forschungsliteratur bis hin zu älteren Aufsätzen nach.
Diplomatiegeschichte heißt auch, dass auf der Ebene der globalen Auseinandersetzung nicht etwa Strukturen wie Bi- oder Tripolarität wichtig sind, sondern nach wie vor die „Big Three“ des Zweiten Weltkrieges und der Kriegskonferenzen USA, Großbritannien und die Sowjetunion, denen auch nach einem ersten Überblick über die Zeit seit dem „high imperialism“ die ersten Kapitel gewidmet sind. Was auf diese Weise deutlich wird, ist ein dichtes Geflecht von Abhängigkeiten und Interaktionen, in dem auf Schritt und Tritt Neues geboten wird, zupackende Interpretationen kleinerer und mittlerer Reichweite, welche die Diskussion über jedes Einzelthema weiter beschäftigen werden; das ist durchweg anregend, für den Rezensenten, der nicht immer mit umfassenden Detailkenntnissen wie Lüthi aufwarten kann, auch überraschend und manchmal fragwürdig. Lüthi hat schon lange maßgeblich zu China publiziert, sieht in der Volksrepublik einen weltrevolutionären Anspruch, der sich Anfang der 1960er-Jahre bis zur Vorstellung zeigte, eine alternative Weltorganisation um die Bündnisfreien zu schaffen. Das trat mit und nach Nixon in China 1972 in den Hintergrund, allerdings war die Volksrepublik beim Vietnamkrieg 1979 weiterhin auf Vorherrschaft aus. Die Vielfalt vietnamesischer Ansätze, auch innerhalb des Nordens, wird ebenso gezeigt wie der vietnamesische, über den Sieg im Krieg 1975 hinausreichende revolutionäre Anspruch. Für Indien erstrebte Nehru schon 1945 einen permanenten Sitz im Weltsicherheitsrat, einen Anspruch auf Weltmacht, der sich durch die Zeit modifiziert weiter manifestierte. Besonders kompliziert erscheint der Mittlere Osten. Trotz der diversen arabisch-israelischen Kriege scheinen wiederholt frühe Friedenschancen auf, die nicht wahrgenommen wurden. Besonders erhellend ist die Herausarbeitung dreier alternativer „world visions“ (besser wohl: Integrationsversuche): der asiatisch-afrikanische Internationalismus, die Bündnisfreien und die der Pan-Islamischen, die sich je überlappten, aber mehr oder weniger alle gescheitert seien. Das wird am Maßstab der Beschlüsse und Konferenzen belegt.
Lüthi hatte schon in Kapitel 2 Großbritanniens europäische Rolle mit erwähnt und als eine der Großen Drei diskutiert, das seine Weltmachtstellung vor allem auf den arabischen Raum gegründet habe, inklusive der Arabischen Liga. Das lässt sich füglich bezweifeln, denn die USA waren durch Versorgungsbasen im Weltkrieg, dann durch Erdölinteressen mindestens ebenso früh engagiert. Für „Europa zwischen den Supermächten“ wird zwar die wichtige Rolle von Atomwaffen für die USA und Sowjetunion herausgearbeitet, sie erscheinen jedoch merkwürdigerweise nicht als kategorial wichtig. In zwei weiteren Europakapiteln findet allein die wirtschaftliche Integration statt, im Westen geglückt, im Rahmen des US-Imperiums „by invitation“ (Lundestad), im Gegensatz zum Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) der Sowjetunion „by imposition“, jedenfalls wirtschaftlich versagend, sodass ab Anfang der 1980er-Jahre einige seiner Staaten sich immer mehr im Westen verschuldeten – damit sei dort der Kalte Krieg zu Ende gewesen. Diesem Kapitel voraus ging ein Deutschlandkapitel und eines zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), welche eben diese Entwicklungen vorbereiteten. Insgesamt scheint mir diese starke Betonung der ökonomischen Integration Europas im Kalten Krieg zu kurz zu greifen. Ein eigenes Kapitel ist dem Vatikan gewidmet, dessen Ostpolitik mehrfach zur bundesrepublikanischen parallel gesetzt wird.
Umgekehrt werden gerade für den Mittleren Osten die wirtschaftlichen Strukturfragen, voran das Öl, nicht gesondert thematisiert, sondern fließen am Rande in die machtpolitischen Konkurrenzen ein. Hier sieht Lüthi dann auch einen regionalen Kalten Krieg der Weltmächte, der jedoch für ihn nur von 1964 bis 1979 stattgefunden hat. Die bleibenden Konflikte, voran um Palästina, reichten über die Jahrzehnte nach 1990 weiter, wurden aber von den Supermächten fälschlich noch als Kalter Krieg wahrgenommen. Diese merkwürdige Figur eines Endes des Kalten Krieges bei einer gleichzeitig mangelnden Wahrnehmung bei den Protagonisten taucht auch an anderen Stellen auf. Einleuchtend erscheint dabei, dass die intensive Auseinandersetzung der „Großen Drei“ an unterschiedlichen Stellen zu verschiedenen Zeiten die regionalen Konflikte überlagerte und bestimmte. Insgesamt scheiterten nach Lüthi Großbritannien und die Sowjetunion jeweils als Großmächte, die Ersteren im Mittleren Osten, Letztere ein paar Jahrzehnte später mit ihrem Herrschaftsmodell, weil sie den Widerstand in den Regionen falsch eingeschätzt hätten. Auch die USA hätten diese Konflikte gehabt, jedoch ein wenig besser überstanden.
Es ist diese Mischung von großer weltpolitischer Deduktion und genauen und komplexen Studien regionaler Entwicklungen, welche Lüthis Buch zu einem bedeutenden Referenzwerk macht. Sie ist anregend, reizt aber gerade in den allgemeinen Deduktionen zum Widerspruch. Zu betonen ist schließlich, dass hier kein Anspruch auf globale Geschichte erhoben wird, sondern einer für die drei Weltregionen Asien, Mittelost und Europa. Lateinamerika wie vor allem Afrika kommen nur peripher als Akteure vor – und deren Einbeziehung hätte auch für das gesamte Bild starke andere Akzente bringen können. Dekolonisierung kommt als einer der Leitbegriffe wiederholt vor, Entwicklung höchstens am Rande; die strukturellen Probleme wie Finanzen, Wirtschaft, Militär, ebenso Umwelt oder Religion (als spiritueller Faktor) fließen bestenfalls am Rande ein. All dies wirft bis in die Gegenwart viele weitere Fragen auf, wird jedoch mit diesem im Kern machtpolitischen Ansatz wohl zu wenig entfaltet.