Titel
Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954. Vergangenheitspolitik in der Nachkriegszeit


Autor(en)
Schuster, Armin
Reihe
Veroeffentlichungen der Historischen Kommission fuer Nassau, 66; Vorgeschichte und Geschichte des Parlamentarismus in Hessen, 29
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 438 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Schael, Seminar für Mittlere und Neuere, Geschichte Universität Göttingen

Als Lutz Niethammer im Jahr 1972 seine wegweisende Studie ueber die "Entnazifizierung in Bayern" veroeffentlichte, fand sie ausserhalb der akademischen Fachzirkel nur wenig Aufmerksamkeit. Dies sollte sich aendern, als das Buch 10 Jahre spaeter erneut erschien - unveraendert, aber mit einem neuen Titel: "Die Mitlaeuferfabrik" 1. Diese Wortschoepfung gehoert sicherlich zu den "erfolgreichsten" der bundesdeutschen Zeitgeschichtsforschung und ist auch denjenigen ein Begriff, die das umfangreiche Werk Niethammers nicht gelesen haben. Treffend charakterisiert sie den mit einem grossen buerokratischen Aufwand begonnenen Versuch, jeden erwachsenen Bewohner der US-Zone auf den Grad seiner Beteiligung am NS-Regime zu ueberpruefen und gegebenenfalls zu bestrafen. Im Zeichen des Kalten Krieges und der Westintegration der Bundesrepublik wandelte sich dieses politische Saeuberungsverfahren jedoch in eine sich immer schneller drehende Rehabilitierungsmaschinerie, welche fast ausnahmslos die kleineren und groesseren braunen Flecken aus den Lebenslaeufen der Ueberprueften wusch.

Mit der Zeit erschienen weitere Arbeiten zur Entnazifizierungspraxis - insbesondere auch zur jener in den anderen Westzonen -, welche die Ergebnisse Niethammers modifizierten bzw. in wichtigen Punkten ergaenzten, sie jedoch in ihren Grundaussagen nicht revidierten 2.

Ein anderer Begriff, der in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren "Karriere" machte, gab der 1996 veroeffentlichten Habilitationsschrift Norbert Freis den Namen und lautet: "Vergangenheitspolitik" 3. Getragen, aber auch getrieben vom Erwartungsdruck der ueberwiegenden Mehrheit der westdeutschen Bevoelkerung, fasst diese Bezeichnung ein ganzes Buendel von Amnestie- und Reintegrationsmassnahmen der fruehen Bundesrepublik zusammen, in deren Folge nicht nur das Millionenherr der Entnazifizierungs-"Mitlaeufer", sondern sogar verurteilte Kriegsverbrecher und ueberzeugte NS-Taeter in ihren sozialen und beruflichen Status quo ante versetzt wurden. Die Bedingung fuer die zugestandene Reintegration bestand jedoch in dem Verzicht darauf, sich - zumindest oeffentlich - in irgendeiner Form zur nationalsozialistischen Ideologie zu bekennen.

Freis Arbeit kommt mithin das Verdienst zu, die in der Forschung zu verzeichnende Engfuehrung auf die Saeuberungspolitik des Besatzungs-Kondominiums ueberwunden und gezeigt zu haben, wie sehr das Bemuehen, die Folgen dieser Politik zu beseitigen, das legislative und administrative Handeln bestimmte und somit die politische Kultur des jungen Staates entscheidend praegte.

Armin Schuster waehlt mit Hessen ein Bundesland zum Gegenstand seiner Dissertation, das zur amerikanischen Besatzungszone gehoerte. Obwohl es neben der Studie Niethammers mittlerweile eine Reihe weiterer Arbeiten gibt, die sich mit diesem Besatzungsgebiet beschaeftigt haben, erhebt Schuster dennoch den Anspruch, "wesentliche Unterschiede zu den bisherigen Forschungsergebnissen ueber die Entnazifizierung in der US-Zone" (S. 12) ermittelt zu haben. Um es vorweg zu nehmen: Schuster kann dieses Versprechen in keiner Weise einloesen. Dies liegt zum einen an seinem methodischen Vorgehen, zum anderen an der Nichtberuecksichtigung wesentlicher Forschungsergebnisse.

Schuster stuetzt sich nahezu ausschliesslich auf die Bestaende des Hessischen Hauptstaatsarchivs in Wiesbaden, d. h. vor allem auf das Aktenmaterial der verschiedenen Ministerien und Behoerden sowie der Nachlaesse einiger hessischer Politiker. Die Arbeit erschoepft sich somit weitgehend in der Darstellung und Interpretation der verschiedenen Direktiven, Verordnungen und Gesetze aus der "Vogelperspektive" der beteiligten politischen Akteure. Die Lebenssituation der betroffenen Menschen geraet dadurch allerdings nicht in den Blick, so dass auch nicht verstaendlich wird, warum die Entnazifizierung so schnell und so nachhaltig unpopulaer wurde und damit der Druck auf die politische Elite staendig wuchs, dem Ganzen rasch ein Ende zu bereiten.

Schuster haelt sich in seiner Darstellung weitgehend an den chronologischen Verlauf der Ereignisse: Nach einem kurzen Abschnitt ueber die deutschlandpolitischen Konzepte und Vorstellungen, die der politischen Saeuberung angeblich zu Grunde lagen, folgt die Beschreibung der zunaechst rigorosen amerikanischen Entlassungspolitik, von der insbesondere der oeffentliche Dienst betroffen war. Anschliessend werden eingehend die Entstehung, Verabschiedung und Novellierung des bekannten Befreiungsgesetzes behandelt, welches zur deutschen Beteiligung am Saeuberungsverfahren ueber das Spruchkammersystem fuehrte. Zwei eingeschobene Kapitel befassen sich mit der Organisation und der personellen Besetzung des Befreiungsministeriums sowie der hessischen Spruchkammern. Zum Abschluss erfolgt die Darstellung der diversen staatlichen Anstrengungen, die Entnazifizierung abzuwickeln, nachdem diese vollstaendig in deutsche Verantwortung uebergegangen war.

Diese Verlaufsform der politischen Saeuberung, die auftretenden Probleme bei der praktischen Durchfuehrung, das Gerangel zwischen Amerikanern und Deutschen um Formulierungen und Durchfuehrungsbestimmungen und auch die statistischen Daten ueber das Ausmass der Ueberpruefungen sind zu einem ueberwiegenden Teil bereits bestens bekannt und weisen keine grossen Abweichungen im Vergleich zu den anderen Laendern der US-Zone auf. Selbst Schuster muss im Verlauf seiner Untersuchung bilanzieren, dass sich mit der Zeit auch die hessischen "Spruchkammern endgueltig in ‚Mitlaeuferfabriken'" (S. 175) verwandelten.

Warum er dann allerdings im Resuemee seiner Arbeit zu der Einsicht gelangt, dass fuer Hessen das "Diktum einer ‚Mitlaeuferfabrik' [...] zurueckgewiesen werden muss" (S. 418) und das Land bei der Entnazifizierung "ueber ein eigenes Profil" (S. 420) verfuegt habe, bleibt mehr als unverstaendlich. Die von Schuster hervorgehobenen hessischen Besonderheiten, wie ein hohes Mass an personeller Kontinuitaet in der Besetzung der zustaendigen politischen Aemter, das gute gesellschaftliche Verhaeltnis des Befreiungsministers Gottlob Binders und seines Stellvertreters Karl-Heinrich Knappsteins mit ihren amerikanischen Verhandlungspartnern oder die etwas andere Organisationsstruktur des Befreiungsministeriums rechtfertigen diese Schlussfolgerungen jedenfalls nicht.

Foerdert die Arbeit nichts wesentlich Neues zu Tage, deutet der letzte Punkt an, was die Lektuere des Buches ueber eine weite Strecke zu einem Aergernis werden laesst: Die Widersprueche, Ungereimtheiten und Fehleinschaetzungen, die vor allem auf die Unkenntnis bzw. Nichtberuecksichtigung wesentlicher Forschungsertraege zurueckzufuehren sind:

Erwartet der Leser beispielsweise einen Beitrag zum Thema Vergangenheitspolitik in der Nachkriegszeit, wie es ihm der Untertitel verspricht, so sieht er sich getaeuscht: Weder im Text noch in den Fussnoten (oder im Literaturverzeichnis) findet sich ein Hinweis auf die Arbeit Freis bzw. findet eine Auseinandersetzung mit dieser oder aehnlich konzipierten Arbeiten statt.

Folgerichtig verkennt Schuster die in der Nachkriegszeit vorherrschende Bereitschaft zur grosszuegigen Pardonierung NS-belasteter Bevoelkerungskreise. Nur so kann er zu den unhaltbaren Feststellungen kommen, die von den Spruchkammern ermittelte "Quote der Schuldigen" sei im Endergebnis "realistisch" (S. 419) oder der Rueckstorm ehemaliger NSDAP-Mitglieder in den oeffentlichen Dienst "gering" (S. 413, vgl. auch S. 175 ff.) gewesen.

Aehnlich verhaelt es sich in dem Abschnitt ueber das Deutschlandbild der Amerikaner, wo Schuster die alte Behauptung wiederholt, der Saeuberungspolitik habe die "Maxime der Kollektivschuld" (S. 23) zu Grunde gelegen. Schon vor langer Zeit hat die Forschung die Kollektivschuld-These ins Reich der Legenden verwiesen und gezeigt, dass sie nie ein Bestandteil der alliierten Politik gegenueber Deutschland gewesen ist. Nichtsdestotrotz wurde (und wird) dieser Vorwurf von deutscher Seite gerne aufgegriffen, bot er doch die ideale Gelegenheit, sich als Opfer voellig ueberzogener Anschuldigungen zu stilisieren und weitere Saeuberungsaktivitaeten zu delegitimieren.

Es liessen sich weitere Beispiele dieser Art anfuehren, so dass die vorliegende Arbeit, insgesamt gesehen, nur einen sehr begrenzten Wert fuer die wissenschaftliche Erkundung des bundesdeutschen Umgangs mit der NS-Vergangenheit hat.

Anmerkungen:
1 Lutz Niethammer: Die Mitlaeuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns. 2. Auf., Bonn 1982 (zuerst: Frankfurt a. M. 1972 u. d. T.: Entnazifizierung in Bayern. Saeuberung und Rehabilitierung unter amerikanischer Besatzung).
2 Anders als im Westen diente die Entnazifizierung in der sowjetischen Zone unter anderem als ein Mittel zur geplanten gesellschaftlichen Umstrukturierung bzw. zur Bekaempfung politischer Gegner der SED-Herrschaft. Letztendlich wurde aber auch hier die Integration der NS-Anhänger vorangetrieben. Vgl. u. a.: Damian van Melis: Entnazifizierung in Mecklenburg-Vorpommern. Herrschaft und Verwaltung 1945-1948. Muenchen 1999.
3 Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfaenge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. Muenchen 1996.

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