Titel
Als Kind verfolgt. Anne Frank und die anderen


Herausgeber
Hansen-Schaberg, Ingeborg
Erschienen
Anzahl Seiten
291 S
Preis
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Petra Götte, Erziehungswissenschaftliche Fakultät, Seminar für Pädagogik, Universität zu Köln

Der von Inge Hansen-Schaberg herausgegebene und eingeleitete Sammelband „Als Kind verfolgt. Anne Frank und die anderen“ ist aus einer gleichnamigen Tagung hervorgegangen, die die Arbeitsgruppe „Frauen im Exil“ in der „Gesellschaft für Exilforschung e.V.“ im November 2003 in Leipzig veranstaltet hat. Das Buch versammelt 19 Beiträge (und zwei dokumentarische Anhänge), in denen sich die Autorinnen und Autoren mit der Situation von verfolgten Kindern und Jugendlichen in Deutschland, im Exil und in den annektierten und eroberten Ländern während der NS-Zeit befassen. Das besondere Augenmerk gilt dabei den schulischen bzw. allgemein den pädagogischen Verhältnissen.

Hierzu bietet der Band, nicht zuletzt durch seinen interdisziplinären Zugriff auf das Thema, einen informativen und facettenreichen Überblick. Dies macht ihn nicht nur für (Bildungs-) Historiker und Studierende interessant, sondern auch für einen an der Auseinandersetzung mit der Shoah interessierten nichtwissenschaftlichen Leserkreis, zumal die Aufsätze durchweg kompakt und gut lesbar sind. Das besondere Verdienst der Beiträge ist es, die spezifisch kindlichen Erfahrungen und Deutungen von Ausgrenzung und Verfolgung, von Entwurzelung und Akkulturation herausgearbeitet zu haben. Es ist dies nämlich eine Perspektive, die in der wesentlich auf erwachsene Verfolgte konzentrierten Holocaust- und Exilforschung bislang vergleichsweise wenig beachtet worden ist. Anzumerken ist allerdings, dass die Beiträge, in denen das Thema auch theoretisch und methodisch reflektiert wird, in der Minderzahl sind.

Untergliedert ist der Sammelband in drei große Kapitel. Im ersten Teil, der mit „Verfolgung – Das Ende der Kindheit“ überschrieben ist, steht das Thema Flucht und Exil im Mittelpunkt. Hier befasst sich Gudrun Maierhof mit der Arbeit der Abteilung Kinderauswanderung in der Reichsvertretung/Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in den Jahren 1934 bis 1941. Von der Einrichtung der Abteilung, über ihre Arbeitsweisen bis hin zum Auswanderungsverfahren schildert sie die Anstrengungen der Abteilung, möglichst vielen Kindern zur Flucht aus Deutschland zu verhelfen. Bis zum Verbot der Auswanderung im Jahre 1941 konnten mit Hilfe dieser Abteilung mehr als 7.000 Kinder und Jugendliche aus Deutschland flüchten.

Vor allem geht es in diesem ersten Kapitel des Buches um die erinnerten Erfahrungen von Menschen, die gezwungen waren, als Kinder aus Deutschland zu flüchten und – oftmals ohne ihre Eltern – im Exil zu leben. Dies war z. B. bei der 1927 geborenen Hanna Papanek der Fall. Sie schildert in ihrem Aufsatz „Exilkind: ... aus dem Garten vertrieben“ die Flucht- und Exilerfahrungen von Kindern. Dabei beschreibt sie – und dies geschieht im Rückgriff auf Eriksons Identitätsbegriff und sein Konzept der stufenweisen Identitätsentwicklung – auch ihre eigene Entwicklung unter den Bedingungen des Exils.

Unter die Rubrik Zeitzeugenberichte fällt auch ein Beitrag von Silvia Schlenstedt (geb. 1931). Sie lebte mit ihren Eltern im Exil, zunächst in Spanien, dann in Frankreich und gelangte schließlich in die Schweiz. Dort arbeitete ihr Vater als Lehrer und Betreuer in einem Heim für jüdische Flüchtlingskinder. Neben ihren eigenen Erinnerungen stützt sich Schlenstedt in ihrem Beitrag auf Briefe, die sich ihre Eltern seinerzeit geschrieben haben, sowie auf Berichte und Vorträge, die ihr Vater damals über seine Arbeit mit den Flüchtlingskindern verfasst hat. Es sind insbesondere die Berichte des Vaters, die einen dichten Eindruck vom Zustand der Flüchtlingskinder, aber auch von der pädagogischen Arbeit mit ihnen vermitteln. Aus der Perspektive eines einfühlsamen erwachsenen Beobachters (mit offensichtlich bürgerlichem Hintergrund) erfahren wir hier etwas über die verfolgten, traumatisierten Kinder und den Versuch der Erwachsenen, diese Kinder unter den bedrängten Bedingungen des Exils aufzufangen, zu versorgen und zu betreuen. Die zeitliche Nähe des Erlebten zum Berichteten macht die besondere Eindringlichkeit und Unmittelbarkeit der Schilderung aus.

Wünschenswert wäre es, wenn solche Zeitzeugnisse in gesammelter und publizierter Form zugänglich wären. In Birgit Schreibers Aufsatz stehen dann Jüdinnen und Juden, die die NS-Zeit als Kinder versteckt überlebten, im Zentrum der Betrachtung. Sie widmet sich damit einer Gruppe von Verfolgten, die bis heute weitgehend unbeachtet geblieben ist, wurde doch lange Zeit angenommen, diese Kinder hätten „scheinbar unbeschadet im Versteck überlebt“ (S. 66). Als ein Ergebnis ihrer Untersuchung hält Schreiber fest, dass die einst Versteckten ein „Leben auf zwei Ebenen“ oder, anders gesagt, eine „doppelte[...] Existenz“ führen (S. 69). Auf einer ersten Ebene hätten die Zeitzeugen ein „’gelungene[s]’ Leben“, etwa mit „berufliche[m] Erfolg“, „privater Zufriedenheit“ und einer Integration in die „nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft“ vorzuweisen. Auf der zweiten, bei Schreiber auch „Tiefenspur“ genannten Ebene, fänden sich die „noch immer spürbaren Verluste und virulenten Nachwirkungen früherer Traumatisierungen und zerstörter Kindheit, die Schuldgefühle und Schmerzen sowie ein bleibendes Verwundetsein“ (ebd.).

Unter dem Titel „Literarische und dokumentarische Zeugnisse und ihre Rezeption“ versammelt der zweite Teil des Buches zum einen Beiträge, die vornehmlich autobiographische, aber auch literarisch-fiktive Erinnerungen von Zeitzeugen vorstellen und reflektieren. Zum anderen finden sich hier rezeptionsgeschichtlich orientierte Aufsätze, wobei die Kontroverse um die Rezeption des Tagebuchs der Anne Frank im Vordergrund steht.

Wolfgang Benz konstatiert in seinem Beitrag, dass kein anderes Schicksal nach 1945 so sehr „durch naive Identifikation verinnerlicht worden“ sei wie das von Anne Frank (S. 99). Benz fragt, „wie repräsentativ, wie exemplarisch, wie lehrreich“ die Aufzeichnungen von Anne Frank seien und was ihr Tagebuch, abgesehen von der „Gefühlswelt eines jungen Mädchens in bedrängter Lage“, eigentlich erkläre (S. 106). Dies sei nämlich „im Grunde nicht viel“, so die Antwort von Benz – und genau das mache auch den Erfolg des Tagebuchs aus: „Der Transfer der Verfolgungssituation in die private Lebenswelt versteckter Verfolgter, bei der die Fakten millionenfachen Mordens nicht zur Handlungsebene gehören, erlaubt Annäherung ohne den existentiellen Schrecken, den Leser bei der Beschreibung von Erinnerungen an Ghetto, KZ und Vernichtungslager erfaßt“ (ebd.). Als Leserin dieser Zeilen fragt man sich allerdings etwas irritiert, ob denn eine Quelle, mithin ein „Ego-Dokument“, überhaupt repräsentativ oder exemplarisch sein kann, geschweige denn sein muss? Müssen Aufzeichnungen über die erlittene Verfolgung während der NS-Zeit dem Anspruch genügen, lehrreich zu sein? Und ist eine Annäherung an den „existentiellen Schrecken“ der damals Verfolgten überhaupt möglich? Ist das von Anne Frank beschriebene und gedeutete Leben in dem Amsterdamer Hinterhaus nicht „realistisch“, nicht Bestandteil der Verfolgung und des Völkermords?

Wolfgang Benz kritisiert, wie übrigens auch Laureen Nussbaum und Marion Siems, mit überzeugenden Argumenten die Instrumentalisierung Anne Franks für eine seichte Erinnerungskultur, die mehr verschleiert als offenbart. In Theaterstücken, Biographien und Verfilmungen sei Anne Frank zur Kultfigur stilisiert, zum Mythos avanciert und damit auch ein Stück weit trivialisiert worden (S. 107). Allerdings müssen sich Herausgeberin und Autoren des Bandes fragen lassen, ob man nicht mit der Wahl des Untertitels: „Anne Frank und die anderen“ genau diesem Mythos in gewisser Weise Vorschub leistet, indem man wieder einmal Anne Frank in den Vordergrund rückt und andere verfolgte Kinder und Jugendliche im anonymen, dadurch beliebig wirkenden Status „die anderen“ belässt. Innerhalb des Buches, dies sei hier betont, kann davon jedoch keine Rede sein. Dies macht die dort geführte Kontroverse um den Mythos Anne Frank deutlich wie auch die breite Darstellung anderer Lebensgeschichten.

Im Gegensatz zu Tagebüchern, Autobiographien und mündlich überlieferten Erinnerungen lässt die Etablierung von fiktionalen Texten als Quellen historischer und insbesondere bildungshistorischer Forschung bis heute weitgehend auf sich warten. Dabei stellen fiktionale Texte eine höchst ergiebige Quelle dar, und dies gilt auch, wenn es um die Erforschung der Verfolgung von Kindern bzw. um die spezifisch kindliche Erfahrung von Verfolgung geht. Der Gewinn fiktionaler Literatur für eine historische Forschung, die an subjektivem Erleben und dessen Verarbeitung interessiert ist, wird besonders im Beitrag von Marianne Kröger deutlich. Sie sucht in autobiographisch-fiktiver Literatur der US-amerikanischen Schriftstellerin Lore Segal nach den Spuren des Kindheitsexils. Lore Segal kam im Dezember 1938 als Lore Groszmann mit einem Kindertransport aus Wien nach Großbritannien. Über ihre Kindheit in Wien und über ihre Exilerfahrungen hat sie einen autobiographischen Roman verfasst, der 1964 unter dem Titel „Other people’s house“ zunächst in englischer Sprache und erst im Jahre 2000 unter dem Titel „Wo andere Leute wohnen“ erschienen ist. Im Zentrum des Romans stehen „das Vertrieben-Werden, Ankommen und doch nirgendwo Zuhause-Sein [...], die unzähligen Irritationen des Exils, der Verlust eines stabilen familiären Rahmens und seine Auswirkungen sowie die Schwierigkeiten der äußeren und inneren Umstellungen auf die diversen Exilstationen mit ihren jeweils spezifischen Lebensbedingungen“ (S. 181). In Marianne Krögers Analyse dieses und eines weiteren Romans von Lore Segal gewinnt man auf zweierlei Ebenen Erkenntnisse: einerseits über kindliche Erfahrungen im Exil, über die Entfremdung der jungen Exilierten von ihrer Familie und deren bedrohlicher Lebenssituation in Deutschland, andererseits über die Verarbeitung dieser Erfahrungen in fiktionaler Literatur.

Im dritten Schwerpunkt des Bandes, der mit dem Titel „Ethik der Erinnerung – zum Problem, Erfahrungen an die nachkommenden Generationen zu vermitteln“ überschrieben ist, werden verschiedene künstlerische und schulische Projekte vorgestellt, in denen anhand individueller Schicksale das Thema Verfolgung von Kindern und Jugendlichen im Nationalsozialismus erarbeitet wurde.

Während Dirk Krüger sich am Beispiel eines Unterrichtsprojektes mit dem Nationalsozialismus als Thema in der Grundschule auseinandersetzt, stellen Bettina Ramp und Martin Krist jeweils Projekte vor, in denen Grazer bzw. Wiener Jugendliche Lebensgeschichten von verfolgten Kindern und Jugendlichen aufgearbeitet haben. Aus beiden Projekten sind Ausstellungen bzw. Buchpublikationen hervorgegangen. In ihren Reflexionen über die Projektarbeit mit den jugendlichen SchülerInnen stellen sowohl Bettina Ramp als auch Martin Krist heraus, dass der Kontakt mit Originaldokumenten, mit Alltagsgegenständen von Betroffenen aus der damaligen Zeit und mithin das unmittelbare Gespräch mit Zeitzeugen für das historische Lernen ihrer SchülerInnen von zentraler Bedeutung seien.

Irritierend ist dabei allerdings die „Betroffenheitssemantik“, so z. B. wenn Bettina Ramp schreibt, dass man als Erwachsener nicht verlangen könne, dass „die Jugend beim Thema ‚Holocaust’ automatisch Betroffenheit“ zeige, sondern dass diese „Betroffenheit und vor allem die Lehren aus dieser Geschichte“ erst erarbeitet werden müssten (S. 230). Hier stellt sich die Frage, was Betroffenheit eigentlich ist, wozu sie im Kontext historischen Lernens dienen soll und ob sie Letzteres nicht eher verhindert als befördert. Denn Betroffenheit ist nicht zu verwechseln mit dem mühsamen Prozess der Entwicklung von Empathie und dem ebenso mühsamen Prozess rationaler Erkenntnis. Gleichwohl: In Alltagsgegenständen, in Ego-Dokumenten und besonders im Gespräch mit Zeitzeugen wird „Geschichte“ konkret, wird die „Verfolgung“ der Millionen als individuelles Schicksal greifbar. Sie sind für historische Forschung wie auch für historisches Lernen und mithin für Erinnerungsarbeit von unersetzbarem Wert – davon ist man, sofern man es nicht bereits vorher war, nach der Lektüre dieses Sammelbandes, überzeugt.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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