W. Gippert: Kindheit und Jugend in Danzig 1920 bis 1945

Titel
Kindheit und Jugend in Danzig 1920 bis 1933. Identitätsbildung im sozialistischen und im konservativen Milieu


Autor(en)
Gippert, Wolfgang
Erschienen
Anzahl Seiten
552 S.
Preis
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jana Mikota, Kulturwissenschaftliches Institut, Essen

Die Freie Stadt Danzig während der zwanziger Jahre und während der Zeit des Nationalsozialismus ist bisher nur vereinzelt in den Blickpunkt der Geschichtswissenschaft gerückt. Mit der Dissertation „Kindheit und Jugend in Danzig 1920 bis 1945. Identitätsbildung im sozialistischen und im konservativen Milieu“ schreibt der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Gippert eine umfangreiche Studie zu eben dieser Thematik, die er vor dem Hintergrund analysiert, „unter welchen ortsspezifischen und zugleich soziokulturell unterschiedlichen Bedingungen sich das Leben und Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in Danzig zur Freistaatszeit und während des Zweiten Weltkrieges vollzog“ (S. 9). Er unternimmt mit der Arbeit den Versuch, historische, pädagogische und biografische Forschung miteinander zu verbinden, was zu zwei großen Themenschwerpunkten führt. Im ersten (historischen) Teil konzentriert er sich auf die Geschichte der Stadt Danzig nach dem Ersten Weltkrieg, im zweiten (pädagogischen/biografischen) Teil dann auf Lebensläufe der Menschen, die in Danzig geboren sind, aus unterschiedlichen Milieus stammen und mit denen Gippert unter anderem narrative Interviews führte. Im Mittelpunkt der Fragestellung steht die Alltagsrealität von Kindern und Jugendlichen. Der zweite Teil ist weitaus ausführlicher und stellt den Hauptanteil der detaillierten Studie dar.
Wolfgang Gippert begründet die Wahl, seine Untersuchung in Danzig anzusiedeln, dahingehend, dass Danzig „in mehrfacher Hinsicht historisch einmalige Sozialisationsbedingungen vermuten“ lässt (S. 7).

In der Einleitung stellt Gippert sein Instrumentarium vor, mit dem er die Untersuchung durchführt. Er analysiert den Zusammenhang von Sozialmilieu und Identitätsbildung zur Zeit der Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus und ordnet sich so konzeptionell in die Historische Sozialisationsforschung ein. Er bezieht sich unter anderem auf Theorien der Identitätsbildung von Klafki und stellt in seiner Studie zurecht fest, dass insbesondere das sozialistische und katholische Sozialmilieu im Gegensatz zum konservativen sehr gut erforscht sind. Sein Interesse gilt dann dem konservativen Milieu, das er mit dem sozialistischen vergleicht.

Den ersten Teil nennt Gippert „Von der ‚Freien Stadt’ zum Reichsgau Danzig Westpreußen“, in dem er die „historisch einmaligen, politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Entwicklungen“ (S. 52) beschreibt. Die Freie Stadt Danzig wurde am 15. November 1920 proklamiert und unter das Protektorat des Völkerbundes gestellt. Die Stadt selbst wird in der Forschung aufgrund ihrer Parteienlandschaft auch als „Mikrokosmos des Deutschen Reichs“ (S. 529) bezeichnet. Regionalgeschichtliche Studien, zu denen auch Gipperts Arbeit gezählt werden kann, erweisen sich zur Erklärung der Phänomene des Nationalsozialismus oftmals als fruchtbar, zeigen sie doch die Vielzahl der „Szenarien [an], die dieses System erst ermöglicht“ (S. 529) hat. Auch Gipperts Studie leistet diesen Beitrag, denn er stellt ebenfalls dar, wie Menschen gleicher Milieus sich mit dem Nationalsozialismus identifizieren.
Ein besonderer Verdienst kommt Gippert zu, weil er die Biografie des Danziger Gauleiters Albert Forster, geboren 1902 und 1952 in Warschau hingerichtet, rekonstruiert sowie die deutsche Schulpolitik in Polen analysiert hat.
Damit hat Gippert die Rahmenbedingungen angerissen, in denen sich das Aufwachsen der zwischen 1920 und 1945 Geborenen vollzog. Zahlreiche Statistiken belegen den Aufstieg des Nationalsozialismus in Danzig. Auch in Danzig wird, so Gipperts Fazit, deutlich, „dass vor allem die Angehörigen des ‚alten’ Mittelstandes vor Ort besonders stark dazu neigten, für den Nationalsozialismus zu votieren“ (S. 531). Doch bereits hier stellt sich die Frage, weshalb er die Autobiografie einer Person auswählt, die bereits 1916 geboren ist, diese Zeit jedoch in seiner historischen Darstellung vernachlässigt.

Der zweite Teil konzentriert sich auf die Mikroebene. Gippert führt zwei Milieustudien, eine in dem Vorort Schidlitz-Stolzenberg und eine im Hafenvorort Neufahrwasser, durch. Die Kapitel sind so konzipiert, dass auch hier zunächst historische Entwicklungslinien und das Milieu, in dem die Kinder aufwachsen, nachgezeichnet werden, bevor es zu der eigentlichen Analyse kommt. Die erste Milieustudie ist im sozialistischen Arbeitermilieu angesiedelt. In der zweiten wird Identitätsbildung im konservativen, kleinbürgerlichen Kontext thematisiert. Für beide Untersuchungen werden verschiedene Verfahren gewählt: Während in der ersten Studie lediglich eine Autobiografie im Zentrum steht, die 1994 veröffentlicht und im Rahmen einer Längsschnittstudie in ihrer Gesamtheit untersucht wird, so werden in der zweiten Untersuchung mehrere autobiografische Schilderungen nach ausgewählten Bereichen bearbeitet. Nach Klafki wird hier die Frage behandelt, von welchen „Bedingungskonstellationen es abhängig war, dass Kinder und Jugendliche während der NS-Zeit eine tendenziell ‚system-identifikatorische’ oder eher eine distanzierte Haltung gegenüber den ‚Sinnangeboten’ des NS-Regimes entwickelten“ (S. 515).

Die erste Autobiografie behandelt Lisa Barendt, die 1916 im Arbeiterviertel Schidlitz-Stolzenberg geboren ist. Sie wird damit mitten im Ersten Weltkrieg geboren, der Vater befindet sich während ihrer Geburt in Russland. Der Wohnraum ist knapp, Kinderreichtum und -sterblichkeit prägen ihre Kindheit, die sich erst nach der Rückkehr des Vaters, 1920, verbessert. Das Umfeld, in dem Lisa Barendt aufwächst, ist ein sozialdemokratisches. Der Vater ist Mitglied in der SPD, und Themen wie Inflation oder Arbeitslosigkeit werden offen diskutiert. Lisa wird Mitglied in der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ), in der sie auch ihren zukünftigen Mann kennen lernt. Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus erlebt Lisa Barendt mit ihrer Familie und ihren Freunden nationalsozialistische Repressionen: Ihr Freund wird zusammengeschlagen, verhaftet, und in ihrem Elternhaus werden die Scheiben eingeschlagen. Lisa Barendt zieht sich ins Private zurück. Im Krieg muss sie ihre drei Kinder versorgen, während ihr Mann eingezogen wurde. Lisa Barendt hat ihre Lebensgeschichte unter dem Titel „Danziger Jahre. Aus dem Leben einer jungen Frau bis 1945/46“ im Alter von 68 Jahren verschriftlicht. In der Längsschnittstudie verzichtet Gippert nicht, historische Lücken aufzufüllen, während er die Biografien nachzeichnet. So erläutert er beispielsweise die SAJ, die bisher kaum erforscht wurde.

Die zweite Milieustudie besitzt ein anderes Untersuchungsinstrument. Gippert konzentriert sich hier nicht nur auf eine Biografie, die er exemplarisch für das Aufwachsen von Kindern in einem bestimmten Milieu wählt, sondern er beschreibt insgesamt 4 Biografien von Kindern der Geburtsjahrgänge 1922, 1926, 1928 und 1931. Alle sind im Hafenvorort Neufahrwasser geboren. Es ist ein kleinbürgerliches Arbeiterviertel, das besonders von der Konkurrenz des Nachbarhafens Gdingen (Polen) betroffen war, so dass hier die Rufe nach einem „starken Mann“ besonders groß waren. Es wird nicht nur die Geschichte der Gegend vorgestellt, sondern Gippert zeigt anhand von Wahlergebnissen wie präsent die NSDAP im Gegensatz zu Schidlitz-Stolzenberg in den 1930-er Jahren in Neufahrwasser war. Die Bevölkerung bejahte die nationalsozialistischen Ziele. Ausgewählt für die Interviews wurden drei Männer (Jg. 1926, Jg. 1928, Jg. 1931) und eine Frau (Jg. 1922). (1) Die drei vorgestellten Jungen werden dementsprechend Mitglied im Deutschen Jungvolk. Der elfjährige Bodo Vorbusch (Jg. 1928) beispielsweise erlebt sogar den Besuch Adolf Hitlers in Danzig, was für ihn „ein besonders beglückendes, ‚sinnstiftendes’ und identifikatorisches Ereignis“ (S. 524) war, und auch rückblickend sagt der 70-jährige im Interview, dass der Dienst in der HJ großen Spaß machte: „Ich möchte sogar behaupten, daß ich hier meine Prägung für das spätere Leben bekam“, zitiert Gippert eine Stelle aus dem Interview (S. 525). Bereits hier wird deutlich, dass diese Querschnittstudie so angelegt ist, dass sich die Lebensläufe der männlichen Befragten gut vergleichen lassen, während die der beiden Frauen etwas in den Hintergrund geraten. Ratsam wäre es gewesen, sich nur auf die drei Männer zu konzentrieren und vergleichend männliche Lebensläufe ähnlicher Jahrgänge hinzuziehen, die im sozialistischen Milieu aufgewachsenen sind und diese dann ebenfalls als eine Querschnittsanalyse zu konzipieren.

Wolfgang Gippert leistet mit seiner Studie einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der Freien Stadt Danzig ebenso wie zu der Erforschung von Identitätsbildung bei Kindern in unterschiedlichen sozialen Milieus. Leider wählt er für sein Beispiel einer Biografie aus dem sozialistischen Milieu eine Person aus, die Jahrgang 1916 ist und daher den Nationalsozialismus bereits als Jugendliche und Erwachsene wahrnimmt und somit unweigerlich andere Erfahrungen sammelt als Kinder der Jahrgänge 1922-1931 im zweiten Untersuchungsteil. Unklar ist, weshalb Gippert diese Zeitspanne wählt und sich nicht auf Biografien des gleichen Jahrgangs beziehungsweise zeitnaher Jahrgänge konzentriert. Arbeiten zu Kriegskindheit zeigen, dass Kinder und Jugendliche verschiedener Altersstufen den Nationalsozialismus anders erlebten und dementsprechend auch andere Identifikationsmuster aufbauen konnten. Die weiblichen Lebensgeschichten bilden einen Kontrast zu den männlichen, denn beide Frauen, obwohl in unterschiedlichen Danziger Vororten aufgewachsen und auch verschieden sozialisiert, verhalten sich distanziert gegenüber dem Nationalsozialismus. Leider wird dieser Kontrast nur skizziert.

Nichtsdestotrotz leistet Gippert einen wertvollen Beitrag zur Erforschung sozialer Milieus und zur Geschichte der Stadt Danzig, die noch in den Anfängen steckt und sicherlich Anreiz bietet, auch in anderen Städten weiterzuforschen.

(1) Alle Personen aus dem Hafenvorort Neufahrwasser wurden von Gippert anonymisiert.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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