Cover
Titel
Die Kreisleiter der NSDAP im Gau Weser-Ems.


Autor(en)
Rademacher, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Stelbrink, Soest

Hüttenbergers bekanntes Werk über „Die Gauleiter“ 1 aus dem Jahr 1969 war eines der Bücher, die den Beginn einer sich verändernden Sichtweise auf das „Dritte Reich“ signalisierten. Die bis dahin dominierende zentralstaatliche Perspektive wurde ergänzt durch einen sich allmählich öffnenden Blick auf den „Nationalsozialismus in der Region“.2 Ausgerechnet das regionale und lokale Funktionärskorps der NSDAP blieb jedoch trotz Hüttenbergers Vorlage noch über Jahrzehnte ein Stiefkind der Forschung. Dies galt nicht zuletzt auch für die unter den Gauleitern agierenden Kreisleiter. Nach einer relativ frühen Studie von Fait aus dem Jahr 1989 3 fanden sie erst seit den späten 1990er-Jahren verstärkt die Aufmerksamkeit der NS-Forschung. In der Folgezeit erschienen dann eine ganze Reihe einschlägiger Studien, die unsere Kenntnisse über die Kreisleiter und ihren Anteil an der Umsetzung der NS-Herrschaft vor Ort entscheidend erweitert haben.4 Weitere Veröffentlichungen sind angekündigt.5

Auf diesem neuen Forschungsfeld arbeitete seit geraumer Zeit auch Michael Rademacher.

Bereits im Jahre 2000 veröffentlichte er im Book-on-Demand-Verfahren zwei recht eigenwillige Handbücher von begrenztem Gebrauchswert, die „als Hilfs- und Arbeitsmittel“ für sein Dissertationsprojekt entstanden waren 6. Fünf Jahre später liegt nunmehr auch die Dissertation selber vor.

Rademachers Buch kreist um zwei „grundsätzliche“ Fragen. Zunächst soll untersucht werden, „welche Aufgabe“ den Kreisleitern „im Rahmen des Herrschaftssystems des Dritten Reiches eigentlich zugedacht war“ (S. 10). Darüber hinaus möchte der Autor jedoch auch klären, ob sie diese Aufgabe erfolgreich bewältigt haben. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt dabei auch der „normalen, alltäglichen Zusammenarbeit zwischen Kreisleiter und Landrat“ (S. 15). Zur Bewältigung dieses Arbeitsprogramms beabsichtigt er ausdrücklich, „die soziologische und die politologische Elitentheorie als Hilfsinstrumente“ zu „erschließen“ (S. 10).

Im Folgenden zeichnet Rademacher das Bild einer anfangs relativ jungen, stark mittelständisch geprägten, überdurchschnittlich gebildeten Funktionselite, deren politische Sozialisation sehr unterschiedlich verlaufen war. Entschieden wendet er sich gegen Roths These von der fortwährenden Inkompetenz der anfänglich oft wechselnden Amtsinhaber.7 Als eigentliche Aufgabe der Kreisleiter identifiziert er die „Menschenführung", die er mit der „transforming leadership“ (S. 49) des amerikanischen Soziologen James McGregor Burns gleichsetzt. Sie beinhaltete für Rademacher im Wesentlichen praktische Überzeugungsarbeit für die „values“ (S. 50) der NSDAP und bildete damit eine plausible Ergänzung zur „transactional leadership“ (S. 49) der Staatsbehörden. Allerdings seien die Kreisleiter, denen Gauleiter Röver „in der Regel freie Hand“ ließ (S. 154), mit ihrer „Menschenführung“ auf der ganzen Linie gescheitert. Einen wesentlichen Grund für diesen „Fehlschlag“ (S. 314) sieht Rademacher in der Personalpolitik Rövers, der im Wesentlichen darauf verzichtete, „ortskompatible Kreisleiter“ (S. 357) zu ernennen, die als „akzeptierte regionale Elite“ (S. 53) die „opinion leadership“ (S. 317) in ihren Kreisen hätten übernehmen können. Als sein „wesentlichstes Ergebnis“ bezeichnet Rademacher jedoch, „dass sich die permanenten Machtkämpfe zwischen Partei und Staat auf oberster Ebene nicht auf Kreisebene widerspiegeln. Von einer Polykratie auf Kreisebene“ könne daher im Verwaltungsalltag überwiegend „nicht gesprochen“ werden (S. 363).

Diese im positiven Sinne diskussionswürdigen Arbeitsergebnisse resultieren bedauerlicherweise aus einer Untersuchung, die gravierende methodische, inhaltliche und darstellerische Mängel aufweist. Das Buch basiert über weite Strecken auf der zu unkritischen Auswertung von problematischen Quellen wie etwa Spruchgerichts- und Entnazifizierungsakten, Artikeln der NS-Presse oder schriftlichen Hinterlassenschaften regionaler NS-Größen. Die für sein Arbeitsprogramm notwendige und einleitend auch angekündigte breite Auswertung von Sachakten bleibt weitgehend aus. Eine wirklich erkenntnisfördernde Anwendung der ausführlich dargelegten „Grundlagen der soziologischen und politologischen Elitetheorien“ (S. 27-54) auf den Untersuchungsgegenstand kann der Rezensent nicht erkennen. Der inhaltliche Bezug seiner Ausführungen zur Thematik lässt oft zu wünschen übrig, Fallbeispiele werden häufig mit entbehrlichen Details überfrachtet. In manchen seitenlangen Passagen - so etwa über Herbert Spencer als Ideengeber für Hitler oder die Lebenswege der beiden Gauleiter - gerät das eigentliche Untersuchungsthema völlig aus dem Blickfeld. Andere, mit vielversprechenden Überschriften versehene Kapitel bleiben inhaltlich weitgehend unergiebig. Im Abschnitt über „die Kreisleiter und die Kirchen“ (S. 285-292) etwa interessieren Rademacher vorwiegend die Motive der Kreisleiter für ihren Kirchenaustritt. Der Abschnitt über „die Kreisleiter und die Juden“ (S. 292-300) befasst sich an Hand einiger Gerichtsakten aus der Nachkriegszeit fast ausschließlich mit der Verwicklung der Kreisleiter in die Reichspogromnacht. Das terroristische Element der Kreisleiterherrschaft wird in der Untersuchung weitgehend vernachlässigt.

Bei näherem Hinsehen ergibt sich auch, dass einige der oben referierten Hauptthesen auf tönernen Füßen stehen. So bringt Rademacher zwar einige beachtenswerte Argumente für seine weitgehende Relativierung der Gegensätze zwischen Landräten und Kreisleitern; seine einschlägigen Ausführungen über lediglich 14 Seiten sind dabei jedoch weit entfernt von einer gründlichen, systematisch angelegten Untersuchung des Fragenkomplexes. Das konstatierte totale Scheitern der Kreisleiter bei der „Menschenführung“ dürfte sich allein durch die ausführliche Analyse multifaktoriell bedingter quantitativer Daten wie etwa Reichstagswahlergebnissen und Kirchenaustritten kaum zuverlässig belegen lassen.

Unbefriedigend bleiben auch Rademachers Ausführungen zur Entnazifizierung der Kreisleiter. Seine wenig erhellende Aneinanderreihung von Spruchgerichtsurteilen und Entnazifizierungsbescheiden verbindet er abschließend mit einer kräftigen Schelte der bisherigen „geschichtswissenschaftlichen Praxis“ (S. 335), der er die Ignorierung der „Tatdimension“ (ebd.) und die Orientierung an einem „Gesinnungsstrafrecht“ (S. 334) vorwirft. Die oft kritisierte milde Einstufung der Kreisleiter sei zwar sicherlich nicht „gerecht“, auf jeden Fall aber „rechtens“ (S. 363) gewesen. Rademacher verkennt dabei allerdings völlig, dass es sich bei der Entnazifizierung im engeren Sinne um keine ordentliche Gerichtsbarkeit zur Aburteilung begangener Straftaten handelte bzw. handeln sollte. Intendiert waren vielmehr politische Bewertungen, in deren Folge präventive Sanktionen zum Schutz der neuen demokratischen Gesellschaftsordnung verhängt werden konnten.8

Die Auseinandersetzung mit der einschlägigen Sekundärliteratur kommt über weite Strecken des Buches viel zu kurz, einige wichtige Veröffentlichungen tauchen nicht einmal im Literaturverzeichnis auf. Dies hindert Rademacher bisweilen allerdings nicht daran, anderen Fachkollegen in überzogener Manier geradezu „abwegige“ (S. 272, 336) Auffassungen vorzuwerfen. Ein Ärgernis stellen auch einige sachliche Schnitzer des Autors dar, so etwa seine Feststellung, dass die Kreisleiter nach der Deutschen Gemeindeordnung von 1935 „Gutachten bei der Ernennung von Beamten und Angestellten für den öffentlichen Dienst“ (S. 346) abzugeben hatten. Zahlreiche Orthografie- und Grammatikfehler lassen auf eine flüchtige Endredaktion schließen und vervollständigen damit den negativen Gesamteindruck.

Anmerkungen:
1 Hüttenberger, Peter, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969.
2 Zit. n. Möller, Horst u.a. (Hgg.), Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, München 1996.
3 Fait, Barbara, Die Kreisleiter der NSDAP – nach 1945, in: Broszat, Martin u.a. (Hgg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1989, S. 213-299.
4 Stellvertretend sei an dieser Stelle nur eine jüngst erschienene, den bisherigen Kenntnisstand rekapitulierende und neue Forschungsperspektiven aufzeigende Studie genannt: Nolzen, Armin, Funktionäre in einer faschistischen Partei. Die Kreisleiter der NSDAP, 1932/33 bis 1945, in: Kössler, Till; Stadtland, Helke (Hgg.) Vom Funktionieren der Funktionäre. Politische Interessenvertretung und gesellschaftliche Integration in Deutschland nach 1933, Essen 2004, S. 37-75.
5 Dies gilt vor allem für Sebastian Lehmanns Dissertation über die Kreisleiter des Gaues Schleswig-Holstein.
6 Rademacher, Michael, Wer war wer im Gau Weser-Ems. Die Amtsträger der NSDAP in Oldenburg, Bremen, Ostfriesland sowie der Region Osnabrück-Emsland, Vechta 2000; Ders., Handbuch der NSDAP-Gaue 1928-1945, Vechta 2000, zit. n. ebd., S. 5.
7 Siehe Roth, Claudia, Parteikreis und Kreisleiter der NSDAP unter besonderer Berücksichtigung Bayerns, München 1997, S. 134.
8 Siehe etwa Wember, Heiner, Umerziehung im Lager. Internierung und Bestrafung von Nationalsozialisten in der britischen Besatzungszone Deutschlands, Essen 1991, S. 344.

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