Dass die christlichen Kirchen im Deutschland der frühen Nachkriegszeit eine herausgehobene Stellung einnahmen, ist beinahe ein Allgemeinplatz der Zeitgeschichtsschreibung. Wie sich dies unterhalb der bischöflichen Ebene und besonders in den Gemeinden vor Ort tatsächlich äußerte, wurde bislang jedoch nur selten untersucht. Aufschlussreiche Einblicke in diese Frage bieten die Kriegs(ende)berichte von Geistlichen, die in einigen katholischen, vor allem süddeutschen Bistümern noch ab 1945 entstanden und mittlerweile zum Teil ediert vorliegen.1 Vergleichbare serielle Bestände in evangelischen Archiven sind kaum bekannt. Eine Ausnahme bildet die mecklenburgische Landeskirche: Dort erließ der geschäftsführende Oberkirchenrat am 13. Juli 1945 einen Fragenkatalog zur Lage in den Gemeinden, um einen Überblick der unübersichtlichen Lage zu erhalten. Aus zahlreichen – wenn auch bei weitem nicht allen – Kirchengemeinden liegen entsprechende Lageberichte vor, die meist noch im Lauf des Jahres 1945 entstanden. Die Dokumente aus drei von zwölf Kirchenkreisen sind nun in einem ersten Band erschienen. Das Editionsprojekt entstand aus einer privaten Initiative der Mitherausgeberin Margrit Käthow und wurde in Zusammenarbeit mit dem Landeskirchlichen Archiv der Nordkirche realisiert.
Die mit elf Seiten recht knappe Einleitung bietet eine konzise Einordnung der Hintergründe der Berichterstattung und eine Einschätzung zum Quellenwert, die aber leider darauf verzichtet, etwas genauer danach zu fragen, zu welchen Themenkomplexen die edierten Quellen besonders interessante Rückschlüsse zulassen und in welchen Bereichen sie vielleicht mit größerer Vorsicht zu betrachten sind. So wird etwa die „mitleidlose und abwertende Erwähnung von Displaced Persons […] in einigen Berichten“ nur ganz knapp mit „[z]eitgenössischem Denken, mangelnder Aufklärung und dem Gefangensein in der eigenen Not“ erklärt (S. XVIII), ohne näher auf die ideologischen Hintergründe dieser Zeitbedingtheit, die Verstrickung vieler Pastoren in den Nationalsozialismus und entsprechende auch nach Kriegsende weiterwirkende Exklusionsmechanismen einzugehen. Auch zum zeit- und kirchenhistorischen Kontext hält die Einleitung nur wenig bereit. Man erfährt zwar beispielsweise, dass der Landesbischof Walther Schultz im Juni 1945 von der britischen Militärregierung verhaftet wurde und sein Amt niederlegen musste; dass dies aufgrund seiner starken nationalsozialistischen Belastung geschah, wird aber wohl als bekannt vorausgesetzt, ebenso wie die Tatsache, dass Westmecklenburg erst Anfang Juli von britischer in sowjetische Kontrolle überging. Das Literaturverzeichnis bietet einige weiterführende Hinweise; gerade für in der Materie weniger bewanderte Leser/innen wäre eine detailliertere historische Einordnung jedoch wünschenswert gewesen2, ebenso wie die Erklärung kirchlicher, regional zum Teil unterschiedlich konnotierter Begriffe wie „Propstei“.
Eine wahre Fundgrube für weiterführende Forschungen bietet der rund 260 Seiten starke Editionsteil mit 110 transkribierten und kommentierten Dokumenten. Der Oberkirchenrat interessierte sich für drei Themenkomplexe: Angesichts der Fluchtbewegungen bei Kriegsende ging es um die für das kirchliche Leben essentielle Frage des Aufenthaltsorts der Pastoren; außerdem wurde nach den Folgen von „Kampf, Beschießung, Feuersbrunst, Plünderung“ auf die Gemeinden sowie nach Schäden an kirchlichen Gebäuden gefragt (S. XIIIf.). Da nur aus rund der Hälfte der Pfarren Antwortschreiben vorliegen, wurden für die restlichen Orte alternative Quellen aus Gemeinde- und Personalakten, Pfarrchroniken und Korrespondenz ediert – eine gute Behelfslösung, wenn die Dokumente dadurch teils auch etwas disparat geraten. Da einige Pfarrer im Kriegsdienst gefallen waren oder sich in Kriegsgefangenschaft befanden, stammen manche Texte aus der Feder von Vertretern, in 16 Fällen aber auch von Mitarbeiterinnen oder Pfarrfrauen und -witwen, die vereinzelt auch die Verwaltung der Gemeinden übernahmen.
In der Gestaltung variieren die Berichte erwartungsgemäß recht stark, von Zweizeilern (S. 244f.) und nüchternen, strikt an das Frageschema angelehnten Texten bis hin zu ausführlichen, freier gestalteten und teils sehr persönlichen Ausführungen mit eigener Schwerpunktsetzung (z.B. S. 16–31). Die Aussagekraft der einzelnen Berichte schwankt ebenfalls enorm. Während manchen Dokumenten nicht viel mehr zu entnehmen ist als ein kurzer Überblick zu Gebäudeschäden, erlauben andere detaillierte Einblicke in die örtlichen Zustände und auch in die Persönlichkeit der Schreibenden. Neben den abgefragten Punkten drehen sich viele Berichte um die das Erleben des Kriegsendes regional bestimmenden Themen von Flucht, Vergewaltigung und Plünderung sowie um die ersten Begegnungen der Pfarrer mit den russischen Besatzern, die häufig von den genannten Gewalttaten oder Kirchenschändungen überschattet wurden. Angesichts der anfangs weitgehend gewährten kirchlichen Freiheiten (z.B. S. 9, S. 88, S. 143) und der Begegnung mit gläubigen Rotarmisten (z.B. S. 92, S. 257f.) fielen sie für manche Berichterstatter aber auch überraschend positiv aus. Auffällig sind besonders die teils recht detaillierten Berichte über die zahlreichen angesichts von Besetzung und befürchteter oder tatsächlicher sexueller Gewalt verübten Suizide; in Penzlin mit seinen rund 3.000 Einwohner/innen etwa nahmen sich innerhalb von vier Tagen in einer regelrechten „Freitodepidemie“ (S. 226) 156 Menschen das Leben.
Ihrer Kürze und der Fragestellung geschuldet, erlauben die Berichte nur selten Rückschlüsse auf die Haltung ihrer Autor/innen zu Nationalsozialismus, Weltkrieg und der Frage der damit verbundenen Schuld, zur Reflexion ihrer eigenen Rolle in den vorangegangenen Jahren oder zu gesellschaftlichen und politischen Fragen wie der beginnenden kommunistischen Umgestaltung der Sowjetischen Besatzungszone oder der Integration der Flüchtlinge aus dem Osten. Gerade die längeren Schreiben gewähren jedoch anschauliche Einsichten in Rolle und Selbstverortung der Pastoren im Beziehungsgeflecht zwischen Besatzern und Besetzten. Als wichtige Anlaufstelle Hilfesuchender übernahmen sie in den Wochen vor und nach Kriegsende zahlreiche soziale, kommunale und teils auch medizinische Zusatzaufgaben. Sie fühlten sich als lokale Autoritäten für ihre Gemeinden verantwortlich – der Pastor als „der der von Gott gegebene Führer seines Volkes“, wie es ein Propst formulierte (S. 202) – und positionierten sich als Fürsprecher der Bevölkerung und Mediatoren in Konfliktsituationen. Zum Teil nicht ohne sichtlichen Stolz berichteten sie über ihren Einsatz. Natürlich mochte bei mancher Darstellung auch der Wunsch eine Rolle gespielt haben, sich gegenüber der Kirchenbehörde in besonders gutes Licht zu rücken. Dennoch bieten die Dokumente einen vielversprechenden Ansatzpunkt für weitere Forschungen zum pastoralen Selbstverständnis, die dann freilich auch weiterführende Bestände aus dem Nationalsozialismus mit einbeziehen müssten.
Jedem Bericht vorangestellt ist in vorbildlicher Weise ein kurzer biografischer Absatz zum jeweiligen Pastor, der den Fokus auf die kirchenpolitische Verortung im „Dritten Reich“, etwaige Parteimitgliedschaft und Kriegsdienst legt und eine genauere Einordnung des jeweiligen Berichts erlaubt. Beigefügt sind zudem die Lebensdaten erwähnter Personen sowie gelegentliche Erläuterungen inhaltlicher Art und Ergänzungen mit anderen Quellen. Ein ausführliches Personen- und Ortsregister hilft lokalhistorisch Interessierten beim gezielten Nachschlagen. Nützlich wäre eine Überblickskarte der Landeskirche und der drei behandelten Kirchenkreise mit den darin vertretenen Propsteien und Gemeinden.
Der große Vorteil des von der Mitherausgeberin in jahrelanger verdienstvoller Arbeit ermittelten und transkribierten, zusammen mit Johann Peter Wurm sorgfältig kommentierten Quellenkorpus liegt in der zeitnahen und – zumindest unter Hinzunahme der alternativen Quellen – flächendeckenden Entstehung, die so „eine historische Momentaufnahme der Zeit Mai 1945 bis Herbst 1945 eines vollständigen Landes“ (S. XVIII) bietet – natürlich (fast) immer durch die geistliche Brille geblickt. Aufgrund des geringen zeitlichen Abstands stehen viele Berichte noch unter dem unmittelbaren Eindruck des Geschehens und sind – wie in der Einleitung ebenfalls zurecht betont wird – „relativ unverfälscht durch politische Rücksichtnahmen oder spätere Reflexion“ (ebd.). Durch diese Unmittelbarkeit sind die Dokumente nicht nur von regionalgeschichtlichem Interesse. Was und wie die Pfarrer schrieben, verrät bei näherer Betrachtung häufig mindestens genauso viel über sie selbst wie über die von ihnen geschilderten Begebenheiten. Der Band gibt damit Anstoß zur weiteren zeit- und kirchenhistorischen Auseinandersetzung mit der christlichen Geistlichkeit in der frühen Nachkriegszeit. Dem Editionsprojekt ist eine baldige Fortführung zu wünschen.
Anmerkungen:
1 Peter Pfister (Hrsg.), Das Ende des Zweiten Weltkriegs im Erzbistum München und Freising. Die Kriegs- und Einmarschberichte im Archiv des Erzbistums München und Freising, 2 Bände, Regensburg 2005; Verena von Wiczlinski (Hrsg.), Kirche in Trümmern? Krieg und Zusammenbruch 1945 in der Berichterstattung von Pfarrern des Bistums Würzburg, Würzburg 2005; Claudia Schober, Die Berichte der Seelsorger des Bistums Passau nach Ende des Zweiten Weltkriegs (1945), Passau 2017; Thomas T. Müller / Maik Pinkert (Hrsg.), Kriegsende und Neubeginn im Landkreis Eichsfeld 1945/1946. Eine zeitgenössische Dokumentation, Heilbad Heiligenstadt 2003. Der Rezensent arbeitet an einer Dissertation zum katholischen Klerus in der Zusammenbruchsgesellschaft, die sich stark auf die entsprechenden Berichte aus dem Erzbistum Freiburg stützt.
2 Erste Ansatzpunkte zur weiteren Auseinandersetzung liefert etwa die Ausstellung „Neue Anfänge nach 1945?“ der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, vgl. https://www.nordkirche-nach45.de (06.11.2020).