D. Führer: Alltagssorgen und Gemeinschaftssehnschte

Cover
Titel
Alltagssorgen und Gemeinschaftssehnsüchte. Tagebücher der Weimarer Republik (1913–1934)


Autor(en)
Führer, Daniel
Reihe
Weimarer Schriften zur Republik
Erschienen
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Föllmer, Afdeling Geschiedenis, Universiteit van Amsterdam

Schon seit Jahrzehnten zieht die Geschichtswissenschaft Tagebücher heran, um ihren Darstellungen eine persönliche Note zu verleihen. Daneben wendet sich eine wachsende Zahl von Studien spezifisch diesem Quellentyp zu.1 Meist geht es dabei um solche historische Kontexte, die aufgrund ihres exzeptionellen Charakters zu Selbstreflexion und Selbstpositionierung Anlass gaben und zudem den Austausch im Gespräch riskant machten. Dazu zählen die letzte Kriegsphase in Deutschland und die Deportation von Juden in Gettos und Konzentrationslager, die stalinistische Herrschaft und – im preisgekrönten Buch von Janosch Steuwer – die nationalsozialistische Diktatur.2 Ihre eigenen Schwierigkeiten werfen Zeiten auf, in denen die Politik vergleichsweise wenig in das Leben eingriff. Dann nämlich entstanden Tagebücher, deren Schwerpunkte sich stärker voneinander unterscheiden, die alltäglicher ausfallen und daher schwer interpretatorisch zu ordnen sind. Ein Beispiel für einen produktiven Umgang mit diesem Problem ist Peter-Paul Bänzigers vor kurzem erschienene Monografie, die auf breiter Quellengrundlage die Entstehung einer modernen, gleichzeitig auf Arbeit, Konsum und Erlebnis gerichteten Subjektkultur herausarbeitet.3

Daniel Führers in Bonn und St. Andrews entstandene Dissertation, konzeptionell weniger ambitioniert als die Studien Steuwers oder Bänzigers, bewegt sich zwischen diesen beiden Polen. Führer zeigt, dass Bezüge zum politischen Geschehen im Ersten Weltkrieg, den Nachkriegsjahren und dann wieder 1933/34 stark vertreten waren, jedoch nicht so sehr in den Jahren dazwischen. Das ist als Einspruch gegen das Bild einer dauerpolitisierten Weimarer Gesellschaft bereits für sich genommen interessant, macht aber die Interpretation nicht einfacher, die zusätzlich durch die Auswahl der Tagebücher erschwert wird. Denn lobenswerterweise hat der Verfasser dabei auf Vielfalt geachtet: Der Land- und Gastwirt Viktor Walther aus Thüringen (1863–1923), der Milieukatholik und Maler Anton Keldenich aus der Eifel (1874–1936) und der Eisenbahner und kritische Katholik Oskar Schlindwein aus der Pfalz (1900–1994) stehen neben der Lebensreformerin Maria Hertwig (1863–1932), der deutschnationalen Hamburger Lehrerin Luise Solmitz (1889–1973) und der ebenfalls bürgerlichen Keniaauswanderin Luise Regina Kroll (1904–1948).

Dieses sozial, regional, generationell, geschlechtlich und konfessionell breite und gleichzeitig quantitativ schmale Sample von sechs Tagebuchautor:innen behandelt Führer, indem er einem ersten, biographischen Teil Kapitel zu „Lebensverhältnissen“, „Intimität und Öffentlichkeit“ und „Überzeugungen“ folgen lässt. Man tut gut daran, sich erst einmal auf die jeweiligen Lebenswege und weltanschaulichen Mischungsverhältnisse einzulassen. Denn daraus ergeben sich interessante, teils faszinierende Einblicke. Der lokalen Verwurzelung des Land- und Gastwirtes Walther und des Milieukatholiken Keldenich stehen das ambitionierte und bald gescheiterte Landkommunenprojekt Hertwigs und ihres Mannes in der Wilstermarsch und das mühsame Sichzurechtfinden Krolls im britisch beherrschten Ostafrika gegenüber. Die häufigen Affären Schlindweins kontrastieren mit der lebenslangen Fixierung Solmitz‘ auf ihren späteren Mann Friedrich, den sie Fredy nannte. Weil es sich bei dem Tagebuch der Hamburger Bürgerin um eine relativ bekannte Quelle handelt, ist schon verschiedentlich beschrieben worden, dass ihr Gatte und damit auch die gemeinsame Tochter nach 1933 nicht als „arisch“ galten und sie sich deshalb nach anfänglicher Begeisterung zunehmend vom Nationalsozialismus distanzierte. Weniger bekannt sind die Anfänge der Beziehung: die Anziehungskraft, die der stürmisch-dominante Mann auf die junge Lehrerin ausübte, aber auch die Tatsache, dass sie zum zweiten Date vorsichtshalber einen im Elternhaus vorrätigen Revolver mit sich führte.

Die drei systematischen Kapitel sind recht kleinteilig und detailliert. Sie geben Auskunft darüber, inwiefern sich zeitgenössische Tendenzen von der Arbeit über die Freizeit und den Körper bis hin zu Religion und Politik in den sechs Tagebüchern niederschlugen. Manches davon hätte sich kürzen lassen; zum Teil erlauben die spärlichen Belege schlicht keine wirklichen Befunde. Dennoch gelangt die Studie neben verschiedenen aufschlussreichen Einzelaussagen, etwa zu Wohnverhältnissen, Körpererfahrungen und Glaubensverständnissen, zu einer übergreifenden These. Im Lichte der ausgewählten Personen und Quellen stellt sich die deutsche Gesellschaft der 1920er- und frühen 1930er-Jahre nämlich konservativer dar, als es andere Darstellungen suggerieren. Die Protagonist:innen blieben ihren Herkunftsmilieus und Wertvorstellungen verhaftet. Bürgerliche Einstellungen, hergebrachte Geschlechterbilder und hierarchisches Denken behielten ihre Plausibilität. Das Festhalten an solchen Überzeugungen erleichterte es nicht eben, sich anderen gesellschaftlichen Gruppen und den Chancen von Modernität zu öffnen. Dies schloss jedoch keineswegs aus, Gemeinschaftssehnsüchte zu artikulieren, deren Vagheit reichlich Projektionsfläche bot. Nationalistische Haltungen und teilweise – besonders ausgeprägt bei Solmitz – den Brückenschlag zur NS-Ideologie wurden dadurch befördert. Gemeinschaftssehnsüchte waren aber auch vereinbar mit Distanz zum neuen Regime, von Anfang an beim lokalen Zentrumspolitiker Keldenich und zunehmend bei Solmitz sowie bei Kroll, die über ihre Landsleute in Kenia notierte: „Diese Naziinfektion wirkt tatsächlich geist- und gedankenablösend, man kann bei verschiedenen Bekannten die Stadien richtig feststellen.“ (S. 47)

Damit bildet Führers Studie ein Gegengewicht gegenüber Forschungen, welche die parallele Krisen- und Zukunftsorientierung der Zeitgenossen und die kulturelle Modernität Berlins und anderer Großstädte betonen.4 Man könnte allerdings vermuten, dass eine andere Quellenauswahl auch zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Einerseits galt das Genre des Tagebuches in der Weimarer Republik zuweilen selbst als unmodern, „lächerlich für ein Mädchen von achtzehn und auch sonst auf der Höhe“, wie Irmgard Keun ihre literarische Protagonistin Doris behaupten ließ.5 Dazu passt Peter Fritzsches Studie zu Franz Göll, deren Clou darin liegt, dass sich dieser idiosynkratische Kleinbürger ausweislich seiner Haushaltsbücher unternehmungslustig ins Berliner Freizeitgetümmel stürzte, seine von weltanschaulichen Reflexionen und Degenerationsängsten bestimmten Tagebücher davon jedoch nichts verraten.6 Andererseits scheinen sich nicht wenige Tagebücher von den durch Führer untersuchten unterschieden zu haben. Jedenfalls hat Peter-Paul Bänziger auf der Grundlage jüngerer Diarist:innen auf die Pionierrolle von Arbeitern und Angestellten aufmerksam gemacht, welche die eigene Existenz zunehmend individualistisch verstanden, in einer Mischung von Leistungsbewusstsein und Vergnügungsdrang.7

Es ist kein geringes Verdienst von Daniel Führers Studie, dass sie zu weiteren Diskussionen über die Modernität der Weimarer Gesellschaft oder eben ihr Festhalten am Althergebrachten anregt. Darüber hinaus bietet sie wertvolle Aufschlüsse über die in der Geschichtswissenschaft oft thematisierte agency, hier im deutschen Kontext zwischen Erstem Weltkrieg und Nationalsozialismus. Diese bestand oder fehlte nämlich nicht einfach, sondern war zentrales Element zeitgenössischer Selbstkonstruktionen. Das Gefühl des Getriebenseins durch die Zeitläufte bei Walther und Solmitz (die selbst über ihre passive Haltung klagte, bevor sie 1933 die Chance zur aktiven Mitwirkung sah), die Betonung charakterlicher und intellektueller Eigenständigkeit bei Schlindwein, die stete Vereins- und Parteiarbeit bei Kendenich – all dies resultierte jeweils aus einem bestimmten Verständnis der eigenen Denk- und Handlungsfähigkeit. Die Chancen dazu waren zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt. Unter dem Einfluss der herrschenden Normen definierten sich die drei Frauen primär in Abhängigkeit von den Männern in ihrem Leben, teilweise sogar im Modus der Selbstunterwerfung. Dass sie dennoch zunehmend kritische Distanz zu ihnen entwickelten, war eine der kleineren Veränderungen, die im 20. Jahrhundert nicht weniger wichtig gewesen sind als die dramatischen Umbrüche.

Anmerkungen:
1 Vgl. Janosch Steuwer / Rüdiger Graf (Hrsg.), Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015.
2 Susanne zur Nieden, Alltag im Ausnahmezustand. Frauentagebücher aus dem zerstörten Deutschland 1943–1945, Berlin 1993; Alexandra Garbarini, Numbered Days. Diary Writing and the Holocaust, New Haven 2006; Jochen Hellbeck, Revolution on My Mind. Writing a Diary Under Stalin, Cambridge, Mass. 2006; Janosch Steuwer, “Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse”. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen 2017.
3 Peter-Paul Bänziger, Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft 1840–1940, Göttingen 2020.
4 Ersteres v.a. bei Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen- und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008, Letzteres in zahlreichen Darstellungen zur „Weimar Culture“.
5 Irmgard Keun, Das kunstseidene Mädchen (1932), München 2000, S. 8.
6 Peter Fritzsche, The Turbulent World of Franz Göll. An Ordinary Berliner writes the Twentieth Century, Cambridge, Mass. 2011.
7 Bänziger, Moderne als Erlebnis.

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