G. Jüttemann (Hrsg.): Psychologie der Geschichte

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Titel
Psychologie der Geschichte.


Herausgeber
Jüttemann, Gerd
Erschienen
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roger Chickering, BMW Center for German and European History, Georgetown University

Anlass dieses Bandes ist der 100. Todestag Wilhelm Wundts, der als „Begründer der modernen Psychologie“ bekannt ist. Sein Verdienst war es, im Jahre 1879 an der Leipziger Universität das weltweit erste Institut für Experimentalpsychologie zu gründen. Des Weiteren vertrat er die Auffassung, dass die Psychologie weit mehr als eine experimentell ausgerichtete Naturwissenschaft darstelle, welche die von körperlichen Kräften ausgelösten seelischen Reaktionen als Forschungsgegenstand hatte. Er ging stattdessen davon aus, dass sämtliche psychische Prozesse autonom, nach einer eigenen immanenten Gesetzmäßigkeit verlaufen. Anhand eines langen Katalogs selbst ausgedachter diesbezüglicher Gesetze und Prinzipien—z.B. eines „Gesetzes der Heterogonie der Zwecke“ oder eines „Prinzips der schöpferischen Synthese“—wollte er die Wirkung aller psychischen Kräfte kausal erklären, sowohl die, die die psychische Entwicklung des Einzelmenschen bestimmten, als auch diejenigen, die kollektiv wirkten und schließlich den menschlichen Geist prägten. So ließ er das Experimentieren hinter sich und setzte als Ethnologe und Historiker seine Forschungen fort. Er verfasste eine zehnbändige „Völkerpsychologie“ und begann eine langjährige Zusammenarbeit mit seinem Leipziger Kollegen, dem Historiker Karl Lamprecht, dessen Projekt einer Kultur- und Universalgeschichte sich weitgehend auf Wundts Auffassungen der Psychologie aufbaute. Beide Projekte scheiterten an der Kritik der Fachkollegen (auch an den bissigen Angriffen Max Webers). Der Versuch, im 21. Jahrhundert den historiographischen Ruf Lamprechts zu rehabilitieren, ist im Grunde nicht über eine teilweise Neueinschätzung seiner Vorstellungen zur Globalgeschichte hinausgegangen.

Dem Psychologen Wundt ist eine günstigere Rezeption beschieden. Nach seinem Tod im Jahre 1920 konnte sein Einfluss dem Siegeszug des Behaviorismus und der vielen anderen naturwissenschaftlich-empirisch ausgerichteten Varianten der deutschen Psychologie zwar nicht standhalten, aber die Lage änderte sich gegen Ende des letzten Jahrhunderts. Der Berliner Psychologe Gerd Jüttemann, der Herausgeber des vorliegenden Bandes, hat sich seit den 1980er-Jahren als führender Nachfolger Wundts und dezidierter Verfechter einer umfassenden interdisziplinären Ausrichtung des Fachs ausgewiesen. In vielen Büchern und Aufsätzen, in Monographienreihen und als Mitherausgeber der Zeitschrift „Psychologie und Geschichte“ hat er sich vorgenommen, wie er 2015 auf der Website von H-Soz-Kult kundgab, eine „Historische Psychologie“ zu fördern und „eine Annäherung zwischen Historiographie und Psychologie“ in die Wege zu leiten. Um die dazu gehörenden Fragen aufgreifen zu können, hat er ein Team von Wissenschaftler/innen aus verwandten Fächern wie Psychoanalyse, Soziologie, Urbanistik, Erziehungswissenschaft, Geschichte und Alter Geschichte zusammengebracht. Was Form und Inhalt angeht, kann man diesen Band als den Dritten einer Reihe von Sammelbänden ansehen, die die interdisziplinären Überlegungen seiner Mitarbeiter/innen zu einschlägigen Themen präsentieren.

Wie die anderen Bände auch, beginnt dieser mit einer Darlegung der theoretischen Vorstellungen des Herausgebers, die den darauffolgenden Essays einen thematischen Fokus verleihen sollen. Das Ziel des ganzen Unterfangens sei es, in den Augen Jüttemanns, „ein Erfassen und Darstellen von Veränderungen des Menschlich-Psychischen in prähistorischer oder historischer Zeit“ zu ermöglichen (S. 13). Da es zu diesem Zweck an konkreten Belegen oder experimentell gesicherten Schlüssen fehle, sei man auf „evidente Theorien“ angewiesen, d. h. auf „Folgerungen, die trotz fehlender oder unzulänglicher konkreter Belege schlüssig und überzeugend begründet werden können“ (S. 14). Weil „geschichtliche Erklärungen letzten Endes psychologischen Charakter tragen,“ kommen schließlich entwicklungspsychische Theorien auch für Historiker/innen in Betracht (S. 15). Sowohl Lamprecht als auch Wundt hätten diesen Thesen beipflichten können, aber Jüttemann will vorsichtiger vorgehen bei der Auswahl der Theorien. Er schreibt von einer „Multiple[n] Autogenesetheorie“, wonach im Verlauf der menschlichen Entwicklung die Psychogenese sich vom biologischen Determinismus befreie und die Subjekttätigkeit und Kreativität des Menschen dann als autonome Faktoren in der historischen Weiterentwicklung hervortreten. Die Psychogenese werde so zur kollektiven Autogenese. Als Individuen oder Gemeinschaften haben Menschen fortan die „Gestaltungen des Lebens und seiner Weiterentwicklung“—sowohl die „Formen der humanen Willensbildung und des selbstbestimmten Handelns“ als auch „den Wandel des Psychischen in prähistorischer und historischer Zeit“—zu verantworten (S. 17). Diesen Prozessen liegen wiederum eine Reihe von „Urmotiven“ zugrunde, beispielsweise ein Spielmotiv, das zu unterschiedlichen Formen des Wettbewerbs führe, ein Vernichtungsmotiv und ein Empathiemotiv, das sich im kollektiven Solidaritätsprinzip ausdrücke.

Auf Grundlage dieser Überlegungen will Jüttemann also die Grenze zwischen der von der Natur bewirkten Evolution und der von Menschen gemachten Geschichte zurückverlegen und somit der Bereich der historisch-psychologischen Forschung erweitern, in der die Zusammenarbeit der jeweiligen Fachvertreter/innen gefragt ist. Es gelte, Theorien zu formulieren, um „geschichtliche Vorgänge angemessen erklären zu können“ (S. 28). Jüttemann bezieht sich namentlich auf Fragen 1) nach den psychischen Antriebskräften historischer Veränderungen; 2) nach der historischen Wirksamkeit dieser Antriebskräfte; und 3) nach den Folgen historischer Veränderungen für die menschliche Psyche (S. 21).

Der Rest des Bandes umfasst 31 kurze Beiträge, von denen die erste Hälfte sich „Grundlegenden Betrachtungen“ widmen. Hier findet man keine systematische Auseinandersetzung mit den vom Herausgeber gestellten Thesen, dafür aber eine reichhaltige Vielfalt von anregenden Gedanken, da und dort auch eine leise Kritik an den Thesen Jüttemanns. Erwähnt sei hier nur einige Themen. So skizziert der Soziologe Hans-Peter Müller die Gedanken Georg Simmels zur Psychologie der Vergesellschaftung, wobei der Nachdruck eher auf die Metaphysik als die Geschichte dieser Erscheinung fällt. In einer Diskussion der Auffassungen Wilhelm Diltheys macht der Philosoph Burkhard Liebsch darauf aufmerksam, dass man nicht von „einer“ Psychologie reden könne. Vielmehr gebe es diverse Spielarten dieser Wissenschaft, jede mit einer eigenen Geschichte (eine Feststellung, die auch auf die Geschichtswissenschaft zutrifft). Die Frage lautet also nicht, wie der Pädagoge Jens Dreßler in einem anderen Essay über Dilthey ausführt, „ob die Psychologie Grundwissenschaft der Geisteswissenschaften“ sei, sondern „welche Psychologie dies ist“. Und für Dilthey laute die Antwort die „verstehende Psychologie“, welche „in ihrem Kern hermeneutisch“ arbeite und so die von Menschen erlebte Welt nachzuvollziehen trachte (S. 100). In seinem Beitrag bietet der Philosoph Thomas Gil einen kurzen Überblick über die diversen Spielarten von Erklärungsbegriffen, unterscheidet zwischen „Erklärung“ und „Grund“, zwischen „Erklärung“ und „Verstehen“ und betont, dass es das Kennzeichen einer „psychologische Erklärung“ sei, auf „mentale Entitäten“ Bezug zu nehmen—eine Proposition, die die Schlussfolgerung Diltheys zu bestätigen scheint, dass die historische Welt, die sich psychologisch erklären lasse bzw. psychologische Gründe erfordere, sich schließlich aus geistigen Erscheinungen zusammensetze. Wie dem auch sei, weitere Beiträge über die Evolution der Vormenschen und die Evolutionäre Psychologie erheben die erkenntnistheoretische Frage, wie Historiker/innen und Psycholog/innen überhaupt in der Lage sind, den hermeneutischen Zugang zur erlebten geistigen Welt der Vor- oder Frühzeit zu finden. Für Biologe/innen sei das Erleben der Individuen, wie Ulrich Kull—ein Biologe—merkt, eben „nicht fassbar“ (S. 127).

In der zweiten Hälfte des Bandes wenden sich die Beiträge einem Potpourri an „Ausgewählten Namen und Themen“ zu. Hier befinden sich Lamprecht neben Lucien Febvre, Norbert Elias neben Ludwig Klages, Steven Pinker neben Jeremy Bentham als Gegenstände der Essays, während weitere Beiträge die Psychologie u. a. der Revolutionen, Kriege, Genozide und Pandemien aufgreifen.

Historiker/innen sind in beiden Teilen des Bandes vertreten. So liefert der Mannheimer Mediävist und Frühneuzeithistoriker Hiram Kümper im zweiten Teil eine faire und luzide biographische Würdigung Lamprechts. Johannes Dillinger paart eine knappe, recht interessante historische Fallstudie über Auffassungen des Teufels mit Gedanken über dessen Bedeutung als psychologische Erscheinung. Unter der Rubrik „grundlegenden Betrachtungen“ reflektiert Annette Meyer über das Geschichtsbewusstsein im Zeitalter der Aufklärung, das sie als „Verzeitlichung oder ‚Historisierung‘ des Denkens“, also als „grundlegenden Bewusstseinswandel“ darstellt (S. 42). Zwei weitere Historiker, die entlang der Schnittlinie zwischen Geschichtswissenschaft und Philosophie gearbeitet haben, äußern sich zum Projekt einer historischen Psychologie auf eine Art und Weise, die sich mit den Vorstellungen Jüttemanns vereinbaren lässt. Der Bielefelder Historiograph Jörn Rüsen schreibt etwa von einer „universalen Typologie historischer Sinnbildung durch Erzählen“, „eine Theorie ontogenetischer Sukzession von Sinnbildungsebenen“ (S. 37–38), die man als Aspekt der psychogenetischen Entwicklung auslegen könnte. Karl-Heinz Metz, der bereits eine profunde Analyse der Geschichtsauffassungen Karl Lamprechts vorgelegt hat, geht in seinem Essay von einer anzustrebenden „Theoriefähigkeit“ der Geschichte aus, die sich vor allem mit Hilfe der Psychologie realisieren lasse. Es handele sich um das Streben nach historischer Objektivität als heuristisches Ziel. Metz schreibt von der Fähigkeit der Psychologie, „Modelle zu formulieren und empirisch operable zu machen“, die einen Weg bieten zur „Ausbildung des theoretischen Zentrums einer analytischen Historie“ (S. 92).

Nicht wenige Historiker/innen werden hier wohl einwenden wollen, dass schon die Rede von universellen Typologien oder einem theoretischen Zentrum der Historie zu weit in den Bereich der Psychologie wandert. Aus dieser Sicht liege der Stein des Anstoßes in der grundsätzlichen Frage nach historischen Universalien bzw. metahistorischen Erscheinungen, ohne welche das Projekt einer historischen Psychologie schwerlich vorzustellen sei. Dieses Problem, muss man betonen, ist in diesem Band offen zur Kenntnis genommen, wenn auch nicht gelöst. In einem hilfreichen, weil gespitzt formulierten Beitrag befassen sich die Heidelberger Psychologen Alexander Nicolai Wendt und Joachim Funke mit dem Begriff des „Allgemeinen Psychologischen Universalismus (APU)“, welche sie positiv als die „Behauptung einer sinnvollen Struktur“ charakterisieren, „die alles psychische Leben kommensurabel macht“ (S. 108). Den Gegenpol dazu, der eine derartige Struktur als historische Erscheinung ablehnt, verwerfen die Psychologen als „Radikalen Psychologischen Historismus (RPH)“, schließlich als konsequenten Relativismus oder gar Solipsismus. Historiker/innen, die diese Proposition nicht akzeptieren wollen, können in diesem Band in dem Beitrag Michael Sonntags über die Vorbehalte Lucien Febvres gegen den Anthropologismus Unterstützung finden. Soviel scheint klar: die Spannung zwischen den Grundpositionen Universalismus und Historismus verlangt nach Vermittlung oder Kompromiss, falls der Gegensatz nicht eine unüberwindbare Hürde gegen eine historische Psychologie bilden soll, wie sie in diesem Band gefördert wird. Während die Vertreter der einen Position auf die „Psychizität des Historischen“ als Grundannahme beharren, legen sich viele Befürworter der anderen Position auf der „Historizität der Psyche“ fest.

Wie aus den scharfsinnigen Bemerkungen des Philosophen Emil Angehrn hervorgeht, lassen sich die Schwierigkeiten am Begriff der Psychogenese ablesen. Solange das Individuum den historischen Gegenstand bildet, dessen psychische Entwicklung es zu analysieren gilt, erscheint das Unternehmen machbar als historische Biographie (vorausgesetzt, die einschlägigen Belege sind vorhanden), wie z. B. der Beitrag Peter Conzens über Erik Erikson in diesem Band nahe legt. Wenn es aber gilt, „die“ Psyche zu analysieren (auf Menschheitsebene also), fragt man sich, ob nicht schon der Versuch letzten Endes die Gleichsetzung des Individuums mit dem Universellen (nach Angehrn: dem Übermenschheitlichen) vorschreibt. Wie auch Max Weber hervorhob, tauchte dieses Problem des Öfteren bei dem Ethnologen Wundt und dem Universalhistoriker Lamprecht auf. Das ist jedenfalls einer der Gründe, warum viele Historiker/innen (mindestens im Europa und Nordamerika des frühen 21. Jahrhunderts) eher dazu neigen, intermediären, vergleichsweise kohärent definierbaren sozialen oder kulturellen Bildungen wie Klassen, Staaten, Imperien, Geschlechtern und Kohorten und den dazu gehörenden kollektiven Ideen oder Mentalités als Forschungsthemen den Vorzug zu geben. Deshalb könnte man wohl auch sagen, Vertreter/innen der beiden Fächer Psychologie und Geschichtswissenschaft sind durch unterschiedliche Erkenntnisinteressen getrennt.

Trotz dieser Probleme ist der vorliegende Band sehr zu begrüßen. Eine offene Auseinandersetzung über die vielen erkenntnismethodischen Fragen, die hier erhoben und diskutiert werden, kann sich nur zugunsten sowohl der Historiker/innen wie auch der Psycholog/innen auswirken, die daran teilnehmen und voneinander lernen wollen.

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