Als der SPD-Politiker Kevin Kühnert 2019 anregte, über die Umwandlung von Großunternehmen in Gemeinschaftseigentum nachzudenken, löste dies eine Welle der öffentlichen Empörung aus, die bis in seine eigene Partei reichte.1 Dabei hält Artikel 14 Grundgesetz durchaus die Möglichkeit der Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit bereit. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Staat Einfluss auf die Besitzverhältnisse von Unternehmen nimmt. Neben Unternehmen, die sich ganz oder teils in Staatsbesitz befinden, interveniert die Politik auch immer wieder, wenn es sich um bestimmte (ausländische) Investorengruppen und sicherheitsrelevante Industriezweige handelt. Die Verteilung von Macht und Kontrolle im Unternehmen ist somit bis heute ein höchst kontrovers diskutiertes Feld.
Die Habilitationsschrift von Felix Selgert nimmt sich dieses Problems aus historischer Perspektive an und fragt nach den Verschiebungen der im Aktienrecht kodifizierten Unternehmenskontrolle zwischen 1870 und 1937. Dabei geht es ihm darum, welche gesellschaftlichen Gruppen auf den Gesetzgebungsprozess Einfluss nehmen konnten. Zwar existierte seit 1892 mit der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) eine attraktive Alternative zur Aktiengesellschaft, doch stellte die Aktiengesellschaft zweifellos die dominante Organisationsform für Großunternehmen dar, da sie besser in der Lage war, große Kapitalsummen zu mobilisieren und Investitionsrisiken zu diversifizieren. Dabei unterlagen Aktiengesellschaften im Untersuchungszeitraum einem grundsätzlichen Wandel, der in der Forschung als Übergang vom eigentümer- zum managergeführten Unternehmen bekannt ist.
Vor diesem Hintergrund unterscheidet Selgert für die Zeit zwischen 1870 und 1937 drei Regime der Unternehmenskontrolle, die sich weitgehend an den politischen Systemen des Deutschen Reichs orientieren. Das erste Regime basierte auf der Aktienrechtsnovelle des Jahres 1870, welche durch das liberale Prinzip der Vertragsfreiheit gekennzeichnet war und 1884 bzw. 1897 zugunsten der Kontrollrechte des Aktionärs geändert wurde. In der Weimarer Republik schwächten das Aufkommen von Mehrheitsstimmrechtsaktien sowie ein Rückgang der Offenlegungspflichten dann die Kontrollmöglichkeiten der freien Aktionäre. Hierauf reagierte die Reichsregierung 1931 mit der Einführung einer verpflichtenden externen Bilanzprüfung. Auf die parallele Begrenzung der Aufsichtsratsmandate und der Größe des Aufsichtsrats geht Selgert nur am Rande ein, obschon Netzwerkspezialisten wie Paul Silverberg infolgedessen viele Positionen verloren und sich damit die Zusammensetzung der Kontrollorgane spürbar veränderte.2 Das bis in die 1990er-Jahre prägende Aktiengesetz aus dem Jahr 1937 bestätigte die Offenlegungspflichten, doch es zementierte zugleich den Verlust direkter Einflussmöglichkeiten der freien Aktionäre zugunsten einer starken Vorstandsposition.
Methodisch orientiert sich die Arbeit an der Idee der Vetospieler, die davon ausgeht, dass die Änderung des gesetzlichen Rahmens das Ergebnis von Verhandlungen zwischen solchen „Spielern“ ist. Dabei handelt es sich in der Regel um Kabinette, Parlamente und Staatsoberhäupter. Ziel der Arbeit ist es, diese Vetospieler zu bestimmen und ihre Präferenzen zu analysieren. Um auch die politische Einflussnahme der mit der Aktiengesellschaft verbundenen Gruppen miteinbeziehen zu können, verbindet Selgert die Idee der Vetospieler mit dem Advokatenkoalitionen-Ansatz. Dieser Ansatz erlaubt es, nicht nur klassische Interessengruppen wie Verbände, sondern auch Wissenschaftler, Anwälte und Journalisten in der Analyse zu berücksichtigen. Damit wählt Selgert einen Weg, der es ihm erlaubt, die Änderungen im Aktienrecht in verschiedenen politischen Systemen zu untersuchen, in denen die Stellung von politischen Entscheidungsträgern und Interessengruppen unterschiedlich gelagert war. Der Frage, inwiefern Entscheidungsstrukturen in Unternehmen und im politischen System miteinander in Einklang stehen (müssen), wird hingegen nicht weiter nachgegangen.
Grundsätzlich gliedert sich die Arbeit in fünf Großkapitel, die jeweils ein Unterkapitel zum Kaiserreich, zur Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus enthalten. Die interne Organisation der Kapitel ist somit identisch. Das erste Kapitel gibt zunächst einen Überblick über die rechtliche Entwicklung. Die Aktienrechtsnovelle von 1870 legte den Grundstein für den Aktionärsschutz im Kaiserreich. Aufgrund der starken Kapitalnachfrage in den 1860er-Jahren war die Liberalisierung des Gesellschaftsrechts sinnvoll, doch machte die 1873 einsetzende Finanzmarktkrise die Defizite der überhasteten Gesetzgebung deutlich. Dies führte zur Reform Anfang der 1880er-Jahre. Mit dem Ersten Weltkrieg und der Inflation wandelte sich das Kapitalmarktumfeld. Die Zahl der renditeorientierten Aktionäre nahm zu und die Interessengegensätze zwischen Aktionären und Unternehmensleitungen verschärften sich – nicht zuletzt aus Furcht vor einem Ausverkauf der deutschen Wirtschaft an ausländische Investoren. Das Reichsgericht entwickelte daher die Rechtsauffassung, die Ressourcen des Unternehmens seien stärker zu schützen. Doch in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre kehrte sich die Kapitalmarktentwicklung wieder um und mit den im Zuge der Weltwirtschaftskrise offen zu Tage tretenden Bilanzverschleierungen traten alsbald neue gesetzgeberische Maßnahmen in Kraft. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten verhinderte eine Fortführung der 1928 begonnenen Gesetzgebungsarbeiten; stattdessen wurde das Aktienrecht nach NS-Gesichtspunkten umgestaltet.
Das zweite Kapitel identifiziert die relevanten Vetospieler und Agendasetzer. Außerhalb der direkt am politischen Entscheidungsprozess beteiligten Elite standen vor allem Aufsichtsräte, Vorstände und Bankiers sowie Anwälte, Richter und Wirtschaftswissenschaftler. Weder die freien Aktionäre noch die Arbeiterschaft spielte für den Wandel der Unternehmenskontrolle hingegen eine Rolle. Mit dem Nationalsozialismus fielen Journalisten, Publizisten und Juristen aus der politischen Elite heraus. Die Zahl der für die Ausgestaltung des Aktionärsschutzes und der Offenlegungsvorschriften bedeutsamen Vetospieler nahm im Laufe der Zeit ab. Während das Aktiengesetz von 1884 noch das Verhandlungsergebnis der Bundesstaaten, der Reichsleitung und der Reichstagsparteien war, verlor der Reichstag in der Weimarer Republik seine Position als Vetospieler. Nach 1933 blieb einzig die Reichsregierung als kollektiver Vetospieler übrig.
In Kapitel drei wird analysiert, welche Verhandlungsstrategien die Vetospieler anwandten und wer sich durchsetzen konnte. Der Schutz der Gesellschaft vor den Eigeninteressen der Aktionäre stellte hierbei einen Grundkonflikt dar. Im Kaiserreich wollten vor allem Preußen, die Reichsämter und die konservativen Parteien die Position der Aktionäre gegenüber Vorstand und Aufsichtsrat stärken; Bayern, Hamburg und die liberalen Parteien sahen dagegen das Unternehmen als ein schützenswertes Rechtsgut an. In der Weimarer Republik trat das Preußische Handelsministerium für die Kontrollrechte der Aktionäre ein; Reichsjustiz- und Reichswirtschaftsministerium tendierten demgegenüber zu einer Stärkung der Führungsorgane. Nichtsdestotrotz hatte sich bei allen Vetospielern bis Anfang der 1930er-Jahre der Grundsatz durchgesetzt, dass die Gesellschaft ein eigenständiges, schützenswertes Rechtsgut darstelle. Im Nationalsozialismus setzten sich dann besonders das Reichsjustizministerium und die NSDAP für eine Entmachtung der Generalversammlung und eine Stärkung des Vorstandsvorsitzenden ein.
Kapitel vier und fünf identifizieren sodann die Advokatenkoalitionen und fragen, inwiefern es ihnen gelang, Vetospieler von ihrer Position zu überzeugen. Sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik gab es zwei große Advokatenkoalitionen. Während Aufsichtsräte, Vorstände und (Groß-)Bankiers auf Seiten der Reformskeptiker standen, plädierten juristische Experten wie Handelsrechtler und Richter für eine Reform. Ab Mitte der 1920er-Jahre taten sich vor allem die Handelspresse und Privatbankiers als Kritiker des bestehenden Rechtszustands und wichtige Impulsgeber hervor. Mit der Arbeiterschaft und der SPD existierte in Weimar eine weitere Koalition, die aber Sonderinteressen verfolgte und – wie die freien Aktionäre – letztlich kaum Einfluss auf die Ausgestaltung des Aktienrechts nehmen konnte. Dieser Befund ist angesichts der breiten Forderung nach einer Sozialisierung großer Industriebetriebe oder der Einführung des Betriebsrats in der Weimarer Republik durchaus beachtenswert. Im Nationalsozialismus fanden juristische Experten, Wirtschaftsjournalisten und Privatbanken kaum noch Gehör; an ihre Stelle traten NS-Ideologen und Parteivertreter. Dass die Zugehörigkeit zur politischen Elite im Nationalsozialismus weniger an exklusives Fachwissen gebunden war, überrascht kaum.
Insgesamt zeigt die stringent systematisch gegliederte Studie wichtige Wechselwirkungen zwischen den politischen Standpunkten der beteiligten Akteure und der rechtlichen Regulierung des Aktionärsschutzes bzw. der Offenlegungsverpflichtungen. Die Verschränkungen zwischen wirtschaftspolitischen Vorstellungen und rechtlicher Implementierung unter den Bedingungen bestimmter Akteurskonstellationen und spezifischer politischer wie ökonomischer Rahmenbedingungen hätte man anhand des Ineinandergreifens von Akteuren, Präferenzen und Koalitionen noch stärker betonen können. Überzeugend ist das Ergebnis, dass Änderungen am Aktienrecht oftmals einen Versuch darstellten, Betrügereien einzudämmen und eine stabile ökonomische Entwicklung zu gewährleisten – auch wenn dies nicht immer gelang. Zukünftige Untersuchungen zur sozialen Praxis im Unternehmen werden dieses Buch über die formalgesetzliche Verteilung von Macht und Kontrolle gewiss zu Rate ziehen.
Anmerkungen:
1 Umstrittene Aussagen zum Sozialismus. SPD distanziert sich von Kühnert, in: Süddeutsche Zeitung, 2. Mai 2019, https://www.sueddeutsche.de/politik/kevin-kuehnert-bmw-sozialismus-1.4429163.
2 Boris Gehlen, Paul Silverberg (1876-1959). Ein Unternehmer. Stuttgart 2007, S. 325-331; Paul Windolf, Unternehmensverflechtung im Organisierten Kapitalismus. Deutschland und USA im Vergleich 1896-1938, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 51 (2006), S. 191-222.