Die Verbreitung und Diskussion von Konzepten von Adel und Aristokratismus, so die These von Jan de Vries‘ Dissertation, sind in „ihrer Wirksamkeit und Prägekraft“ (S. 9) für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bislang vollkommen unterschätzt worden. Dies gelte insbesondere für den Bereich der literarischen Produktion, zumal wenn man „anders als in der sozialgeschichtlichen Adelsforschung üblich, nicht eine konkrete soziale Gruppe, sondern ein sprachlich-kulturelles Konzept ‚Adel‘“ in den Blick nehme (S. 9). Im Hinblick auf die Quellen gelte es zudem, den von einer historischen Begriffsgeschichte normalerweise beachteten Höhenkamm der Literatur zu verlassen und auch populäre und breitenwirksame Produktionen in den Blick zu nehmen. Insofern verspricht der Verfasser erhebliche Leerstellen zu füllen.
Freilich, schaut man auf den in den letzten zwanzig Jahren erheblich gewachsenen, von de Vries berücksichtigten und nicht berücksichtigten Forschungsstand, so scheint die Lücke doch nicht ganz so groß. Die seit den 1990er-Jahren in Gang gekommene, zuletzt wieder etwas eingeschlafene, Adelsforschung zum 19. und 20. Jahrhundert zeichnet sich gerade durch die Ergänzung und Überwindung simplifizierender sozialhistorischer Prämissen aus. Konsequent hat sie das Potenzial der Kultur-, Begriffs- und Ideengeschichte ausgetestet und sich mit dem Wertehimmel des Adels, der Rekonzeptionalisierung von Adel durch Mitglieder der sozialhistorischen Formation, aber auch durch bürgerliche Denker, sowie mit zahlreichen Neuadelsentwürfen nach 1900 bis hin zu jenen der Nationalsozialisten beschäftigt. Hierbei haben nicht nur „große“ Denker Aufmerksamkeit gefunden, sondern es sind auch hunderte populäre Autobiographien, Massen an Zeitschriftenartikeln und ungedruckten Archivquellen analysiert worden. Nicht zuletzt zeigte sich, dass eine präzise gesellschaftliche Grenzziehung zwischen Adel und Bürgertum, zwischen adligen und bürgerlichen Ideen, Ideologien und Werten nicht mehr existierte, sondern sich vielfach ein Bezug auf allgemein verbreitetes konservatives, kulturkritisches, rassistisches etc. Gedankengut beobachten lässt.1 Insofern stellt die hier zu besprechende Arbeit von de Vries, entstanden als literaturwissenschaftlicher Beitrag im Rahmen eines historisch-germanistischen interdisziplinären Forschungsprojekts an der Universität Marburg, eher eine Ergänzung dar, als dass sie ein weitgehend unberührtes Feld erschließt.
Dennoch bietet die Arbeit zweifelsohne neue Erkenntnisse und nutzt mit der digitalen Korpuslinguistik, die nach Kookkurrenzen von Begriffen sucht, einen innovativen methodisch Zugriff auf Zeitschriften als gedruckte Massenquellen, der verdeutlicht, dass interdisziplinäres Arbeiten fruchtbar sein kann. Neben Einleitung und Schluss (Kapitel 1 und 6) gliedert sich der Text in vier Abschnitte. Kapitel 2 (S. 44–88) wendet sich der „Semantik der Kulturkritik“ zu. In guten Teilen stellt es eine erweiterte Ausführung der methodisch-theoretischen Überlegungen der Einleitung dar. Kulturkritik wird interpretiert als „Metaframe“, auf den sich die untersuchten Aristokratismusdiskurse seit dem späten 19. Jahrhundert bezogen. Sie wird weniger inhaltlich definiert, sondern in Anlehnung an die neuere Forschung als Wahrnehmungsmodus verstanden, der, durch Niedergangsnarrative und Binäroppositionen geprägt, die Weltsicht der Anhänger formte. Oftmals assoziative, sachlich heute häufig abstrus erscheinende, Verbindungen ließen sich so herstellen. Einzelne Schlagworte eröffneten bei kulturkritischen Leser:innen ganze, über die Zeit freilich re-interpretierbare Bedeutungshorizonte.
Ausgehend vom historiographischen Konzept der „Adeligkeit“ untersucht im Anschluss Kapitel 3 (S. 89–118) „Standardwerte“ und Metaphern von Adel sowie deren Nutzung in kulturkritischen Debatten. Die genealogisch fundierte „Kette“ bzw. das zunehmend rassistisch ausgedeutete „Blut“ und damit in Verbindung stehende Metaphoriken werden hierbei neben dem Duktus einer „angeborenen Überlegenheit“ aus den von Marcus Funck und Stephan Malinowski ermittelten Fixsternen des adligen Wertehimmels herausgegriffen.2 Das folgende vierte Kapitel (S. 119–232) untersucht Diskussionen von Aristokratismus zwischen der Jahrhundertwende und dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In ihren Debatten und Entwürfen des Aristokratischen abstrahierten Autor:innen häufig, aber wie die Diskussion von Hedwig Courths-Mahler zeigt, nicht durchgängig vom historischen Adel. Julius Langbehn wird als zentrale Persönlichkeit für die Popularisierung von Aristokratismus-Ideen vorgestellt, am Beispiel des Grenzboten fahndet de Vries nach Kookkurrenzen von Adelsideen in einer Vielzahl von kürzeren Zeitschriftenartikeln. Die Funde zeigen nicht nur, dass Bürgerliche Debatten über Adelskonzepte führten, sondern dass in den Diskussionen die Beziehung eines als „Solitär“ imaginierten „adligen“ Menschen zur Gesellschaft einen wichtigen Gegenstand darstellte. Daneben behandelten insbesondere Lehrer und Professoren Konzepte einer „Geistesaristokratie“.
Das Kapitel 5 (S. 233–310) wendet sich schließlich ausführlich dem Neuadelskonzept Stefan Georges zu, wobei der Begriff „Konzept“ eigentlich zu hoch gegriffen war. Litten schon die im vorherigen Abschnitt thematisierten Adelsentwürfe oftmals unter Inkonsistenz und Deutungsoffenheit, so bildete letzteres bei George geradezu ein Kernelement. Lyrisch entworfen, metaphorisch argumentierend, mangelte es dem Entwurf an Stringenz, womit sich freilich die Deutungsmacht des Autors erhöhte. Gleichzeitig bemühten sich Georges Jünger um mögliche Auslegungen, was de Vries beispielsweise am Problem der (nicht möglichen) Erblichkeit der Eigenschaften eines Aristokraten diskutiert. Die entwickelten Positionen unterschieden sich jedoch teils erheblich. Die Offenheit von Georges Konzept erlaubte allerdings nicht nur Diskussionen mit und unter seinen Anhängern, sondern ermöglichte es auch Außenstehenden und nach 1933 den Nationalsozialisten, sich als Umsetzer George‘scher Ideen zu verstehen.
Insgesamt kann de Vries vielfältige Verästelungen und bestimmte Diskussionselemente der Adelsdebatte überzeugend aufzeigen. Diese bezogen sich nicht auf den historischen, sondern zumeist auf einen irgendwie neu zu denkenden Adel. Er ergänzt damit die bisherige Forschung und bestätigt sie darin, dass Neuentwürfe von Adel in aller Regel praktisch kaum bzw. nur mit erheblicher Gewalt umzusetzen waren und dass sich die Autor:innen der Projekte mit zahlreichen Inkonsistenzen herumplagten. Populär blieb die Suche nach einem neuen Adel aber dennoch, weil der von den Diskutierenden beobachtete allgemeine Niedergang eine neue Führungsschicht zu erheischen schien.
Es gibt aber auch einige kritisch anzumerkende Punkte. Bei der korpuslinguistischen Suche nach „Aristokratismus“ von „Standardwerten“ des historischen Adels auszugehen, könnte Probleme erzeugt haben – die Auswahl von Suchbegriffen bedingt ja stets das Ergebnis – zumal es sich um eine, wie häufig im Buch, nicht begründete Auswahlentscheidung handelt. Die Theorie der Frame-Analyse, im Fazit noch einmal als besonders innovatives Angebot der Germanistik an Historiker:innen gelobt, findet sehr uneinheitliche Anwendung im Text und scheint zuweilen Banalitäten hinter komplizierten Begrifflichkeiten zu verbergen. Denn dass bei der Verwendung von Begriffen wie „Adel“ bei Leser:innen um 1900 zahlreiche Konzepte und Aspekte automatisch mitgedacht wurden, dass andererseits Bedeutungsverschiebungen ausführlichere Thematisierung erforderten, hat die adelshistorische Forschung ausführlich gezeigt. Auch lässt sich in der Arbeit die Auswertung der 13 angegebenen Zeitschriften, die eine politische Meinungsvielfalt widerspiegeln und auf deren Nutzung sich das Fazit noch einmal ausdrücklich bezieht, kaum nachvollziehen. Lediglich die Analyse des Grenzboten wird ausführlicher thematisiert. Die anderen Zeitschriften stehen allerdings online zur eigenständigen Nachlese zur Verfügung.3 Häufig eher implizit als explizit arbeitet die Studie mit einer Gegenüberstellung von historischem Adel samt starrer Selbstvorstellung und innovativen bürgerlichen Kulturkritikern. Dies wird weder der Empirie noch dem Forschungsstand gerecht. Mitglieder des alten Adels waren Teil der kulturkritischen Debatte, auch jener über einen neuen Adel. Insofern ist hier von einer viel engeren Verzahnung von Diskussionen auszugehen, denen nachzuspüren es wert gewesen wäre. Dies ist zudem nur ein Indiz, wie die Arbeit von einer gründlicheren Rezeption und Auseinandersetzung mit der jüngeren Adelsforschung hätte profitieren und im Austausch damit größeren Erkenntnisertrag hätte generieren können.
So bleibt am Ende aus geschichtswissenschaftlicher Sicht eine willkommene Ergänzung des Forschungsstands, die noch einmal zeigt, dass Debatten um Adel als Gruppe und als gesellschaftliches Konzept die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zutiefst prägten – bis hinein in die Trivialliteratur. Für die Germanistik mag der Ertrag der Arbeit höher zu veranschlagen sein, dies kann der Rezensent nicht beurteilen.
Anmerkungen:
1 Als hier einschlägige Auswahl aus der neueren Adelsforschung: Alexandra Gerstner, Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzepte zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008; Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2004 (jetzt englisch: Nazis and Nobles. The History of a Misalliance, Oxford 2020); Daniel Menning, Standesgemäße Ordnung in der Moderne. Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945, München 2014; Johanna M. Singer, Arme adlige Frauen im Deutschen Kaiserreich, Tübingen 2016.
2 Marcus Funck / Stephan Malinowski, Geschichte von Oben? Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 236–270.
3 Siehe: http://aristokratismus.online.uni-marburg.de (26.03.2021).