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Titel
Risikoökonomie. Eine Geschichte des Börsenterminhandels


Autor(en)
Engel, Alexander
Erschienen
Frankfurt am Main 2021: Campus Verlag
Anzahl Seiten
542 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carsten Burhop, Institut für Geschichtswissenschaft, Abt. VSWG, Universität Bonn

Der Google Books Ngram Viewer zeigt für die englischsprachige Welt ein vorübergehendes Auftauchen des Begriffs „risk“ in den 1920er-Jahren und einen drastischen Anstieg mit anschließender Stagnation der relativen Begriffsverwendungshäufigkeit zwischen den späten 1960er- und späten 1990er-Jahren. Im deutschen Sprachraum wurde das englische „risk“ vor allem in den 1990er- und 2000er-Jahren verwendet – bis zu einem abrupten Rückgang in den Jahren 2007/08. Die Nutzung des Wortes „Risiko“ nahm demgegenüber zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den frühen 1990er-Jahren stetig zu, um anschließend eine inflationäre Verwendung bis zur Weltfinanzkrise von 2007/08 zu erleben. Kurz nachdem die Nutzung von „risk“ und „Risiko“ im deutschen Sprachraum ihren – vorläufigen – Höhepunkt erreicht hatte, nahm Alexander Engel seine Forschung für die hier in Buchform vorliegende Göttinger Habilitationsschrift auf, um die geschichtlichen Ursprünge der im damaligen Diskurs allgegenwärtigen „Risikoökonomie“ zu beschreiben und zu verstehen.

Engel entfaltet sein Argument in sechs Abschnitten. In der Einleitung weist er zunächst die Verwendung einer heutigen wissenschaftlichen Definition von Terminhandel zurück, weil für ihn der „zeitgenössische Deutungskampf“ (S. 12) im Mittelpunkt des Interesses steht. Für den Leser hingegen wäre eine transparente Anbindung an gegenwärtige Begrifflichkeiten vermutlich hilfreich gewesen. Insbesondere der zentrale Begriff „Future“ (also ein unbedingter Terminkontrakt, bei dem Käufer und Verkäufer eine Verpflichtung eingehen) hätte in Abgrenzung zum Begriff „Option“ (ein bedingter Terminkontrakt, bei dem nur der Verkäufer eine Verpflichtung eingeht) erläutert werden können. Immerhin legt Engel ein wichtiges, epochenübergreifendes Charakteristikum von Terminhandel dar: Transaktionen werden „nicht sogleich vollzogen, sondern erst zu einem späteren Termin“ (S. 12). Man kann beispielsweise bereits heute einen Future über eine Tonne handelsüblichen Weizen mit Auslieferung am 31. Januar 2022 kaufen. Am Fälligkeitstermin kann man nun die Ware tatsächlich liefern lassen oder die Preisdifferenz zwischen dem vereinbarten Terminpreis und dem am 31. Januar 2022 geltenden Tagespreis ausgleichen. Liegt der Tagespreis (auch: Kassapreis oder Spotpreis) an diesem Tag über dem einstmals vereinbarten Terminpreis, dann hat der Spekulant einen Gewinn erzielt, weil er sich die Differenz zwischen Tages- und Terminpreis auszahlen lassen kann. Relevant ist zudem die Standardisierung der Verträge – daher ist im Beispiel von „handelsüblichen Weizen“ die Rede. Im Gegensatz zu Wertpapieren (z.B. Aktien oder Anleihen) müssen Waren zunächst standardisiert bzw. in Kategorien eingeteilt werden. Beispielsweise kann man Rohöl u.a. in den chemisch unterscheidbaren Sorten „Brent“, „West Texas Intermediate“, „Dubai Fateh“ oder „Alaska North Slope“ beziehen. Die Standardisierung von Produkten wird von Engel mehrmals angesprochen und erläutert und dieser Prozess unterscheidet den Warenterminhandel vom Wertpapierterminhandel. Sodann legt Engel in der Einleitung seine Thesen dar (S.14–20): Erstens sind „Terminmärkte als historisch kontingente Einrichtungen“ zu betrachten; Zweitens sind Terminmärkte kein nationales, sondern ein inter- und transnationales Phänomen; Drittens soll der „wandelnde Umgang mit Risiken in modernen Gesellschaften“ untersucht werden. Ermöglichen Institutionen wie Warenterminbörsen lediglich das Verschieben von Risiken – eine im späten 19. Jahrhundert in Deutschland verbreitete Sichtweise – oder eröffnen sie Gewinnchancen und Sicherheit im Sinne eines seit den 1970er-Jahren populären Risikomanagements oder erzeugen sie lediglich Risiken im „neoliberalen Kasinokapitalismus“?

Auf die Einleitung folgen „Theoretische Vorüberlegungen“ im Umfang von rund 40 Seiten und anschließend chronologisch angeordnete Kapitel, in denen sich Engel mit der Entstehung des Terminhandels bis 1870 (ca. 70 Seiten), seine Entfaltung bis zur Weltwirtschaftskrise (ca. 100 Seiten), die darauffolgende Einhegung bis in die 1960-Jahre (ca. 100 Seiten), seine Entgrenzung seit den 1970er-Jahren (ca. 100 Seiten) und schließlich mit der „Entkörperung des Terminhandels“ ab den 1990er-Jahren (ca. 35 Seiten) auseinandersetzt. Als besonders anregend erweist sich meines Erachtens der wissenschaftshistorische Abschnitt der theoretischen Vorüberlegungen – was verstanden Ökonomen und Soziologen unter dem Begriff „Risiko“ und welche Beziehungen lassen sich zwischen den variierenden Definitionen auffinden? Diese Überlegungen münden in einen dreidimensionalen Risikobegriff, der sich auf „Quelle“, „Regelhaftigkeit“ und „Zuordnung“ von Risiken (S. 47) beziehen kann. Risiken werden sodann mithilfe der Risikotheoretiker Knight, Beck und Luhmann konkret angesprochen. Diese Gedanken sind einleuchtend und überzeugend, werden aber im weiteren Verlauf der Arbeit zu selten und wenig systematisch aufgegriffen (u.a. S. 174, S. 209, S. 224, S. 239, S. 337, S. 381 und S. 430). Bemerkenswert ist auch die in Kapitel 3 herausgearbeitete Erkenntnis, dass der Rückgang des Warenterminhandels seit dem Ersten Weltkrieg zwar durch regulatorische Eingriffe mitverursacht worden ist, aber auch eine Folge von Konzentration und Kartellierung war. Wenn Preise von Kartellen oder innerhalb von Konzernen als Transferpreise festgelegt werden, erübrigt sich eine Preissicherung durch Termingeschäfte.

Die empirischen Abschnitte stehen auf einem stabilen Fundament zeitgenössischer und aktueller sozialwissenschaftlicher Literatur. Darüber hinaus hat Engel Parlaments- und Rechtstexte, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Filme und Datenbanken sowie Archivalien des Chicago Board of Trade ausgewertet. Es liegt also eine ausgesprochen materialreiche Arbeit vor. Allerdings wäre es durchaus hilfreich gewesen, wenn Engel den Untersuchungsgegenstand einerseits erweitert und andererseits begrenzt hätte.

Im Untertitel kündigt die Arbeit eine „Geschichte des Börsenterminhandels“ an, obwohl sie sich weitestgehend nur Warenfutures widmet und Wertpapiertermingeschäfte nur am Anfang und Ende näher betrachtet. Die technische Begründung, Wertpapierterminmärkte auszuschließen, weil dort lange Zeit keine Futures gehandelt wurden, sondern die Transaktionsabwicklung durch Skontrieren erfolgte (S. 365), überzeugt mich nicht. Außerdem führt Engel selbst den Handel mit Warenfutures auf den Wertpapier- bzw. Aktienoptionshandel zurück (Kapitel 1.3 bzw. der erneute Hinweis auf S. 413). Schlüssiger wäre es also gewesen, den Wertpapierterminhandel nicht nur am Anfang und Ende des Untersuchungszeitraums miteinzubeziehen, sondern ihn durchgängig zu verfolgen. Im vorliegenden Fall drängt sich bei der Lektüre nämlich der Eindruck auf, dass die Untersuchung von Warentermingeschäften von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis ca. 1930 ein relevanter Untersuchungsgegenstand war und dass für die Jahre davor und ab 1970 Wertpapiertermingeschäfte vom Autor behandelt werden, um zu überdecken, dass Warenfutures nur für wenige Jahrzehnte eine herausgehobene Rolle im Börsengeschehen gespielt haben.

Eine sinnvolle Begrenzung wäre hingegen meines Erachtens, trotz der gegenteiligen Einschätzung von Engel (S. 16), die Beschränkung des Untersuchungsraumes auf die Vereinigten Staaten und Deutschland gewesen. Damit hätte der Autor nur eine vergleichende und keine globalhistorische Arbeit vorgelegt, das Argument hätte aber schlüssiger entfaltet werden können. In der vorliegenden Form lenken die gelegentlichen globalhistorisch motivierten Exkursionen nach Frankreich, Großbritannien oder Japan vom roten Faden ab. Des Weiteren hätte Alexander Engel die subnationale Ebene vor allem im 19. Jahrhundert stärker berücksichtigen müssen, weil die deutschen Staaten und die Bundesstaaten in den USA bis zur Schaffung nationalstaatlicher Regelungen Schlüsselakteure bei der Regulierung von Börsen gewesen sind.

Abgelenkt wird der Leser auch durch kulturhistorische Zwischenschritte. Beispielsweise wäre die Beschreibung und Analyse der cineastischen Darstellung von Warenterminbörsen in den 1980er-Jahren (Abschnitt 4.3) zwar ein gutes Thema für einen Aufsatz gewesen, trägt aber zum Hauptargument der Arbeit wenig bei. Die Auswahl der Filme zeigt auch, dass andere Segmente des Börsengeschehens in den 1980er-Jahren größere Aufmerksamkeit erlangten als das Warentermingeschäft. Die von Engel analysierten Filme „Ferris macht Blau“ und „Die Glücksritter“ fallen, zumindest nach meiner Wahrnehmung, in der kulturkapitalistischen Wirkmächtigkeit doch hinter „Wall Street“ und „Pretty Woman“ zurück.

Alles in allem hätte dieses Buch ohne größere Verluste am durchaus relevanten Hauptargument deutlich gekürzt werden können. Allerdings wäre es dann keine wirtschafts-, global- und kulturhistorische Darstellung des Börsentermingeschäfts, sondern lediglich eine Geschichte des Warenterminhandels in Deutschland und den USA zwischen 1850 und 1930 geworden. Im vorliegenden Fall wird der Leser zu oft ins argumentative Abseits geführt – eine Strategie, die Engel aber scheinbar beabsichtigt (S. 22). Da der mündige Leser aber selbst entscheiden kann, ob er das ganze Buch oder nur die für ihn als Wirtschafts-, Global- oder Kulturhistoriker relevanten Abschnitte lesen möchte, kann ich für dieses Buch durchaus eine Kaufempfehlung aussprechen.

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