Cover
Titel
A People's Music. Jazz in East Germany, 1945–1990


Autor(en)
Kaldewey, Helma
Reihe
New Studies in European History
Erschienen
Anzahl Seiten
313 S.
Preis
£ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolf-Georg Zaddach, Institut für Kunst, Musik und ihre Vermittlung, Leuphana Universität Lüneburg

Mit A People's Music. Jazz in East Germany, 1945–1990 hat die in Westdeutschland geborene und in den USA lebende Helma Kaldewey die erste umfangreiche englischsprachige Monografie zum Jazz in der DDR vorgelegt. Die Musikwissenschaftlerin und Historikerin hat sich zum Ziel gesetzt, „a revised understanding of the role and significance of the vibrant jazz culture in socialist Germany“ (S. xiv) zu entwickeln. Es gehe ihr weniger um musikwissenschaftliche Analysen von Werken, Aufführungen oder Genres (S. xix), sondern vielmehr um Jazz als kulturelle Praxis im Kontext der sozialistischen Kulturpolitik.

Das Buch versammelt die Ergebnisse von rund zehn Jahren Forschung zum Thema und basiert auf verschiedenen Quellen wie staatlichen Dokumenten, Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), zahlreichen Interviews mit Zeitzeug:innen sowie Bilddokumenten und privaten Archiven.

Die Monografie ist in sechs chronologische Kapitel unterteilt, die zeigen sollen, wie das „state management of jazz changed decade by decade, even (at times) year by year, as a result of national and global political circumstances“ (S. xv). Das erste Kapitel fungiert als Einleitung und beleuchtet die frühe Verbreitung und Auseinandersetzung mit dem Jazz in Deutschland bis 1945. Nach einigen Ausführungen zum ambivalenten Umgang mit der neuartigen Musik in der Weimarer Republik, der insbesondere auf Seiten des Bildungsbürgertums auch unter dem Schlagwort „Amerikanisierung“ geführt wurde (S. 8–12), steht die komplexe Geschichte des Jazz unter den Nationalsozialisten im Mittelpunkt der Betrachtung. Als zentrales Konfliktfeld wird hier die von den Nationalsozialisten behauptete Unvereinbarkeit des Jazz mit einer deutschen kulturellen Identität diskutiert, die die Musik als Ausdruck von „racial impurity“ (S. 16) ablehnte. Im Widerspruch dazu wurde Jazz von den Nationalsozialisten gleichzeitig als Propaganda instrumentalisiert, am prominentesten mit der Einbestellung des Ensembles Charlie and His Orchestra. Indem Kaldewey auch die „Swing-Jugend“ als nonkonformistische, sich den Massenorganisationen und der Ästhetik der Nationalsozialisten entziehende Bewegung genauer beschreibt, kann sie einerseits die Verbreitung des Jazz als frühe eigensinnige Jugendkultur nachverfolgen sowie andererseits auch erste Verbindungslinien, etwa in der Person Ulf Drechsel, zum Jazz in der DDR nachzeichnen.

Das zweite Kapitel verfolgt die Entwicklung des Jazz zwischen 1945 und 1949. Kaldewey beschreibt hier insbesondere, wie Jazz frühzeitig in ideologische Konflikte zwischen den Alliierten eingebunden wurde. Durch die Analyse der Sichtweise der Sowjets arbeitet sie wesentliche ideologische Einflussgrößen auf die sich herausbildende DDR heraus. Kaldewey zufolge war Jazz bereits seit den 1920er-Jahren in der Sowjetunion präsent, wurde dort dem Sozialistischen Realismus untergeordnet und, besonders wichtig, in einer Weise diskursiv aufgeladen, die eine gewisse Form des Jazz mit dem Staatssozialismus vereinbar machte: „For in the communist view, it [Jazz; WGZ] represented the voice of an oppressed people within the capitalist system – a message whose significance in this period cannot be overstated.“ (S. 40) Dieses Argument wurde sodann von Musiker:innen und Fans in der DDR immer wieder als Legitimation herangezogen.

Das darauffolgende Kapitel analysiert im Detail die problematische und von der sowjetischen Haltung abhängige Auseinandersetzung mit der Musik in der jungen DDR bis zum Mauerbau. Während das Zentralkomitee (ZK) der SED die Kunst allgemein als Mittel der sozialistischen Massenerziehung ganz im Sinne des Sozialistischen Realismus auffasste, rangen die Kulturfunktionäre um Definitionen und Grenzziehungen eines akzeptablen Jazz in der DDR. Kaldewey diskutiert hier insbesondere die Schriften, Protokolle und Briefe der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten im Kontext des Diskurses um eine „nationalen Tanzkultur“ (S. 91–106). Außerdem zeichnet sie anhand der zahlreichen Konzerte und Festivals, die West-Berlin organisierte, den konkreten Einsatz von Jazz im kulturellen Kalten Krieg nach. Schließlich geht sie ein auf die Beobachtung der Jazz-Szene durch das MfS, das dafür Inoffizielle Mitarbeiter wie den DDR-Musikwissenschaftler Werner Sellhorn anwarb.

Das vierte Kapitel verfolgt die weitere Entwicklung bis 1971, dem Jahr der Entmachtung Walter Ulbrichts. Im Fokus steht hier insbesondere die Resolution „Zur Beschäftigung mit dem Jazz in der DDR“ des ZK der SED von 1962, die Kaldewey als zentrales Dokument für die darauffolgende nahezu vollständige Integration und Etablierung des Jazz innerhalb der sozialistischen Kulturpolitik ansieht. Ferner diskutiert sie die 1965 vom US State Department organisierte Tour des Trompeters Louis Armstrong, dessen Traditional Jazz wesentlich zur weiteren Akzeptanz des Jazz beigetragen habe (S. 178). Bei allen Integrationstendenzen entgeht Kaldewey nicht, dass das so genannte Kahlschlag-Plenum der SED im gleichen Jahr auch Folgen für die Jazzszene zeitigte (S. 185).

Das fünfte Kapitel beschreibt den fortgesetzten und intensivierten Prozess der Integration des Jazz in die sozialistischen Musikkultur während der 1970er-Jahre. Neue und in der DDR enorm beliebte Formen wie der Free Jazz, aus Perspektive des Sozialistischen Realismus nur unter Vorbehalt akzeptabel, wurden etwa als Ausdruck des Klassenkampfes in den USA interpretiert, sodass sie in der DDR als sozialistische Kunstform aufgefasst werden konnten (S. 213f.). Jenseits der offiziellen Anerkennung entwickelte sich auf den zahlreichen Konzerten und Festivals, allen voran in der Jazzwerkstatt Peitz, umgangssprachlich „Woodstock am Karpfenteich“ genannt, eine oppositionelle Atmosphäre gegen die Parteidiktatur (S. xxi).

Das abschließende Kapitel diskutiert die Rolle des Jazz in der DDR im letzten Jahrzehnt ihres Bestehens. Jazz fand endgültig Eingang in den offiziellen Kulturkanon, wurde umfassend staatlich gefördert und war zugleich populär, wie Kaldewey am Beispiel der 1. Nationalen Jazztage der DDR in Weimar 1985 verdeutlicht. Sie schließt mit einem Ausblick auf die Entwicklungen der ostdeutschen Jazzszene im wiedervereinigten Deutschland. Ein Fazit oder eine Zusammenfassung gibt es nicht.

Kaldewey gelingt es auf der Grundlage einer Vielfalt der Quellen, die Geschichte des Jazz in der DDR und besonders ihre kulturpolitischen Aspekte detailreich nachzuzeichnen. Durch die Auswertung von in der Forschung bisher kaum berücksichtigten offiziellen Akten und Dokumenten kann sie die ambivalente Haltung und das Ringen der SED-Diktatur um einen adäquaten Umgang mit dieser Musik nuanciert beschreiben. In der akribischen Analyse des Phänomens Jazz im Spiegel der Kulturpolitik liegt die Stärke der Studie. Sie verdeutlicht, dass der Staatssozialismus durch die kulturpolitischen Strukturen und Kontrollmechanismen zu einem aktiven und gestaltenden Akteur der Jazzkultur in der DDR avancierte, mit dem die Jazzmusiker:innen und Fans umgehen, agieren, in Auseinandersetzung treten mussten.

Gegenüber dem kulturpolitischen Schwerpunkt der Untersuchung erfahren alltagsgeschichtliche Aspekte geringere Aufmerksamkeit. Diese weiter auszuloten, wäre auf der Grundlage von über vierzig Interviews und den gesichteten Ego-Dokumenten durchaus möglich gewesen und hätte eine noch „dichtere Beschreibung“ des global verbreiteten Jazz in der DDR ergeben.

Darüber hinaus wäre eine weitergehende Auseinandersetzung mit einigen aktuellen Forschungsdiskussionen gewinnbringend gewesen. Eine Reihe jüngerer und maßgebender Publikationen insbesondere aus der seit 2010 bestehenden Schriftenreihe Jazz under State Socialism1, zentrale Überblickswerke aus der Jazzforschung2 sowie stärker auf regionale Praktiken, etwa in den zahlreichen Jazzclubs der DDR fokussierende Studien3 finden keine Berücksichtigung. In diesen jüngeren Publikationen ist das lange bestehende und von Kaldewey kritisch als Ausgangspunkt aufgegriffene einseitige Narrativ, Jazz in der DDR sei durchweg oppositionell gewesen, längst weiter differenziert und etwa durch transnationale Perspektiven oder die Analyse von Praktiken des Hörens und Musikmachens erweitert worden. Auch vermisst der Rezensent wichtige ältere für den Jazz in der DDR relevante Publikationen der Jazzforschung wie Ekkehard Josts Europas Jazz 1960-19804. Wohl dem Veröffentlichungszeitraum geschuldet ist, dass einige aktuelle Untersuchungen, die eine vergleichende Geschichte des Jazz in Deutschland schreiben5, nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt sind.

Unter dem Strich leistet People's Music. Jazz in East Germany, 1945–1990, nicht zuletzt aufgrund der behandelten Quellen und der breiten Zugänglichkeit durch die englische Sprache, einen wichtigen Beitrag für das historische Verständnis vom Jazz im Staatssozialismus. Weiterführender Forschung, auch und insbesondere für eine vergleichende Geschichtsschreibung und vertiefende Perspektivierung des Jazz als soziale und musikalische Praxis, wird sie als Bezugspunkt dienlich sein.

Anmerkungen:
1 Gertrud Pickhan / Rüdiger Ritter (Hrsg.), Jazz under State Socialism, Frankfurt am Main 2010–2020, 7 Bde., <https://www.peterlang.com/series/6572> (23.12.2021).
2 Bruce Johnson (Hrsg.), Jazz and Totalitarianism, New York 2017.
3 Martin Breternitz, Jazz in Jena in den 1980er Jahren, in: Gerbergasse 18, 02/83 (2017), S. 38–42.
4 Ekkehard Jost, Europas Jazz: 1960–1980, Frankfurt am Main 1987.
5 Martin Pfleiderer, Jazz in Germany, in: Francesco Martinelli (Hrsg.), The History of European Jazz. The Music, Musicians and Audience in Context, Sheffield 2018, S. 96–119; Wolfram Knauer, “Play yourself, man!” Die Geschichte des Jazz in Deutschland, Ditzingen 2019.

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