T. Beichelt u.a. (Hrsg.): Ambivalenzen der Europäisierung

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Titel
Ambivalenzen der Europäisierung. Beiträge zur Neukonzeptionalisierung der Geschichte und Gegenwart Europas


Herausgeber
Beichelt, Timm; Frysztacka, Clara Maddalena; Weber, Claudia, Worschech, Susann
Reihe
Europäische Geschichte in Quellen und Essays (5)
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Deborah Cuccia, Institut für Geschichte, Stiftung Universität Hildesheim

Die Konzeption einer linearen und teleologischen Entwicklung, die dem Prozess des Europawerdens traditionell zugrunde liege, ist in der wissenschaftlichen Literatur zwar oft angefochten, aber nie völlig überwunden worden. Der Verweis auf den Terminus Europäisierung bringt diesen nie vollendeten Prozess des Werdens eines sich schaffenden Europas in den Vordergrund (S. 11). Im Widerspruch zu einer solchen Teleologie des Fortschrittes als Grundelement des Verständnisses des Europabegriffes haben jüngste Untersuchungen ihre Aufmerksamkeit auf die dem Europäisierungsprozess zugrunde liegenden Ambivalenzen gelenkt. Diesem neueren Forschungstrend folgt auch der Sammelband „Ambivalenzen der Europäisierung“, der von Timm Beichelt, Clara Maddalena Frysztacka, Claudia Weber und Susann Worschech herausgegeben wurde. Das Verständnis von Europäisierung als nicht linear, sondern grundsätzlich ambivalent stellt die konzeptuelle Hauptgrundlinie dieser Publikation.

Anhand von siebzehn verschiedenen Beiträgen werden drei analytische Kategorien von Ambivalenz untersucht: die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Europaidee, der sozial konstruierte Raum „Europa“ als Produkt von Interaktion und Interpretation sowie Homogenisierungs- und Differenzierungsprozesse in transnationalen sozialen Feldern. Der Text wird somit zum Anlass für eine kritisch breit angelegte Reflexion des Konzeptes der Europäisierung als Ergebnis von Auseinandersetzung, Zwiespältigkeit und gegensätzlichen Entwicklungslinien. Dies erfolgt sowohl auf theoretischer als auch auf empirischer Ebene. Darin besteht das erste Verdienst dieser Sammlung von Beiträgen. Das zweite Hauptverdienst ist die Entscheidung, Aufsätze unterschiedlicher Disziplinen zusammenzubringen – etwa aus der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Anthropologie und der Psychologie. Wie lohnend sich für den:die Leser:in ein solcher verflechtungshistorischer und interdisziplinärer Blick auf Ambivalenzen als strukturelle Erscheinung der europäischen Moderne erweisen kann, zeigt sich daran, wie fundiert die vorliegenden Beiträge die Diskrepanz zwischen einem längst proklamierten teleologischen Selbstbild und seinen historisch bedingten Artikulationsformen untersuchen.

Untergliedert ist der Band in drei Teile. Nachdem im einführenden Kapitel eine kurze Auseinandersetzung mit den zu analysierenden Hauptthemen sowie mit Zielen und Struktur der Darstellung geboten wird, ist jeder der drei folgenden Hauptabschnitte einer der Grundformen des Europawerdens gewidmet: Europa als Idee, Europa als Raum und Europa als soziale Praxis. Zeigen sich im ersten Teil die Widersprüche zwischen den entgegengesetzten, aber miteinander verbundenen Dimensionen, die die Europa-Idee ausmachen – Streben nach Einheitlichkeit und Universalismus einerseits, Spezifizität andererseits – gehen die Autoren im zweiten Abschnitt Fragen der Schöpfung Europas als asymmetrischem Raum nach. In der dritten Sektion wird die Geschichte Europas im Sinne einer Transfer- und Verflechtungsgeschichte behandelt bzw. wird die Entstehung Europas durch Praktiken der Interaktion und der Kommunikation erforscht.

In den ersten drei Beiträgen vom Teil I „Europa: Ambivalenz(en) einer Idee“ zeigen die jeweiligen Autor:innen, Anette Schlimm, Judith Becker und Ulrich Wyrwa, in welchem Ausmaß die Widersprüche im Rahmen der Europa-Idee1 bis zum Ersten Weltkrieg wirksam waren. Behandelt werden die europäischen Kooperationsversuche nationaler Bewegungen für den Heimatschutz, die Zusammenarbeit zwischen schweizerischen evangelischen Missionen im kolonialen Afrika und die Bemühungen ungarischer, deutscher und französischer Antisemiten, unter dem Dach des Europabegriffes ein antisemitisches Netzwerk über die nationalen Grenzen hinweg aufzubauen. Die folgenden Aufsätze von Dieter Gosewinkel und Ben Gardner-Gill stellen die Europakonzeption in der französischen extremen Rechten zwischen 1940 und 1990 sowie die zehn Thesen des tschechischen Premierministers Petr Nečas in den Mittelpunkt der Analyse. Somit deckt die Darstellung die Entwicklungen bis in das 21. Jahrhundert ab.

Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Ulrich Wyrwa „Vereinigungsversuche antisemitischer Akteure in Europa. Die internationalen Kongresse von 1882 und 1883 in Dresden und Chemnitz“ (S. 65–80). Der Autor bietet mehr als eine ausführliche Darlegung des antisemitischen Phänomens: er zeigt, wie dessen Entstehung Ausdruck eines weitreichenden Unbehagens gegenüber den nach 1789 entstehenden Ideen war. Somit gelingt es, die Ambivalenzen des Antisemitismus als europäische Bewegung zum Vorschein zu bringen. Anette Schlimm widmet sich dagegen in ihrem Beitrag „Eine entente cordiale für den Schutz der Heimat? Europäische Kooperationsversuche von Landschafts- und HeimatschützerInnen vor dem Ersten Weltkrieg“ (S. 37–48) einem Thema, dem bislang kaum Beachtung geschenkt worden ist. Sie zeigt auf, dass die verschiedenen nationalen Versuche zur Bewahrung von Tradition, Landschaft und historischen Bauten kein Exklusivbereich Deutschlands waren, sondern eine, trotz lokaler Unterschiede, europaweite Erscheinungsform des starken Spannungsverhältnisses zwischen fortschrittlichen und konservierenden Tendenzen. Am Ende des ersten Teiles wird deutlich, dass die Europa-Idee nicht als Vereinheitlichung, sondern als verbindendes Mittel zu verstehen ist.

Durch die Fokussierung auf das Osmanische Reich und auf die Türkische Republik in den zwei ersten Kapiteln des zweiten Teils „Europa: Ambivalenz(en) des Raumes“ zeigen Hannes Grandits und Ayhan Kaya Mittel und Wege der Exportierung der europäischen Idee in die südöstliche Peripherie Europas auf, die sowohl als Projektionsfläche als auch als Katalysator der Ambivalenzen der Europäisierung interpretiert werden kann. Hinweise zu den Verflechtungen zwischen Europäisierung und Entorientalisierung werden am Rande erwähnt. Diese Seite der Geschichte Europas wäre noch ausführlicher zu diskutieren. Während die nächsten zwei Beiträge von Jochen Oltmer und Marcel Berlinghoff die Konstruktion des europäischen Raumes im 20. Jahrhundert durch Asyl- und Migrationspolitik als Thema beleuchten, konzentrieren sich Ljiljana Radonić und Claudia Weber auf Europa als Erinnerungsort. Es wird deutlich, wie die Kluft in den Asyl- und Migrationspolitiken der europäischen Staaten das letzte Jahrhundert prägte, sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Die wirtschaftlichen Veränderungen der fünfziger und sechziger Jahre und ein anhaltendes Wachstum wurden von signifikanten Arbeitsmigrationen begleitet. Westeuropa entwickelte sich zu einer Einwanderungsregion, in der schon bereits vorhandene soziale Probleme verschärft und neue erzeugt wurden. Mögen die unterschiedlichen Migrationsregime der einzelnen Staaten Westeuropas abhängig von traditionellen Beziehungen sowie von der jeweiligen kolonialen Vergangenheit gewesen sein, unterschieden sich diese jedoch nicht grundsätzlich voneinander. Fest verankert blieb nämlich im Allgemeinen das Prinzip der Rotation. Eine dauerhafte Niederlassung im Zielland war ursprünglich weder erlaubt noch beabsichtigt und noch weniger begrüßt. Man kommt letztendlich zu der Schlussfolgerung, dass der als Europa bekannte Raum mehr als nur ein geographischer Begriff ist, nämlich eine Struktur mit einem ausgeprägten sozialen Charakter.

Gerade diese Schlussfolgerung wird im dritten und letzten Teil des Bandes „Europa: Ambivalenz(en) der Praxis“ noch einmal betont, indem jene ambivalenten Prozesse, die die jüngste sozialwissenschaftliche Literatur als horizontale Europäisierung beschreibt, analysiert und thematisiert werden. Alle sechs Beiträge dieses Abschnittes sind in den Kontext einer radikalen Beschleunigung der wissenschaftlichen Entwicklungen und der Transformation der traditionellen historiographischen Paradigmen einzuordnen. Beim EU-Grenzregime und Frontex (Estela Schindel) wird zum Beispiel nicht nur die Ambivalenz der Diskurse besonders deutlich, sondern auch die Ambivalenz von Akteuren und Praktiken, die sich in der Spannung zwischen dem Ziel, die äußeren Grenzen zu sichern und die fundamentalen Rechte zu respektieren befinden. Die ethnographische Forschung (Pawel Lewicki) betont nochmals solche Voraussetzungen und zeigt, dass unter der Oberfläche der offiziellen Toleranz, Meinungen innerhalb der EU-Institutionen sich als Behälter stereotypisierter Kulturen zeigen. Es wird deutlich, dass Stereotypisierungen der verschiedenen Kulturen immer noch sehr präsent sind. Daraus resultiert eine kulturelle Landschaft, die von formeller Inklusion, aber tatsächlicher Exklusion geprägt ist (S. 254).

Dank seiner wissenschaftlich fundierten Inhalte und seines Reichtums an verschiedenen Ansätzen stellt dieser Sammelband insgesamt ein höchst lesenswertes Produkt sowie einen Schritt in die Richtung der Wahrnehmung von Europäisierung jenseits linearer und teleologischer Erklärungen dar. Vor diesem Hintergrund ist es nur bedauerlich, dass die Komplexität der Thematik, die große Vielfalt der Themen, die im Text abgedeckt werden, sowie die beachtliche Anzahl der Ansätze zur Folge haben, dass die Publikation äußerst anspruchsvoll wirkt und nur schwer zugänglich für interessierte Lai:innen erscheinen mag. Trotz all dem gelingt es dem Sammelband jedoch, die Herausforderung zu bewältigen, die Prägung des Europäisierungskonzepts zu problematisieren, diesen als relationale und instabile Kategorie überzeugend zu präsentieren und dessen Dominanz aus dem Zentrum heraus zu hinterfragen. Mit anderen Worten ebnet die Veröffentlichung den Weg für weitere Forschungen, was letztendlich als Hauptverdienst betrachtet werden kann.

Anmerkung:
1 Michael Gehler / Peter Müller / Peter Nitschke (Hrsg.), Europa-Räume. Von der Antike bis zur Gegenwart, Hildesheim 2016.

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