M. König u.a. (Hrsg.): Enlarging European Memory

Titel
Enlarging European Memory. Migration Movements in Historical Perspective


Herausgeber
König, Mareike; Ohliger, Rainer
Reihe
Francia. Beihefte Band 62
Erschienen
Ostfildern 2006: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
184 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Dass das Forschungsparadigma der Erinnerung auch und gerade für die Migrationsforschung erkenntnisträchtig ist, hat zuletzt der ‚Komplex der Vertreibung‘ belegt. Neben ‚Genozid‘ und ‚Krieg‘ gehören ‚Flucht‘, ‚Aussiedlung‘, ‚ethnische Säuberung‘ und andere Formen erzwungener Migration zur obersten Kategorie an Erinnerungstopoi und lieux de mémoire – desgleichen freiwillige Migrationsbewegungen, auch wenn der Übergang zwischen beiden Prozessen fließend ist. Zugleich haben die deutsch-polnischen sowie die innerdeutschen Debatte um den Stellenwert von Flucht, Vertreibung und Integration in nationalen Erinnerungskulturen seit 2000 zum einen die weiterhin prägende Bedeutung der Dekade der Gewalt in der Mitte des 20. Jahrhunderts vor Augen geführt, zum anderen aber den Blick auf (Zwangs-)Migrationen andernorts und zu anderer Zeit geöffnet.

Der von den beiden deutschen Zeithistorikern Mareike König und Rainer Ohliger herausgegebene Band, der auf einen Workshop am Deutschen Historischen Institut Paris im November 2004 zurückgeht, versammelt Beiträge von Autoren aus Ost- und Westeuropa sowie Nordamerika, in denen die europäische Erinnerung an Migrationsprozesse unterschiedlicher Art vom 17. bis zum 21. Jahrhundert thematisiert wird. Gemeinsames Ziel dabei ist es, die gängigen, historisch begründeten nationalstaatlichen Identifikationsmuster mit einer "dissonanten Realität" zu konfrontieren, welche dazu zwingt "Unterscheidungen zwischen dem Selbst und dem Anderen, Uns und Denen zu überdenken" (Klappentext).

Die 14 Aufsätze des Bandes sind zu vier thematischen Blöcken zusammengefasst. Der erste Teil "Narrating and Theorising Memories of Migration" umfasst zwei Beiträge: In "Facing Migration History in Europe: Between Oblivion and Representation" stellen die Herausgeber die begründete Vermutung an, dass in der internationalen Historiographie des 21. Jahrhunderts nationale Meistererzählungen zunehmend durch "more ambivalent (and twisted) historical narratives emphasising in-betweenness of groups, populations, and nations" ersetzt werden (S. 12). Dergestalt würden marginalisierte Gruppen wie Immigranten und Minderheiten in Narrativen dieser Art deutlich größere Bedeutung gewinnen. Und in "Europe's Many Worlds and Their Global Interconnection" spannt Dirk Hoerder einen weiten Bogen vom 15. ins 21. Jahrhundert, mittels dessen er zum einen die generelle Bedeutung von Migration in der Geschichte Europas samt den zeitgebunden wechselnden Migrationsformen, zum anderen die integrative Kraft von Migrationsgeschichtsschreibung und -erinnerung hervorhebt.

Im zweiten Teil, überschrieben mit "Commemorating Migrations since Early Modern Times", finden sich vier regionale bzw. lokale Fallstudien: Alexander Schunka untersucht "Forgotten Memories - Contested Representations: Early Modern Bohemian Migrants in Saxony", Hanna Sonkajärvi beschreibt "Multiple Attributions: The Foreigner as a Circumstantial Category in 18th Century Strasbourg", in "French Migrants into Loyal Germans: Huguenots in Hamburg (1685-1985)" zeichnet Klaus Weber einen Integrationsprozess exemplarisch nach und Mareike König beleuchtet die deutsche Diaspora in Paris im ausgehenden 19. Jahrhundert ( "Celebrating the Kaiser's Birthday: German Migrants in Paris after the Franco-Prussian War 1870/71").

Teil drei, "Troubled and Contested Memories", enthält Beiträge von G. Daniel Cohen über "Remembering Post-War Displaced Persons: From Omission to Resurrection", von Pierre de Trégoman zu "Constructing Authenticity: Commemorative Strategy of the Transylvanian Saxons in West Germany's Early Years", von Lavinia Stan über "Media Discourses about Romanian Exile before and after 1989" und von Dovil Budryt zur Frage "Democratisation of History? Remembering Stalinist Deportations and Repression in the Baltic States".

Im vierten Teil, betitelt mit "Making Migrants Visible", skizziert Joachim Baur "Commemorating Immigration in the Immigrant Society: Narratives of Transformation at Ellis Island and the Lower East Side Tenement Museum", identifizieren Jan Motte und Rainer Ohliger "Men and Women With(out) History? Looking for 'Lieux de Mémoire' in Germany's Immigration Society", beschreibt Wladimir Fischer "An Innovative Historiographic Strategy: Representing Migrants from Southeastern Europe in Vienna" und beleuchtet Myriam Cherti "Reconstructing the History of Moroccan Migration to the UK: An Oral History Approach".

Vor allem die Beiträge von Baur und Motte/Ohliger belegen den in konjunkturellem Aufschwung befindlichen Nexus von Migration und Erinnerung. Dies geschieht einmal mit Blick auf zwei Migrationsmuseen (das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven und die BallinStadt Auswandererwelt Hamburg), zum anderen am Beispiel migrationsbezogener Erinnerungsorte in Deutschland, darunter der "einmillionste Gastarbeiter", Straßennamen und der Kinofilm "Solino" (2002) von Fatih Akin.

Der Band verfügt über eine Auswahlbibliographie, ein Autorenverzeichnis (samt E-Mail-Adressen) sowie über zwei Fotografien. Die eine zeigt griechische Gastarbeiterinnen in einer Hamburger Spirituosenfabrik 1963 beim Abfüllen von "Kirsch mit Whisky" (Umschlag), die andere die Skulptur "Der Ausländer", welcher der Bildhauer Guido Messer 1982 entworfen hat und die zum Zwecke der Aufstellung gegenüber dem Bahnhof Stuttgart-Obertürkheim in "Der Reisende" umbenannt wurde bzw. werden musste (S. 151).

Mit dem thematisch breit angelegten, ausgezeichnet dokumentierten und sorgfältig redigierten Band meldet die weiter an Fahrt aufnehmende Migrationsforschung ihren Anspruch auf Teilhabe am internationalen Gedächtnisboom an – und belegt ihn zugleich überzeugend.

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