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Titel
Katastrophe als Beruf. Die bundesdeutsche Ärzteschaft und der nukleare Ernstfall (1950–1990)


Autor(en)
Molitor, Jochen
Reihe
Kölner Historische Abhandlungen (57)
Erschienen
Köln 2021: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
377 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Henning Tümmers, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Eberhard Karls Universität Tübingen

Jochen Molitors Dissertationsschrift widmet sich der „Imagination des Katastrophischen“ (S. 13) innerhalb der westdeutschen Ärzteschaft und, damit verbunden, der Entwicklung der bundesdeutschen Katastrophenmedizin bis zum Ende des Kalten Krieges. Laut Klappentext analysiert der Autor „die Denkweisen und Handlungsmuster medizinischer Experten in Vorbereitung auf den Ernstfall […]“. Überdies soll das Buch „vielfache Erkenntnisse zum Wesen des Arztberufs“, aber auch „zur Bedrohungs- und Angstgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“ liefern.

Rekurrierend auf Studien der Soziologen Eliot Freidson und Andrew Abbott versteht Molitor die Ärzteschaft als „Profession“. Wie er in der Einleitung erläutert, zeichnen sich Professionen nicht nur durch eigene Interessenverbände, eine geschützte Position auf dem Arbeitsmarkt, eine akademische Ausbildung, Autonomie und eine spezifische Weltanschauung aus. Sie sperren sich zudem gegen den Einfluss von Professionsfremden, während sie gleichzeitig ihren Mitgliedern großes Vertrauen schenken (vgl. S. 46f.). Vor diesem Hintergrund nimmt Molitor an, dass sich die bundesdeutsche Ärzteschaft trotz eventueller innerer Konflikte bezüglich des Nutzens und der Ausgestaltung einer Katastrophenmedizin nach außen hin geschlossen präsentierte. Ferner geht er davon aus, dass die Ärzteschaft innerhalb dieses speziellen Handlungsfelds neue Zuständigkeitsbereiche zu erschließen versuchte und sich dabei von Nicht-Mediziner:innen abgrenzte (vgl. S. 54f.).

Einleitend werden vier Leitfragen formuliert, zuerst die Frage nach dem „Charakter der angenommenen und ausgedeuteten Szenarien“. Molitor will „Einblicke in die Mentalitäten derjenigen [gewinnen], die sich solche – wie auch immer bestimmte – Katastrophen zum Beruf machten“ (S. 15). Zweitens fragt er nach den Rückwirkungen ärztlicher Katastrophenvorstellungen in Bezug auf Institutionalisierungsprozesse. Drittens interessiert er sich für die Auswirkungen der Katastrophenmedizin-Diskussionen auf die Wahrnehmung von Mediziner:innen in der Öffentlichkeit und auf das ärztliche Selbstverständnis. Viertens konzentriert er sich auf die Aushandlungsprozesse zwischen Mediziner:innen und anderen „sicherheitspolitischen Akteuren“ (ebd.).

Methodisch verknüpft die Studie unterschiedliche Ansätze. Molitor etikettiert seine Arbeit als Professions- und Institutionsgeschichte, die den Zugriff einer Historischen Semantik nutzt, um, im Gegensatz zur Diskursanalyse, auf konkrete Akteur:innen und ihr Handeln fokussieren zu können (vgl. S. 16f.). Als Quellen dienen unter anderem einschlägige Periodika, Überlieferungen der Bundesärztekammer und der Inspektion des Sanitätswesens der Bundeswehr sowie Dokumente der 1982 gegründeten deutschen Sektion der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW).

Das zweite Kapitel (das erste inhaltliche und zugleich längste Kapitel) widmet sich der „Entstehung der Katastrophenmedizin“ (S. 57), die Molitor zeitlich zwischen 1950 und 1980 verortet. Zunächst richtet er den Blick auf das Militär: Spätestens nach der Wiederbewaffnung Westdeutschlands entbrannten in Erwartung eines nuklearen dritten Weltkrieges innerhalb der Bundeswehr Diskussionen über die Ausbildung und das Leitbild des „Arztsoldaten“ (vgl. S. 59). Zugleich musste aber auch das Verhältnis der Sanitätsoffiziere zur zivilen Ärzteschaft geklärt werden. Molitor zeigt, dass – im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg – sich bereits seit den 1950er-Jahren Militärmediziner:innen und zivile Ärzt:innen mit dem Ziel zusammenschlossen, gesundheitspolitische Forderungen gegenüber der Regierung besser durchsetzen zu können. Derweil versuchte die in der Bundesärztekammer organisierte Ärzteschaft geschickt, ihren Einfluss auf den militärischen Bereich auszudehnen: Mithilfe eines prognostizierten Katastrophenfalls legitimierten zivile Mediziner:innen, ebenso wie Sanitätsoffiziere, Forderungen nach mehr Personal und größeren Machtbefugnissen (vgl. S. 67). Molitor arbeitet heraus, dass mit dieser „Katastrophe“ der Atomkrieg gemeint war, den das Sanitätswesen als Krieg ohne Überlebenschancen einstufte. Nichtsdestotrotz forschten „Arztsoldaten“ über mögliche Auswirkungen der Strahlenkrankheit und entwickelten Handlungsanleitungen für den Ernstfall, unter anderem zur Durchführung der Triage. Aber auch die zivile Ärzteschaft versuchte sich medizinisch auf den Katastrophenfall vorzubereiten und gleichzeitig ihre Haltung zur modernen, keineswegs ungefährlichen (und womöglich in einer Katastrophe endenden) Atomenergie zu formulieren. Am Ende des Untersuchungszeitraums dieses Kapitels habe die Bundesärztekammer einen „all-hazards-Ansatz“ vertreten. Anders formuliert: Unter Katastrophenmediziner:innen wurde die Meinung mehrheitsfähig, dass das Auftreten örtlich begrenzter Katastrophen wahrscheinlicher sei als ein Weltkrieg (vgl. S. 171).

Das dritte Kapitel konstatiert für den Zeitraum zwischen 1981 und 1985 einen Wandel in den Diskussionen über die Katastrophenmedizin, ausgelöst durch atomare Aufrüstung als Konsequenz des NATO-Doppelbeschlusses von 1979. Molitor befasst sich auf wenigen Seiten mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin 1980, die Katastrophen als anthropogen und/oder naturbedingt verstand. Anschließend blickt er ausführlicher auf die sich 1982 konstituierende westdeutsche Sektion der IPPNW. Deren Mitglieder hätten aus christlichen Motiven Widerstand gegen den Einsatz von Nuklearwaffen geleistet. Außerdem sei es ihnen darum gegangen, wenigstens den „atomaren Holocaust“ zu verhindern. Die Studie zeigt eindrücklich, wie entschieden die IPPNW die NS-Vergangenheit instrumentalisierte, um ihre Position zur Geltung zu bringen: Die Triage wurde mit Selektionen in Auschwitz verglichen, und Militärärzt:innen unterstellte man, das ärztliche Ethos zu pervertieren (vgl. S. 190f.). Laut Molitor definierte die IPPNW „Katastrophe“ als einen alles vernichtenden Atomkrieg. Medizinische Prävention sei daher für ihre Mitglieder mit der Verhinderung eines Krieges identisch gewesen. Maßnahmen zur „Militarisierung der Ärzteschaft“ (S. 241f.), etwa katastrophenmedizinische Fortbildungen, habe die IPPNW im Gegensatz zur Bundesärztekammer abgelehnt. Aus Sorge um ihr Image begann die westdeutsche IPPNW-Sektion Mitte der 1980er-Jahre jedoch, ihre Vorbehalte gegen die Katastrophenmedizin zu überdenken. Sie fürchtete, Anhänger:innen könnten sich von ihr distanzieren. Denn diese mochten die Kritik an Atomwaffen zwar teilen, nicht aber eine generelle Verurteilung der Katastrophenmedizin.

Das vierte Kapitel interpretiert das Reaktorunglück in Tschernobyl 1986 als markante Zäsur, besonders für die Diskussionen innerhalb der IPPNW. Während Katastrophenmediziner:innen nach „Tschernobyl“ die Berechtigung ihrer Fortbildungen unterstrichen, diskutierte man in der IPPNW, inwieweit man auch die Kernenergie-Nutzung auf die Agenda setzen sollte. Vor allem aber wandelte sich in den Reihen dieses Teils der ärztlichen Friedensbewegung die Wahrnehmung des Katastrophischen: IPPNW-Mitbegründer Ulrich Gottstein – dessen Vereinigung sich wenige Jahre später, nach dem Ende des Kalten Krieges, neue Themen erschließen musste – definierte „Katastrophe“ inzwischen als einen „Großunfall“, für den, so Gottstein versöhnlich, die „Katastrophenmedizin die hierfür notwendige ärztliche und medizinische Versorgung“ bereitstelle (S. 294).

Insgesamt schildert Jochen Molitor eine jahrzehntelange innerärztliche Auseinandersetzung über den Nutzen der Katastrophenmedizin und über die Frage, wie Mediziner:innen den Begriff der „Katastrophe“ inhaltlich füllten. Seine akribische Darstellung ist die erste zeithistorische Studie zur Genese der westdeutschen Katastrophenmedizin und der damit verbundenen professionellen Deutungskämpfe. Allerdings lassen sich mit Blick auf die selbst formulierten Ansprüche einige Schwächen benennen. So ist zumindest für diejenigen Leser:innen, die mit Freidsons Überlegungen zu Professionen vertraut sind, nicht ersichtlich, worin am Ende der Erkenntnismehrwert liegt. Denn für sie dürften die von Molitor analysierten Verhaltensweisen der Mediziner:innen (Abgrenzung gegenüber Nicht-Mediziner:innen, Wunsch nach Konsens) keine Überraschung darstellen. Zudem gehen die auf dem Buchrücken angekündigten Einsichten über die „Bedrohungs- und Angstgeschichte“ der Bundesrepublik in Zeiten von Atomwaffen und ziviler Kernenergie-Nutzung nicht in die Tiefe. Wünschenswert wäre gewesen, die diesbezüglichen Ergebnisse stärker auszuflaggen und an die jeweiligen Forschungskontexte rückzubinden. Schließlich formuliert Molitor in seinem Fazit zwei Befunde, die diskussionswürdig erscheinen beziehungsweise noch ausführlicher hätten erörtert werden können: Erstens bezeichnet er die Mitglieder der westdeutschen Ärzteschaft als „machtvolle Akteure“ (S. 340). Dies steht jedoch im Widerspruch zu seiner Feststellung, dass die Politik deren Forderungen nach einer gesetzlichen Klärung ihrer Zuständigkeiten im Katastrophenfall jahrelang ignorierte. Erst 1980 lag ein Referenten-Entwurf für ein solches „Gesundheitssicherstellungsgesetz“ vor. Zweitens attestiert Molitor den „ärztlichen Akteuren“ eine „Abneigung gegenüber der Politik“ (S. 341). Über die diesbezüglichen Motive respektive darüber, inwieweit solche ablehnenden Äußerungen strategisch-instrumentellen Charakter aufwiesen, hätte man gerne Genaueres erfahren – umso mehr, da momentan vor dem Hintergrund eines anderen Bedrohungsszenarios, der Corona-Pandemie, die Rollengrenzen zwischen Mediziner:innen und Politiker:innen zu verschwimmen scheinen.

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