Cover
Titel
Unter Verschluss. Eine Geschichte des Suizids in der DDR 1952–1990


Autor(en)
von den Driesch, Ellen
Erschienen
Frankfurt am Main 2021: Campus Verlag
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Udo Grashoff, Lehrstuhl für Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts, Universität Leipzig

Die DDR hatte bekanntlich eine der höchsten Suizidraten der Welt. Zu den Gründen wurde bereits intensiv geforscht. Unstrittig ist, dass das SED-Regime kaum für die hohe Zahl der Suizide verantwortlich gemacht werden kann, da bereits viele Jahrzehnte vor Gründung der DDR die Suizidrate in der Region im Vergleich zu Westdeutschland erhöht war.1 Aber welche Ursachen hatte dieser langfristige Ost-West-Unterschied dann? Und wieso ist er gegen Ende des 20. Jahrhunderts verschwunden? Zu diesen Fragen gibt es immer noch Forschungsbedarf.2 Die neue Untersuchung von Ellen von den Driesch weckt dahingehend große Erwartungen, zumal es im Klappentext heißt, dass die Studie auf „verloren geglaubten Daten“ basiert, die die Autorin wiederentdeckt und damit „eine völlig neue Datenbasis“ geschaffen habe. Erstmals erlaube „dieses bisher unveröffentlichte Material eine systematische Analyse der Veränderungen der Suizidraten in der Deutschen Demokratischen Republik“. Einige Medienberichte haben diese verheißungsvolle Ankündigung bereits aufgegriffen, ohne sie kritisch zu hinterfragen.3 Und auch die Betreuerin der Doktorarbeit, Jutta Allmendinger, spart nicht mit Lob, wenn sie das Buch in ihrem Vorwort als „vorbildlich“ und „virtuos“ ankündigt. Ulrich Kohler setzt im zweiten Vorwort sogar noch eins drauf und schreibt, dass die Studie „erstmals ein umfassendes Bild der Geschichte des Suizids in der DDR“ zeichne.

Mit dem tatsächlichen Inhalt des Buches hat das alles wenig zu tun. Die Studie hinterfragt nicht die generelle Suizidrate der DDR, sondern beschäftigt sich lediglich mit regionalen Unterschieden. Die Autorin sucht nach Erklärungen dafür, dass Selbsttötungen in den Südbezirken und in Berlin häufiger waren als im Norden, ohne dabei wirklich Neuland zu betreten. Bereits 1897 untersuchte Émile Durkheim in seiner klassischen Studie „Le Suicide“ solche regionalen Unterschiede auf breiter Datenbasis. Der Soziologe erklärte diese vor allem mit dem Einfluss von Modernisierung und Desintegration, und ganz ähnlich argumentiert auch Ellen von den Driesch in ihrer Studie. Unter Verwendung der inzwischen verfeinerten statistischen Methodik weist die Autorin nach, dass sozialstrukturelle Faktoren zu den Unterschieden beigetragen haben. Konkret: Dass sich Menschen in den Nordbezirken der DDR seltener das Leben nahmen als im Raum Sachsen und Thüringen, hatte unter anderem damit zu tun, dass dort die Menschen jünger waren, weniger Ehen geschieden und mehr Kinder geboren wurden, dass weniger Menschen in Städten lebten und weniger Frauen berufstätig waren. Eine Stichprobe im Jahr 1964 bestätigt außerdem Durkheims Beobachtung, dass religiöse Bindung mit niedrigeren Suizidraten einhergeht. Auch zeigen sich statistische Zusammenhänge zwischen Unterschieden in der Suizidrate der DDR-Bezirke und Merkmalen der Modernisierung wie Wohnungsneubau und Einzelhandelsumsatz.

Diese Ergebnisse sind im Kern der Forschungsertrag des Buches. Verblüffend sind die Erkenntnisse nicht, aber immerhin wird gezeigt, dass Durkheim – bei aller berechtigter Kritik an seiner konservativ-kulturkritischen Fixierung auf Religion und Familie – in methodischer Hinsicht auch noch im 21. Jahrhundert produktiv gemacht werden kann. Darüber hinaus wird das erhobene Datenmaterial jedoch leider nicht auf die offenen Fragen zur Suizidrate angewendet und entsprechend gering sind die neuen Erkenntnisse für die DDR-Forschung bzw. die Suizidforschung generell. Die hohen Erwartungen, die das Buch und vor allem die Werbung des Verlages weckt, werden nicht eingelöst.

Dem Buch fehlt eine wirklich spannende Fragestellung. Stattdessen wird ausprobiert, womit sich die vorhandenen Daten korrelieren lassen. Auch deshalb verliert sich das Buch in Exkursen, Abbildungen oder Tabellen, die lediglich der Ausschmückung dienen und keinerlei Erkenntniswert bieten. Eine Liste von DDR-Belletristik mit Suizidbezug bleibt ebenso Beiwerk wie die misslungenen Versuche, Bezüge zur Suizidprävention herzustellen, ein SED-Emblem, ein Schaubild zum Staatsaufbau der DDR, Walter Ulbrichts zehn Gebote, ein Abschiedsbrief sowie ein Exkurs über den Werther-Effekt. Darüber hinaus gerät Kleinteiligkeit mehrfach zum Selbstzweck.

Der Studie mangelt es zudem an einer tiefergehenden Diskussion des Forschungszusammenhanges. Statt den Forschungsstand auf den Punkt zu bringen, werden Aussagen von Suizidforschern kompiliert, ohne diese quellenkritisch zu bewerten. Während die Autorin hinsichtlich ihrer eigenen Arbeit die Zuverlässigkeit ihrer Daten herausstreicht, fragt sie bei Studien anderer Forscher nicht, auf welcher Basis die Aussagen entstanden sind. Spekulationen stehen gleichwertig neben Ergebnissen empirischer Forschung. Im Verlauf von Debatten widerlegte Hypothesen werden ebenso referiert wie im Verlauf dieser Diskussionen gewonnene Einsichten. Zudem wird die sozialhygienische Studie von Marita Schulze, die im Jahr 1969 die Suizidraten in den Bezirken der DDR untersucht hat und die als Referenzpunkt von zentraler Bedeutung gewesen wäre, ignoriert.4

Es war auch keine gute Idee, das Buch als Geschichte des Suizids in der DDR zu bezeichnen. Die Sozialstatistikerin von den Driesch verbleibt innerhalb der Denkweise ihres Faches und vermag es nicht, Brücken zur historischen Disziplin zu bauen. Die Arbeit ist mithin ein Zeugnis gescheiterter Interdisziplinarität. Zwar wird der Verlauf der Suizidraten aller DDR-Bezirke zwischen 1952 und 1990 exakt berechnet, aber historische Erkenntnisse werden daraus nicht abgeleitet. Stattdessen präsentiert die Autorin Streudiagramme, aus denen die Zeitdimension eliminiert ist. Daher können Auswirkungen historischer Ereignisse wie etwa des Mauerbaus ebenso wenig untersucht werden wie die Abweichung des Kurvenverlaufs der Hauptstadt vom Rest des Landes, oder zeitliche Veränderungen von Korrelationen.5 Die im Vorwort gelobte „Einbettung in die Zeitgeschichte der DDR“ findet so gut wie gar nicht statt. In der Diskussion der Ergebnisse werden kaum konkrete Bezüge zur Geschichte der DDR hergestellt. Ob das Material auch neue Einsichten zum Verständnis der Ost-West-Unterschiede ermöglichen kann, wird nicht in Erwägung gezogen.

Die Ergebnisdiskussion ist zudem nicht immer fehlerfrei. So unterläuft der Autorin ein „ökologischer Fehlschluss“, wenn sie den Einfluss von SED-Mitgliedschaft untersucht. Aus dem Ergebnis, dass sich in Bezirken mit einem hohen Anteil an SED-Mitgliedern mehr Suizide ereignet haben, kann keineswegs gefolgert werden, dass sich dort tatsächlich mehr Genossen das Leben genommen haben. Tragischerweise ist der Autorin das „Problem des Rückschlusses der vorgestellten Korrelationen auf die Individualebene“ (S. 258) durchaus bewusst, sie beachtet es aber in diesem Fall nicht.

Trotzdem ist dieses Ergebnis interessant. Weiterführende Forschungen könnten prüfen, ob es tatsächlich Verzweiflungstaten von Genossen waren, die in Bezirken mit vielen SED-Mitgliedern zu erhöhter Suizidalität führten, oder ob hier ein indirekter Effekt vorlag. Das Gleiche gilt für den Befund, dass Bezirke mit hohen Frauenerwerbsquoten eine hohe Suizidalität aufwiesen. Bisherige Studien zeigten keine erhöhte Suizidalität erwerbstätiger Frauen. Auch hier könnte es sich um einen indirekten Effekt handeln, etwa dahingehend, dass in den Regionen mit stärkerer Frauenberufstätigkeit die familiären Bindungen aufgelöst wurden, was zu mehr Einsamkeit unter älteren Menschen geführt haben könnte.

Der Fauxpas des ökologischen Fehlschlusses verweist auf ein grundsätzliches Problem. Wie konkret könnten Einzelhandelsumsatz, Wohnungsbau oder Leben in einer Stadt die Neigung von Menschen zum Suizid beeinflusst haben? Statistische Korrelationen begründen meistens nur einen Anfangsverdacht, die eigentliche Arbeit beginnt hier erst. Ellen von den Driesch bleibt hier oft auf halber Strecke stecken. Die aufwendige Recherche, die von den Driesch betrieben hat, ist löblich – glücklicherweise ist es ihr sogar gelungen, die geplante Vernichtung der Unterlagen im Bundesarchiv zu verhindern. Nur, was nützt die Recherche, wenn damit keine wichtigen Fragen einhergehen? Leider ist der Datensatz für das Verständnis der Ursachen von Suiziden nur begrenzt hilfreich, weil keine zusätzlichen Informationen über die Suizidenten selbst erhoben wurden. Hierfür hätten kriminalpolizeiliche Akten der Bezirke Dresden und Potsdam genutzt werden können.

Irreführend ist schließlich die Behauptung, Ellen von den Driesch hätte die verloren geglaubten Suizidstatistiken der DDR entdeckt – ein angeblich sensationeller Fund, den Ulrich Kohler in seinem Vorwort gar mit der Entdeckung der vermeintlichen Hitlertagebücher im Jahr 1983 vergleicht, nur mit dem Unterschied, dass diese Statistiken echt sind. Tatsächlich sind die Suizidraten der DDR aber seit Jahren bekannt.6 Was die Autorin entdeckt hat, sind die Einzeldaten der Bezirke. Sie hat daraus nun die Gesamtraten neu berechnet und festgestellt: Die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik hat richtig gerechnet. Die bisher in der Forschung verwendeten Daten sind also valide. Dass es keinen Anlass gab, die seit 1963 geheim gehaltenen Suizidstatistiken zu fälschen, ist ohnehin schon lange Konsens in der Forschung. Sowohl eine 1977 in Ost-Berlin erstellte Geheimstudie als auch nach 1990 erfolgte retrospektive Überprüfungen der DDR-Todesursachenstatistik haben gezeigt, dass die Erfassung der Suizide in der DDR recht verlässlich war und eine im internationalen Vergleich geringe Dunkelziffer im Bereich bis zu 25 Prozent aufwies. Da die Validität der verwendeten Statistiken als eine der größten Qualitäten der Studie herausgestellt wird, überrascht es, dass der Forschungsstand gerade in diesem wichtigen Punkt vernachlässigt wird.7 Auch der Prozess der Erhebung der Daten wird nur akribisch beschrieben, aber kaum kritisch hinterfragt. Bei der Darstellung des statistischen Erfassungsprozesses werden die Eingriffe der SED in die statistische Praxis nur oberflächlich behandelt. So ist es wohl auch zu erklären, dass im Buch durchgängig 1961 als Beginn der Geheimhaltung angegeben wird, während der Ministerrat den Beschluss dazu erst 1963 fasste. Ob etwa Veränderungen im Erfassungsverfahren die Suizidrate beeinflusst haben könnten, wird nicht diskutiert.8

Angesichts der genannten Schwachpunkte mag man fragen, aufgrund welcher Kriterien das Buch mit dem Nachwuchspreis der Deutschen Gesellschaft für Demographie und dem Preis der Universitätsgesellschaft der Uni Potsdam für die herausragende Dissertation 2020 ausgezeichnet wurde. Eine zweite, kritische Lektüre des Textes hätte der Doktorandin wahrscheinlich mehr geholfen als die Überschüttung mit Auszeichnung und maßlosem Lob.

Fazit: Das vorliegende Buch ist eine in der Tradition von Durkheim stehende soziologische Studie zu regionalen Unterschieden der Suizidhäufigkeit in der DDR. Mit statistischen Korrelationen wird auf zuverlässiger Datenbasis gezeigt, dass diese Unterschiede durch Indikatoren sozialer Desintegration und Modernisierungsprozesse erklärt werden können.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jens Gieseke, Rezension zu: Udo Grashoff, "In einem Anfall von Depression...". Selbsttötungen in der DDR, Berlin 2006, in: H-Soz-Kult, 24.07.2007, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-9078 (14.07.2021).
2 Vgl. Udo Grashoff, Driven into Suicide by the East German Regime? Reflections on the Persistence of a Misleading Perception, in: Central European History 52 (2019) 2, S. 310-332.
3 Vgl. z.B. ZDF Aspekte (https://www.zdf.de/kultur/aspekte/suizid-ddr-buch-unter-verschluss-100.html, letzter Zugriff: 23.06.2021); Sabine Rennefanz, Was die geheimen Selbstmord-Statistiken der DDR verraten, in: Berliner Zeitung, 16.05.2021.
4 Marita Schulze, Eine sozialhygienische Studie zur Erforschung der Selbstmordziffer der Deutschen Demokratischen Republik, die in internationalen Vergleichen zahlenmäßig relativ hoch erscheint, Diss. Berlin 1969.
5 Es gibt Grund zu der Annahme, dass sich z.B. der Zusammenhang von Suizid- und Scheidungshäufigkeit in den 1980er-Jahren gelockert hat. Vgl. Grashoff, Anfall, S. 258.
6 Die nach Alter und Geschlecht aufgeschlüsselten Suizidraten der DDR wurden 1998 publiziert: Werner Felber / Peter Winiecki, Suizide in der ehemaligen DDR zwischen 1961 und 1989 - bisher unveröffentlichtes Material zur altersbezogenen Suizidalität, in: Suizidprophylaxe 25:2 (1998), S. 42–49.
7 Vgl. Rainer Leonhardt / Rolf Matthesius, „Zu suizidalen Handlungen in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik", Diss. Berlin 1977; Steffen Heide, Der Suizid im Landkreis Sebnitz in den Jahren 1987–1991, Diss. Dresden 1997; Jana Laskowski, Zum Problem der »wahren« Suizidziffern — Zusammenstellung der im Stadt- und Landkreis Rostock obduzierten Suizide (1980–1990) im Vergleich mit der offiziellen Todesursachenstatistik, Diss. Rostock 1999; Axel Wendland, Untersuchungen zu der Validität der amtlichen Mortalitätsstatistik der ehemaligen DDR (Untersuchungsstichprobe: Sterbefälle der Stadt Rostock des Jahres 1988), Diss. Rostock 2001. Keine dieser Studien wird im Buch erwähnt.
8 Ein solcher Anfangsverdacht besteht zum Beispiel für das Jahr 1968. Grashoff, Anfall, S. 227f.

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