L. Gall (Hg.): Otto von Bismarck und Wilhelm II

Titel
Otto von Bismarck und Wilhelm II. Repräsentanten eines Epochenwechsels?


Herausgeber
Gall, Lothar
Reihe
Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe 1
Erschienen
Paderborn 2000: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
141 S.
Preis
€ 13,20
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Nils Freytag, Historisches Seminar Abt. Neueste Geschichte und Zeitgeschichte, Universität München,

Wer die letzte Legislaturperiode der Regierung Kohl und den Bundestagswahlkampf 1998 aufmerksam verfolgt hat, der kann die Zeitgenossen der späten Bismarckzeit ein Stück weit verstehen. Unbenommen seiner grossen Verdienste um die nationalstaatliche Einigung hatten sie genug von ihrem ewigen Kanzler und seinem polarisierenden innenpolitischen Regierungsstil, der viele zu Reichsfeinden werden liess. Aber sie hatten angesichts des beginnenden imperialistischen Expansionsdrangs auch genug von Bismarcks aussenpolitischem Kurs des Status quo, von einer bescheidenen Rolle Preussen-Deutschlands als saturierter mitteleuropäischer Grossmacht. So sahen viele denn die Entlassung Bismarcks als Ende der Reichsgründungsepoche und wähnten sich auf dem Weg zu neuen Ufern. Ob das Ende der Kanzlerschaft 1890 aber auch ein Epochenwechsel war, der dem analytischen Blick des Historikers standhält, das ist Leitthema des von Lothar Gall herausgegebenen schmalen Bändchens, das die wissenschaftliche Schriftenreihe der 1997 vom Bundestag ins Leben gerufenen Otto-von-Bismarck-Stiftung eröffnet und die Vorträge einer Tagung von 1998 bündelt.

Entgegen üblicher Gepflogenheiten erhält der Leser schon auf den ersten Seiten eine Antwort auf die Frage nach dem Epochenwechsel. 1890 jedenfalls war keiner, so Lothar Gall. Punkt. Glücklicherweise wird die Sache dann doch wieder etwas lohnender, da es noch das Problemfeld von Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Geschichte gibt. Vor diesem Hintergrund fallen die Urteile über Wandel und Konstanz zwischen der Bismarckära und der wilhelminischen Zeit je nach Perspektive anders aus: Dies zeigen die in drei Bereiche zu unterteilenden, der Einleitung folgenden Beiträge, die manches Bekannte bieten, aber auch neue Akzente setzen.

Greifbar wird eine epochale Zäsur auf dem Feld der Aussenpolitik, dem sich Klaus Hildebrand und Volker Ullrich widmen. Ein von Zeitgenossen wie Historikern als folgenreicher Umbruch bewertetes Ereignis war die Nichtverlängerung des deutsch-russischen Rückversicherungsvertrags, Gipfel und Endpunkt von Bismarcks hochkompliziertem, weitestgehend defensiv angelegtem "System der Aushilfen". Aber die ohnehin recht lose Bindung an das Zarenreich war bereits in der Endphase der Bismarckschen Kanzlerschaft brüchig geworden, weshalb sich durchaus aussen- und wirtschaftspolitische Kontinuitäten zum Neuen Kurs Caprivis erkennen lassen. So sind charakteristische Differenzen vielmehr auf einem anderen Feld zu suchen. Sie finden sich, wie Volker Ullrich mit Blick auf Joachim Radkaus vielzitierte Studie über das "Zeitalter der Nervosität" betont, in Überspanntheit und unruhiger Betriebsamkeit. Diese gelten ihm als Kernbestände wilhelminischer Aussenpolitik. Dafür lassen sich zahlreiche Beispiele finden - der berüchtigte Panthersprung nach Agadir (1911) ist nur eines der prominenteren für eine hektische und kurzsichtige Kanonenbootdiplomatie.

Sodann konzentrieren sich Eberhard Kolb und Michael Epkenhans auf das - mit Blick auf den Weg in die Katastrophe von 1914 - zentrale Verhältnis zwischen Politik und Militär. Ein wichtiger Unterschied läßt sich mit guten Argumenten darin erkennen, daß Bismarck noch den Primat der Politik gegenüber militärischen Planspielen und Kriegsabsichten behaupten konnte. Über die konstitutionelle Sonderrolle des Militärs im Kaiserreich wird der Leser präzise informiert. Diese verteidigte Bismarck vor allem gegenüber dem Reichstag unnachgiebig, war er doch bereits 1862 als Ministerpräsident angetreten, um die Vorrechte des preussischen Königs in dieser Frage zu wahren. Nicht zuletzt deshalb betrieb er 1883 die Entlassung des preussischen Kriegsministers Kameke. Zugleich aber trat er den Präventivkriegsüberlegungen sowie der Nebenaussenpolitik preussischer und österreichischer Militärs in der Doppelkrise zwischen 1885 und 1887 energisch entgegen und beharrte damit auf seiner politischen und diplomatischen Autorität. Im Kern schliessen sich die Autoren der alten These Gerhard Ritters hinsichtlich einer Veränderung im Verhältnis von "Staatskunst und Kriegshandwerk" an. Diese Zäsur wird aber nun stärker im Wandel der "Grossmacht Öffentlichkeit" gesehen. Danach entwickelte sich die wilhelminische Gesellschaft zunehmend in eine moderne Rüstungsgesellschaft, aus welcher der öffentliche Einfluss auf die vormals politischen Arkanbereiche Diplomatie und Militär nicht mehr wegzudenken war. Stärker noch als in der Bismarckzeit beeinflussten pressure groups, gesellschaftliche Entwicklungen und Erwartungen folgenreiche (militär)politische Entscheidungen. Der Durchbruch dieser gegenseitigen Wechselwirkungen ist wohl erst kurz vor der Jahrhundertwende anzusiedeln, als vor allem Bülow und Tirpitz in der Hochrüstung einen öffentlichkeitswirksamen Schlüssel sahen, um ehrgeizige aussen-, wirtschafts- und militärpolitische Ziele zu verwirklichen.

Einen dritten Bereich bilden schliesslich die Beiträge von Thomas Kühne und Klaus Tenfelde, die sich mit verfassungs- und gesellschaftspolitischen Umwälzungen befassen. Sehr überzeugend macht Kühne eine Zäsur weniger in der Entlassung von 1890 als vielmehr im Jahrfünft zwischen 1898 und 1903 aus. Erst im Umkreis der Jahrhundertwende erhielt die "Fundamentalpolitisierung" (Karl Mannheim) der wilhelminischen Gesellschaft elementare Anstösse durch eine "demokratisierungsbereite Offenheit des verfassungsrechtlichen Diskurses" (S. 117). Diese Anstösse beendeten nicht nur das Bismarcksche, an national- und machtstaatlichen Mustern gemessene Reichsfeind- und Reichsfreunddenken endgültig, sondern sie liessen auch die immer wieder auftauchenden Staatsstreichdrohungen ins Leere laufen. Damit ist ein weiterer Umbruch auf dem sich immer stärker ausdifferenzierenden Feld öffentlicher politischer Partizipation benannt. Gelang es schon Bismarck nur teilweise, die Öffentlichkeit aus politischen Entscheidungsprozessen herauszuhalten oder in seinem Sinne zu beeinflussen, so entfalteten Parteien, Vereine, Presse und Interessengruppen ihre überragende Breitenwirkung auf dem "politischen Massenmarkt" (Hans Rosenberg) spätestens um die Jahrhundertwende.

Schliesslich verfolgt Tenfelde die Spuren der zwiespältigen Modernisierung im späten Kaiserreich in einem sozialgeschichtlichen Parforceritt an den Beispielen von Familienbildung, Milieus, Unternehmen und Urbanisierung. Er siedelt den Einschnitt auf diesen Feldern ebenfalls eher um die Jahrhundertwende an, woran sich nochmals das Dilemma der Fragestellung des Sammelbandes zeigt, denn sie ist entwickelt an der personalpolitischen Sollbruchstelle zwischen Bismarckära und Wilhelminismus: dem klassischen politikgeschichtlichen Forschungseinschnitt, der mit regionalen und lokalen Entwicklungen sowie mit sozial- und kulturgeschichtlichen Umschwüngen eben nicht in Einklang zu bringen ist.

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