X. Rousseaux, R. Levy (Hgg.): Le penal dans tous ses etats

Titel
Le penal dans tous ses etats. Justice, Etats et Societes en Europe (XIIe-XXe siecles)


Herausgeber
Rousseaux, Xavier; Levy, Rene
Reihe
Publications des facultes universitaires Saint-Louis 74
Anzahl Seiten
462 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Sälter, FU-Berlin

Der Band beruht auf einer internationalen Tagung der Groupe Europeen de Recherches sur les Normatives beim CNRS. Die Problemstellung des Bandes, von den Herausgebern in ihrer Einleitung formuliert, ist der Zusammenhang zwischen der Entwicklung von Strafrecht und Strafjustiz einerseits und der politischen Zentralisierung in den europäischen Territorien und der Genese von Nationalstaaten andererseits. Als dessen begriffliche Zuspitzung dient der Terminus "acculturation juridique", der nur vage zu umschreiben ist mit reziproken Aneignungsprozessen im Spannungsfeld von traditionalen regionalen Rechtskulturen und zentralisierter Herrschaft und von ihr gesetzten rechtlichen Standards. Die 24 Beiträge decken ein weites Spektrum ab und können nicht alle einzeln gewürdigt werden, auch weil der Zusammenhang zwischen den behandelten Einzelaspekten und dem Hauptthema nicht immer explizit gemacht wurde. Der Band setzt neue Akzente für die historische Justizforschung und die Diskussion um die Veränderung von Herrschaft wie der Genese von Staatlichkeit in Europa. Kultureller Kontext, informelle Ordnungssysteme und ihre Interaktion mit rechtlichen Strukturen institutionalisierter Herrschaft werden in die Modellbildung einbezogen. Etwas zu kurz kommen vielleicht ökonomische und soziale Prozesse und ihre Bedeutung für die Genese von Staaten und die Entwicklung des Strafrechts.

Im ersten Abschnitt werden Untersuchungen der longue duree vorgestellt. P. Wettmann-Jungblut betont am Beispiel von Südwestdeutschland in Spätmittelalter und früher Neuzeit die Einbindung rechtlicher Normen in spezifische regionale und lokale Rechtskulturen, wie sie in Untersuchungen zur Gerichtspraxis von Niedergerichten herausgearbeitet wurde. Die regionalen Rechtskulturen integrierten Elemente populärer Ordnungsvorstellungen wie von Herrschaft und sozialer Dominanz. Er plädiert dafür, die Untersuchung von Institutionen stärker mit ihrer kulturellen Logik zu kontrastieren und die Interaktion von Kultur und sozialem System einerseits und formalen Normen, informellen Regeln und Aneignungsprozessen andererseits zu berücksichtigen.

A. Zorzi hebt die Parallelität zwischen der Entwicklung institutionalisierter Herrschaft und dem Ausbau der Justiz wie der Rechtskodifizierung im Spätmittelalter hervor. Mit der Abschliessung städtischer Herrschaftseliten in den norditalienischen Städten wurden parallel zum Aufbau eines Herrschaftsapparates Funktionen informeller sozialer Kontrolle auf die städtische Strafjustiz verlagert. Aussergerichtliche Konfliktmechanismen seien in das städtische Justizsystem integriert, Möglichkeiten zu anonymen Anzeigen geschaffen und Polizeieinheiten organisiert worden. Durch die Schaffung und Aneignung politischer und rechtlicher Institutionen durch die Eliten wurde deren soziale Dominanz gefestigt.

J.A. Sharpe weist darauf hin, dass die Zentralisierung von Herrschaft im vormodernen England weniger über die Schaffung einer zentralen Bürokratie als über eine erfolgreiche Ausweitung der Kompetenzen der königlichen Gerichte geschah. Die dadurch ermöglichte Kontrolle auch der regionalen Jurisdiktionen und der weitere Ausbau des Gerichtssystems forcierten die integrative Wirkung des Rechts. Die Kooperation zwischen Krone und regionalen Eliten wurde ermöglicht durch Veränderungen in der Selbstwahrnehmung der Gentry im 15. und 16. Jahrhundert, die in den Prozess der Legislation integriert war und deren Söhne Beschäftigung in der Schicht der Berufsjuristen fanden. Ihre räumliche Mobilität bildete die Grundlage einer Homogenisierung dieser Schicht wie des Rechts.

Ähnlich bedeutsam schätzt CL.Gauvard die politische Bedeutung des Rechts in Frankreich am Ende des Mittelalters ein. Einerseits wurde die Justiz seit dem 13. Jahrhundert zentralisiert und andererseits die Rolle des Königs als oberster Richter als Grundlage des Königtums hervorgehoben. Zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert begann der König sich auch als Legislator in das Leben seiner Untertanen einzuschreiben, wobei die dadurch etablierte Sanktionsdrohung gleichzeitig die soziale Ordnung festigte und die Rolle des Königs als Richter stärkte. Die Jurisdiktion des Königs verdrängte zunehmend die der Seigneurs und der Kirche durch formale Ausweitung von Kompetenzen, die verstärkte Verwendung des Inquisitionsprozesses und das königliche Recht der Begnadigung.

H. Diederiks betont im Vergleich nationaler Entwicklungslinien die europäischen Differenzen. P. Spierenburg betont ebenfalls die Pluralität der Entwicklung in Europa, warnt aber davor, die Rolle der politischen Verfassung zu hoch zu bewerten. Der Zivilisationsprozess der Eliten und ihre Auswirkung auf die Strafjustiz sei in allen Territorien ähnlich. Zwischen Herrschaftseliten in 'absolutistischen' und republikanischen Territorien bestanden keine wesentlichen Differenzen in ihrer Haltung gegenüber Verbrechen und Strafen.

S. Faber und S. v. Ruller relativieren die Bedeutung von Strafrecht und -justiz für die nationale Integration der Niederlande im 19. und 20. Jahrhundert. Als Maßstab der Integration dient ihnen jedoch eine konsequente und vollständige Uniformisierung von Strukturen und Tätigkeiten, die praktisch kaum je durchführbar ist. Selbst eine dezentrale Regulation von Konflikten muss nicht als Argument gegen eine Zentralisierung interpretiert werden, auch wenn aufgrund der Unabhängigkeit der Richter keine vollständige Standardisierung erreicht wurde, insofern die Regeln der Rechtsprechung gleichmässig sind.

H. v. Goetheim lotet die Bedeutung der Sprache bei Prozessen der Akkulturation aus. CL. Emsley entwickelt ein Modell der Rolle ländlicher Polizei für die politische Integration im Europa des 19. Jahrhundert. Dem Staat gelang bis weit ins 19. Jahrhundert keine wirkliche herrschaftliche Durchdringung des ländlichen Raumes. Zwar beendete die Revolution die Herrschaft des Adels über die Bauern, die im 19. Jahrhundert zunehmenden Besitzerwechsel seiner Güter verminderte auch seine soziale Dominanz und die Gendarmerie brachte den erneuerten Staat in die ländlichen Gemeinschaften. Die staatliche Ordnung traf allerdings nicht auf eine ungeformte Gesellschaft, sondern auf traditionelle Instanzen: den Seigneur als Gerichtsherren; korporative Gerichtsbarkeit; Schlichtung durch den Gerichtsherren, den Pfarrer, die Hexe oder einen Nachbarn; Rache; Ruegebräuche; Ehrkonflikte. Lange Zeit bestanden staatliche und informelle Ordnungssysteme in mehr oder weniger friedlicher Koexistenz nebeneinander.

Auch J.-CL. Farcy vertritt am Beispiel französischer Justiz und Landbevölkerung im 19. Jahrhundert, dass informelle Praktiken und staatliche Rechtspflege Kompromisse eingingen. Die Konkurrenz aussergerichtlicher Konfliktaustragung wurde zwar als Beeinträchtigung staatlicher Autorität wahrgenommen, jedoch wurde die partielle Integration staatlicher Instanzen in das informelle System geduldet. Dieser Kompromiss veränderte sich, indem die Landbevölkerung in das Justizsystem einbezogen und Möglichkeiten gerichtlicher Schlichtung angeboten wurden.

St. Wilson bestätigt dieses Modell gegenseitiger Durchdringung von staatlichen und informellen Konfliktmodellen für Korsika im 19. Jahrhundert. Wilson begreift Akkulturation als reziproken Prozess: nicht nur die korsische Gesellschaft adaptierte sich in the long run an den französischen Staat, auch dessen Institutionen passten sich in die lokale Ordnung ein.

Y. Cartuyvels betont die Bedeutung der Rechtskodifizierung für die Vereinheitlichung und politische Konsolidierung eines Territoriums. Er beschreibt Kodifizierung als rationalisierendes Projekt der Aufklärung, das jedoch in den meisten europäischen Territorien erst nach der Revolution verwirklicht worden sei.

Skeptischer äussert sich Y. Castan, der betont, dass während des Ancien Regime keine wirkliche Kodifizierung ganzer Rechtsmaterien gelungen ist. Die rechtliche Normierung blieb partiell und auf den Einzelfall bzw. wenige grössere Problemzusammenhänge bezogen. Die in Frankreich erfolgreiche Kodifizierung des Prozessrechts und die damit einher gehende Formalisierung der Prozesse habe bei den Richtern einen Vertrauensverlust zur Folge gehabt.

FR. Stevens beschreibt die Kodifikation des Rechts und Prozessrechts in Belgien im späten 18. und 19. Jahrhundert und L. Lacche betont die Bedeutung vereinheitlichender Strafrechtskodifizierung für die italienische Einigung und die Herausbildung einer italienischen Nation.

Weitere Beiträge beschäftigen sich mit einzelnen Aspekten der Justizentwicklung in Europa. N. Dyonet vertritt, dass die Marechaussee im Frankreich des 18. Jahrhundert ihren größten Einfluß nicht auf dem flachen Lande, sondern in den Städten entwickelte.

S. Humbert analysiert Wahl und Funktion der Friedensrichter während der Revolutionszeit in Frankreich. FR. Chauvaud untersucht die Abfolge verschiedener Modelle räumlicher Justizorganisation und die vorausgehenden Diskussionen am Beispiel französischer Gerichte im 19. und 20. Jahrhundert.

A. Bancaud beschreibt unterschiedliche Konzepte der "epuration" und ihre Rolle für die Legitimation der französischen Justiz und der erneuerten Republik in Frankreich nach der Befreiung 1944.

Die Beiträge von J. Logie und J.-P. Nandrin befassen sich mit der Umgestaltung der belgischen Justiz in Phasen politischen Umbruchs. In Italien wurde, wie M. Broers beschreibt, während der napoleonischen Besatzung eine Gendarmerie nach französischen Vorbild etabliert, die in vielen Regionen zu einem Instrument sozialer Kontrolle durch die lokalen Eliten wurde. L. Lampa diskutiert das Problem der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft in Italien im Kontext der politischen Diskussionen seit der Einigung.

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