J. Safronowa: Russkoje Obschtschestwo

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Titel
Russkoje obschtschestwo w serkale rewoljuzjonnowo terrora. 1879–1881 godu


Autor(en)
Safronowa, Julija
Reihe
Historia Rossica
Erschienen
Anzahl Seiten
370 S.
Preis
€ 85,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Rindlisbacher, Historisches Institut der Universität Bern

Die „russische Gesellschaft“ im späten Zarenreich ist – wie Julija Safronowa ganz zu Beginn betont – der „Held“ ihres Buches (S. 9). Sie umgeht zunächst die Frage, was sie unter „Gesellschaft“ versteht, indem sie diese als etwas beschreibt, das im Denken und Handeln verschiedenster Akteure (Regierungsmitglieder, Gendarmen, Journalisten, Schriftsteller und auch Terroristen) einen realen, politisch wirksamen Faktor darstellte (S. 12). Das Ziel der Autorin ist, diese Gesellschaft im Spiegel der Staatskrise zwischen 1879 und 1881 herauszuarbeiten, als Zar Alexander II. wiederholt zur Zielscheibe von terroristischen Attentaten wurde, die schließlich in seiner Ermordung am 1. März 1881 gipfelten (S. 19). Diese erste Welle des Terrorismus in Russland ist bisher vor allem punktuell erforscht worden. Die Standardwerke in russischer oder auch englischer Sprache konzentrierten sich entweder auf die Regierung oder auf die terroristische Organisation Narodnaja Volja (Volkswille).1 Die Gesellschaft, deren Unterstützung die beiden Seiten gewinnen wollten, galt dagegen als „unbeteiligter Dritter“. Deshalb kommt der Autorin das Verdienst zu, einen kaum erforschten Aspekt dieser Krise auszuleuchten.

Im ersten Teil des Buches nimmt Safronowa sich vor, das „Informationsfeld“, das heißt die miteinander konkurrierenden Deutungen des Terrorismusphänomens, herauszuarbeiten, in dem sich eine „öffentliche Meinung“ bilden konnte (S. 36–41, 203f.). Sie nutzt hierfür ein breites Spektrum von zeitgenössischen Drucken (legale und illegale Presse, Flugblätter, Proklamationen), über Akten aus staatlichen Archiven bis zu Tagebüchern und Memoiren beteiligter Akteure. Das Ziel der zarischen Regierung war es demnach, das Informationsfeld zu kontrollieren und die eigene Deutung der politischen Krise durchzusetzen. Dem stand die Absicht der Narodnaja Volja entgegen, das Informationsmonopol der Regierung zu brechen und die eigenen Deutungen der Ereignisse in der Gesellschaft zu verbreiten (S. 42). Die Autorin gliedert das Informationsfeld in folgende Bereiche: die Proklamationen und Publikationen der Regierung, Predigten in den Kirchen, die Berichterstattung über die Prozesse gegen die Terroristen, die legale und die illegale Presse sowie schließlich auch die kursierenden Gerüchte. Das Informationsfeld war voller Unklarheiten und Widersprüche (S. 203). Besonders die Begriffe, mit Hilfe derer sowohl die Täter als auch das Opfer Alexander II. bezeichnet werden konnten – sie reichten jeweils von „Märtyrer“ bis „Verbrecher“ respektive „Tyrann“ –, verweisen auf die große Bandbreite, in der das Phänomen des Terrorismus gedeutet wurde. Interessant erscheint in dieser Hinsicht, dass in der legalen Presse (neben einigen abwegigen Verschwörungstheorien mit polnischem oder jüdischem Hintergrund, S. 131) mithilfe der Metaphern „Krankheit“ und „Boden“ versucht wurde, den Terrorismus als etwas zu begreifen, das seinen Ursprung in der russischen Gesellschaft selbst hatte (S. 133). Mit anderen Worten, der Terrorismus wurde entweder als etwas gedeutet, das auf dem „Boden“ der russischen Gesellschaft gewachsen sei, oder diese als „Krankheit“ befallen habe. Sowohl konservative als auch liberale Journalisten führten das Problem einer sich radikalisierenden Jugend und damit auch des Terrorismus vor allem auf Fehler im Bildungswesen zurück (S. 242–252). Während die einen aber deren Ursachen in einem Mangel an liberalen Reformen erblickten, lag für die anderen der Grund gerade in einem Übermaß an liberalen Ideen. Sowohl die Liberalen als auch die Konservativen nahmen das Problem des Terrorismus damit zum Vorwand, um ihre eigenen Projekte für die künftige politische Ordnung des Reiches zu präsentieren (S. 150f.).

Nachdem im ersten Teil die konkurrierenden Deutungen des Terrorismusphänomens im Zentrum gestanden haben, geht die Autorin im zweiten Teil auf das eigentliche „Material“ ein, anhand dessen sie die russische Gesellschaft sichtbar machen will (S. 224f.). Sie untersucht hierfür, unter welchen Bedingungen verschiedene Gruppen und Akteure untereinander und mit der Regierung über die Terrorismusproblematik kommunizierten. Da aber die offizielle Kommunikation häufig ritualisiert ablief (S. 213) und die Debatten in der Presse der Zensur unterlagen, richtet die Autorin ein besonderes Augenmerk auf Denkschriften verschiedenster Akteure, die sich selbst als Vertreter der Gesellschaft betrachteten und der Regierung Ratschläge erteilen wollten (S. 217–222). Safronowa kann zeigen, dass viele dieser Denkschriften die Metaphern von „Krankheit“ und „Boden“ übernahmen. Auf der Grundlage ihrer Quellen folgert sie ferner, dass sowohl in liberalen als auch in slawophilen und gemäßigt konservativen Kreisen die Forderung nach Einführung repräsentativer Organe und einer Beteiligung von gesellschaftlichen Akteuren am politischen Prozess erhoben worden sei. Darin hätten viele Akteure ein Allheilmittel im Kampf gegen die „Krankheit“ des „Nihilismus“ erblickt (S. 323–327). Safronowa kommt zum Schluss, dass die „russische Gesellschaft“ ein Phantom oder eine Illusion bleibe, solange man sie als sicht- oder fassbare Einheit begreifen wolle. Sie habe in ihrer Untersuchung vor allem deren Heterogenität und Unfähigkeit zu einer gemeinsamen politischen Aktion aufzeigen können (S. 342). Inspiriert von Lutz Häfners Untersuchungen zur „lokalen Gesellschaft“ als Ort der intersubjektiven Kommunikation und Gemeinschaftsbildung2, nimmt sie das „wir-Gefühl“ zum Ausgangspunkt ihrer Rettung des Begriffs. Die russische Gesellschaft habe sich durch einen gemeinsamen Diskurs und eine gemeinsame Epochenerfahrung konstituieren können: „Die russische Gesellschaft sprach in einer Sprache, dachte über dieselben Themen nach, schlug vergleichbare Ansätze zu ihrer Lösung vor und verfügte über gemeinsame Werthaltungen. Gerade das ‚wir-Gefühl‘, das in den Gesprächen, Gedanken und Handlungen vorhanden war, und nicht irgendwelche formalen Attribute oder die Zugehörigkeit zu einem ,kulturellen Netz‘ erlauben es, von der Gesellschaft als Helden dieses Buches zu sprechen.“ (S. 343) Das Gefühl der allgemeinen Unzufriedenheit mit der Politik und der eigenen Untätigkeit und Ohnmacht habe die gesellschaftlichen Akteure über Standes- und Interessengrenzen hinweg miteinander verbunden (S. 343–345). Das Attentat vom 1. März wiederum führte zu einer Ernüchterung. Die gesellschaftlichen Akteure fühlten sich sowohl gegenüber der Regierung als auch gegenüber den Terroristen schwach und machtlos (S. 351).

Letztlich vermag der deskriptive Ansatz von Safronowa aber nicht ganz zu überzeugen. Ihr Bild der russischen Gesellschaft bleibt fragmentarisch und arbiträr, da nicht klar wird, wer unter welchen Bedingungen zu dieser „wir“-Gruppe gehörte und wer nicht. An ihrer Darstellung lassen sich darüber hinaus noch andere Punkte kritisieren. Zuallererst ist das fehlende Literatur- und Quellenverzeichnis zu nennen, das dem geneigten Leser das Nachschlagen bestimmter interessanter Verweise erschwert. Auf der inhaltlichen und analytischen Ebene behandelt die Autorin „russische Gesellschaft“ wie ein abgeschlossenes Ganzes. Verweise auf die internationale Rezeption der Terrorakte und deren Rückwirkungen in Russland sind sehr dünn gesät. In diesem Zusammenhang wäre vielleicht ein Verweis auf das Werk „Angel of Vengeance“ von Ana Siljak hilfreich gewesen. Diese geht darin unter anderem auf die weltweite Rezeption des Attentats von Vera Zasulič auf den Stadtkommandanten von Petersburg Fëdor Trepov 1878 und deren Rückwirkungen auf das Zarenreich ein.3 Außerdem wird der Einfluss der politischen Emigranten in Westeuropa etwas zu stark marginalisiert (S. 185). Ferner blendet der Ansatz von Safronowa die Vielfalt des Zarenreiches aus. Im Zentrum steht bewusst eine anhand von schriftlichen (Selbst-) Zeugnissen gefasste elitäre russische und nicht eine breitere russländische Gesellschaft. Damit lässt sie unter anderem die Pogrome im Süden und Westen des Reiches Ende März 1881 außen vor. Obwohl deren Ursachen in der beschleunigten wirtschaftlichen Modernisierung und Urbanisierung zu suchen sind, nahmen marginalisierte städtische Gruppen Gerüchte rund um die Ermordung von Alexander II. zum Anlass für antisemitische Ausschreitungen. In einem Kontext der allgemeinen Unsicherheit sowie Konfusion über die Identität der „Zarenmörder“ dienten die Juden als willkommene Sündenböcke.4

Insgesamt bietet Safronowas Buch, das sich auch durch ironischen Witz auszeichnet (S. 204f.), aber einen interessanten, exemplarischen Einblick zur Wahrnehmung und Deutung von „Gesellschaft“ im späten Zarenreich. Die Untersuchung kann als Ausgangspunkt für weitere Forschungen zu diesem eher unterbelichteten Thema betrachtet werden. So könnte beispielsweise gefragt werden, wie sich der Diskurs der „Passivität“ der russischen Gesellschaft in den Jahren von 1881 bis 1917 weiterentwickelt hat.

Anmerkungen:
1 Pëtr Zajončkovskij, Krizis samoderžavija na rubeže 1870–1880-ch godov, Moskva 1964; Stepan Volk, Narodnaja volja 1879–1882, Moskva 1966; Oleg Budnickij, Terrorizm v rossijskom osvoboditel’nom dviženii, Moskva 2000; Franco Venturi, Roots of Revolution. A History of the Populist and Socialist Movements in Nineteenth Century Russia, Francis Haskell (Übers.), 2. überarb. Aufl., London 2001 (1. Aufl. 1960).
2 Lutz Häfner, Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Wolgastädte Kazan’ und Saratov 1870–1914, Köln 2004, S. 484–485.
3 Ana Siljak, Angel of Vengeance. The „Girl Assassin“, the Governor of St. Petersburg, and Russia’s Revolutionary World, New York 2008, S. 279–305.
4 Michael Aronson, The Anti-Jewish Pogroms in Russia in 1881, in: John D. Klier u.a. (Hrsg.), Pogroms. Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge 1991, S. 44–61, hier S. 47–50.

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