L. Bosi u.a. (Hrsg.): The Troubles in Northern Ireland

Cover
Titel
The Troubles in Northern Ireland and Theories of Social Movements.


Herausgeber
Bosi, Lorenzo; De Fazio, Gianluca
Erschienen
Anzahl Seiten
244 S.
Preis
€ 90,44
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Sebastian Seibert, Berlin

Gemessen an Größe und Einwohnerzahl gehört Nordirland sicherlich zu den bestuntersuchten Regionen der Welt. Sozialen Bewegungen kam in der neueren irischen Geschichte dabei eine große Bedeutung zu, beginnend mit der Rebellion der United Irishmen, über die Land League, die Home Rule- und Unabhängigkeitsbewegung und die Ulster Volunteers, bis eben zu den verschiedenen Bewegungen während der sogenannten Troubles sowie in jüngerer Zeit die LGBTQ-Bewegung. Ihr Bewegungscharakter spielte allerdings – von wenigen Ausnahmen abgesehen1 – in der sozialwissenschaftlichen und historiographischen Forschung lange eine eher untergeordnete Rolle. Erst in jüngerer Zeit sind eine Reihe von Studien mit einem entsprechenden Fokus erschienen, nicht zuletzt von den Beitragenden des hier rezensierten Sammelbands.

Als dessen Ziel formulieren die beiden Herausgeber, Lorenzo Bosi und Gianluca De Fazio, zu einem besseren Verständnis der sogenannten Troubles beizutragen und neue Perspektiven für die Forschung zu sozialen Bewegungen in Hinblick auf die Untersuchung tiefgespaltener Gesellschaften zu eröffnen. In ihrer Einführung kritisieren sie in Anlehnung an Rogers Brubaker den „groupism“2 zahlreicher Untersuchungen, was zu einer Vernachlässigung der Konjunkturen ethno-nationaler Mobilisierung, von Konkurrenz und Konflikt innerhalb der Bewegungen und des Aufkommens neuer Gruppen und Identitäten geführt habe, die die verfestigten ethno-nationalen Grenzen überwanden (S. 13). Eben diesen Aspekten widmet sich der Sammelband mit einem akteurszentrierten und stärker kontextualisierenden Ansatz, der von einer Kontingenz von Bewegungsentscheidungen ausgeht und nach deren Hintergründen fragt. Ein besonderes Augenmerk liegt daher auf Motiven, Interaktionen und Framing-Prozessen.

Inhaltlich lassen sich die einzelnen Sammelbandbeiträge in vier Themenkomplexe einteilen: Drei Beiträge befassen sich mit der Bürgerrechtsbewegung der 1960er- und frühen 1970er-Jahre, zwei mit Bewegungen aus der unionist community, drei mit der republikanischen Bewegung und zwei mit community-übergreifenden Bewegungen.

Niall O’Dochartaigh spricht in seinem Beitrag die internen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppen innerhalb der Bürgerrechtsbewegung angesichts des Übergangs von friedlichem Protest zu politischer Gewalt an. Hinter den sich verändernden Schwerpunktsetzungen der Bürgerrechtsbewegung und den gewaltsamen Aktionen macht er aber auch eine bis zum Friedensprozess der 1990er-Jahre reichende Kontinuität von grundlegenden Forderungen aus (Polizeireform, Truppenabzug, politische Repräsentation, neue politische Institutionen). Dass er hierin auch die eigentlich zentralen Ziele der republikanischen bewaffneten Gruppen sieht, welche infolge der Eskalation lediglich durch eine verschärfte Rhetorik überlagert worden seien, erscheint allerdings insofern fragwürdig, als damit dem irischen Nationalismus und der Eröffnung eines konstitutionellen Wegs zur Einheit Irlands als einem Kernpunkt des Karfreitagsabkommens nur geringe Bedeutung beigemessen wird (S. 49).

Erin-Beth Turner und Gianluca De Fazio blicken auf die Bürgerrechtsbewegung von deren Adressaten aus. Mit Joseph Luders Störungs- und Konzessionskosten-Modell3, das sie auf diese Weise einem Test unterziehen, analysieren sie die Reaktion der nordirischen Regierung unter Terence O’Neill auf diese Herausforderung. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass Luders Modell emotionalen und ideologischen Aspekten zu wenig Beachtung schenkt.

Greogory Maney stellt die These auf, dass das Framing der Bürgerrechtsbewegung in „externen“ Medien (gemeint sind wohl vor allem US-amerikanische) erheblichen Einfluss auf die britische Nordirlandpolitik gehabt habe. In deren Berichterstattung war zunächst die Darstellungsweise der Bürgerrechtsbewegung übernommen worden, was die britische Regierung unter Zugzwang gebracht habe, in Nordirland einzugreifen. Mit der Fokusverschiebung auf die Gewalt sei jedoch eine Trivialisierung der Bürgerrechtsbewegung einhergegangen. Diese sei zudem nun kritischer gesehen worden. Als Konsequenz habe der Reformdruck nachgelassen. Tatsächliche Veränderungen bezüglich der Bedeutung und Zusammensetzung der Bürgerrechtsbewegung blendet Maney ebenso aus wie die Bemühungen der britischen Regierung, durch eine Reform der politischen Ordnung den Konflikt zu befrieden, welche 1973 zum Sunningdale Agreement führten. Die von ihm geforderte, intensivere Untersuchung sowohl der Kommunikationsstrategien der Konfliktparteien als auch beeinflussender Mechanismen der Medienberichterstattung erscheinen jedoch durchaus lohnenswert.

Sarah Campbell widmet sich dem Zusammenhang von protestantisch-unionistischer Identität und kollektivem Handeln am Beispiel des Ulster Worker‘s Council Streiks 1974, der das Sunningdale Agreement zu Fall brachte, und den Protesten gegen das Anglo-Irish-Agreement 1985–1986. Zur Erklärung des Mobilisierungserfolges greift sie auf das Konzept des Kollektiven Gedächtnisses (Maurice Halbwachs) zurück und argumentiert mit der Nutzbarmachung entsprechender Erinnerungen. 1974 hätten Unionisten und Loyalisten dabei gleichermaßen den von loyalistischen Paramilitärs initiierten und überwachten Streik unterstützt. Den geringeren Erfolg im zweiten Fall führt Campbell auf Auseinandersetzungen innerhalb der unionist community zurück, die sich um Fragen des Nutzens von politischen Gesprächen sowie der Legitimität zivilen Ungehorsams und der Anwendung von Gewalt drehten.

Neil Ferguson und James W. McAuley stellen mit Blick auf loyalistische Paramilitärs fest, dass auch Autoren von politisch motivierten Gewalttaten nicht ideologisch radikal oder radikalisiert sein müssen. Eine wichtige Rolle für das Engagement in bewaffneten Gruppen spielten dagegen Frustrationen, Ungerechtigkeitsempfinden und Leiderfahrungen. Einen Prozess der Reflexion und politisch-ideologischen Radikalisierung durchliefen ihre Interviewpartner dann während ihrer Zeit in Haft. Dieser führte sowohl zu einer Reformulierung von Vorstellungen und Zielen als auch zu veränderten Ansichten hinsichtlich geeigneter Mittel zu deren Erreichung. Demobilisierung, so Ferguson und McAuley, bedeutet damit aber nicht notwendigerweise auch Deradikalisierung oder gar Depolitisierung.

Anhand einer Langzeitbetrachtung der irisch-republikanischen Bewegung und deren Mobilisierungswellen zeigen Robert W. White und Tijen Demirel-Pegg auf, dass sich die Motive für ein Engagement in Phasen klandestiner Organisation und Phasen der Massenbewegung unterschieden. So spielten in letzteren familiäre Verbindungen und ein gefestigtes irisch-nationalistisches Weltbild eine wesentlich geringere Rolle als Ereignisse wie die Augustpogrome 1969, die Internierung ohne Gerichtsverfahren oder der sogenannte Bloody Sunday 1972. White und Demirel-Pegg sehen hierin auch eine Ursache für spätere Spaltungen sowie in dem Fehlen von vergleichbaren Erfahrungen in jüngerer Zeit einen Grund für die geringe Unterstützung der aktuell aktiven bewaffneten Gruppen.

Denis O`Hearn liefert in seinem Beitrag eine detaillierte Beschreibung der Organisation der Anti-H-Block-Kampagne aus dem Gefängnis heraus. Er legt anschaulich dar, wie die Gefangenen eingeübte Protestpraktiken adaptierten, um die Gegebenheiten im Gefängnis für sich nutzbar zu machen und symbolisch umzudeuten. O`Hearn sieht hierin zugleich einen Beleg dafür, dass Isolierungsversuche meist einen gegenteiligen Effekt hätten. So beförderten sie eine Solidaritätskultur, welche die Bereitschaft, Risiken für einander einzugehen, erhöhe. Gefangene, so sein Fazit, sind potentielle Akteure mit einer erstaunlichen Flexibilität und Bewegungsfähigkeit. (S. 162)

Theresa O’Keefes Thema ist der republikanische Feminismus, der von einer langen historischen Verbindung von Feminismus und Nationalismus in Irland geprägt war. Zu einem stärkeren Gender-Bewusstsein führte dabei das Erleben genderbasierter Gewalt durch die Sicherheitskräfte. In der nordirischen Frauenbewegung, die darum bemüht war, Gemeinsamkeiten zu betonen und das Ansprechen spaltender Themen zu unterbinden, fanden republikanische Feministinnen mit ihren Repressionserfahrungen kein Gehör. Innerhalb der republikanischen Bewegung wandten sie sich wiederum gegen die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen etwa durch die IRA. Aufgrund der geteilten Marginalisierungserfahrung entwickelten sich enge Verbindungen zwischen republikanischen und lesbischen Feministinnen.

John Nagle befasst sich in seinem Beitrag mit der Rolle von community-übergreifenden sozialen Bewegungen in Friedensprozessen in Form eines intergesellschaftlichen Vergleichs Nordirlands und des Libanons. Er differenziert dabei zwischen transformierenden Bewegungen, wie die nordirische Gewerkschafts- und die libanesische „Du stinkst“-Bewegung, und pluralistischen Bewegungen, wie die LGBTQ-Bewegung. Nagle zeigt, wie derartige Bewegungen, deren Aktivitäten üblicherweise nicht als Formen ziviler Konfliktbearbeitung wahrgenommen würden, zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung und damit zum Friedensprozess beitragen. Gleichzeitig problematisiert er in diesem Zusammenhang die Auswirkungen der jeweiligen power-sharing-Modelle.

Lee A. Smithey schließlich nimmt die immer noch einer eingehenden wissenschaftlichen Bearbeitung harrende Community of the Peace People in den Blick. Er beschreibt den raschen Aufstieg und Niedergang dieser Mitte der siebziger Jahre kurzzeitig sehr einflussreichen Friedensbewegung als Ergebnis von zunächst gelungenem Framing und dann falscher, da überambitionierter strategischer Entscheidungen. Seine Analyse stützt er in erster Linie auf Veröffentlichungen von Mitgliedern der Peace People. Vermutlich unterscheidet sie sich auch deshalb im Kern kaum von deren eigenen Erklärungsversuchen.

Insgesamt handelt es sich um ein gut konzeptionierten und stimmigen Sammelband, der über eine reine Ansammlung von Aufsätzen hinausgeht. Ihm gelingt es, ein vielschichtiges Bild sozialer Bewegungen in Nordirland zu zeichnen und Vorstellungen von diesen als monolithische und gleichbleibende kollektive Akteure entgegenzuwirken. Während einzelne Beiträge sich dabei mehr an der Oberfläche bewegen, liefern andere durchaus interessante Details. Mag der unmittelbare Erkenntnisgewinn für Kenner/innen Nordirlands auch überschaubar sein, werden doch einige interessante Thesen aufgestellt, die teilweise allerdings noch einer gründlicheren Überprüfung mithilfe einer breiteren Quellenbasis bedürfen. In jedem Fall verdeutlicht der Sammelband das Potential des gewählten Ansatzes.

Anmerkungen:
1 Bspw. Robert W. Whyte, From Peaceful Protest to Guerilla War: Micro-mobilization of the Provisional Irish Republican Army, in: American Journal of Sociology 94, 6 (1989), S. 1277–1302; und Cynthia Irvin, Militant Nationalism: Between Movement and Party in Ireland and the Basque Country, Minneapolis 1999.
2 Rogers Brubaker, Ethnicity without Groups, in: European Journal of Sociology 43, 2 (2002), S. 163–189.
3 Joseph Luders, The Civil Rights Movement and the Logic of Social Change, New York 2010.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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