S. Gorißen u.a. (Hrsg.): Geschichte des Bergischen Landes Bd. 2

Cover
Titel
Geschichte des Bergischen Landes. Band 2: Das 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Gorißen, Stefan; Sassin, Horst; Wesoly, Kurt
Reihe
Bergische Forschungen 32
Erschienen
Anzahl Seiten
864 S., 218 s/w und 132 farb. Abb.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Minner, Universität Siegen, Historisches Seminar, Didaktik der Geschichte

Das bergische Land, der Raum zwischen Ruhr und Sieg, erlebte in der Neuzeit zwei Jahrhunderte außergewöhnlicher Dynamik: Zum Ziel gesetzt haben sich die Herausgeber einen Band, der sowohl einen chronologischen Überblick über die großen Linien der Entwicklung in der Region vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte gibt als auch vertiefend einzelnen Themen nachgeht. Der Fokus der Überblicksartikel gilt besonders der politischen und wirtschaftlichen Geschichte. Daneben greifen kurze Einzelporträts meist Personen oder Firmen auf, die prägend über die Region hinaus besonders wirkten (zum Beispiel Friedrich Engels, Johannes Rau; die Firmen Bayer, Mannesmann). Aspekte von Kultur und Gesellschaft finden, sofern nicht in den Gesamtüberblicken eingebunden, in speziellen Themenbeiträgen Berücksichtigung.

Kernstück des Bandes ist die Darstellung von Rudolf Boch zum langen 19. Jahrhundert (S. 170–267) – der Zeit mit den größten Veränderungen in der Region. Der Autor stellt die Akzente des Bergischen Landes mit der frühen Industrialisierung über Textil- und Kleineisengewerbe und der damit einhergehenden Ausprägung wirtschaftlicher und gesellschaftlich-politischer Strukturen heraus: Es bildete sich ein selbstbewusstes, politisch bevorrechtigtes Wirtschaftsbürgertum heraus, das für eine gewisse Zeit die Interessenartikulation der Rheinprovinz prägte. Die eigene Ausformung einer Industrialisierung, die Heimarbeit und Fabrik verband und sich lange jenseits von Großbetrieben und Schwerindustrie bewegte, begünstigte die Entstehung einer politisch eigenständigen Arbeiterbewegung, die nach dem 1848/49 gescheiterten sozialen Ausgleich dazu führte, dass die Region zur Hochburg zunächst des ADAV und dann der Sozialdemokratie wurde. Die Zeit des Kaiserreichs brachte neue Industriezweige wie den Maschinenbau, die Zulieferbetriebe für die Textilindustrie, die Werkzeugherstellung und die chemische Industrie in den nördlichen Teil der Region. Demgegenüber blieben die süd-östlichen Kreise bis ins 20. Jahrhundert agrarisch geprägt. Mit seiner vornehmlich exportorientierten Wirtschaft wurde die Region zum Gewinner einer „ersten Globalisierungsphase“ (S. 261). Gesellschaftspolitisch sieht Boch das 19. Jahrhundert von der Durchsetzung von Gleichheit geprägt. Impulse im Bereich von Intellektualität und Hochkultur blieben bis ins 20. Jahrhundert nur sehr begrenzt. Für solche Angebote mussten sich die BewohnerInnen nach Köln oder Düsseldorf wenden.

Nicht weniger bewegt erwiesen sich die Jahre von 1914 bis 1933 als Phase von Reformen und Krisen, wenngleich Autor Ralf Stremmel nicht automatisch von einem vorgezeichneten Scheitern der Weimarer Republik ausgeht (S. 572: „Perspektivlos war die Republik auch im Bergischen Land keineswegs“, vgl. auch S. 634), sondern auf Entwicklungspotentiale hinweist und die Zuspitzung der politischen Lage nicht zuletzt als Folge der ökonomischen Krise von 1929 mit hohen Arbeitslosenzahlen an den bergischen Gewerbestandorten deutet. Für die Revolution 1918/19 macht er auf starke Momente des Aufbruchs und auf Erfolge neuer Umsetzungen wie der Demokratisierung der Kommunen, der Gewinnung vieler Spitzenbeamten für eine aktive Mitarbeit und dem Bekenntnis zum Sozialstaat aufmerksam. Wirtschaftliche Blockaden und Krisen trafen das bergische Land hingegen in seiner „weltwirtschaftlichen Verflechtung“ (S. 611) aus Exportorientierung und Rohstoffbedarf einerseits stark, andererseits stellte sich die metallverarbeitende Industrie in Kriegszeiten schnell auf Rüstung um. Durch die kleinteiligen, heterogenen Strukturen fielen die bergischen Gewerbestädte aber hinter rheinische Dienstleistungs- und Verwaltungszentren und die Montanstädte des Ruhrgebiets zurück.

Politisch entsprach die Polarisierung jenem, was auch in anderen Teilen der Weimarer Republik beobachtet werden kann. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blieb die Region zurück, was klassische Hochkultur anging. Auch wenn ab den 1920er-Jahren neue Formen der Massenkultur Einzug hielten, so bilanziert Stremmel, dass das Bergische Land statt von Kulturellem und Experimentellem weiterhin von Kirchtürmen und Fabrikschloten sowie dem „Geist der Bibel und der Bilanzen“ (S. 626) geprägt war. Insgesamt sieht Stremmel für die Jahre der Weimarer Republik keine reichsweiten Impulse aus der Region ausstrahlend.

Die Zeit des „Dritten Reiches“ dekliniert Horst Matzerath unter den gängigen Aspekten durch. Eine besondere Rolle weist er dem Oberbergischen in der frühen Entwicklung des Nationalsozialismus und der politischen Bedeutung Robert Leys für den Gründungsmythos des rheinischen Nationalsozialismus zu.

Was bietet der Band über die Chronologie hinaus? Blicke in eine Vernetzung mit der Welt ermöglichen zum einen der Beitrag von Bettina Severin-Barboutie zur Rolle des Großherzogtums Berg (1806–1813) für das französische Kaiserreich, zum anderen die Ausführungen zur stark exportorientierten Gewerbelandschaft (vor allem bei Boch und Stremmel). Die französische Zeit stellte im Großherzogtum Berg nicht nur Weichen für spätere Entwicklungen (zum Beispiel in Bezug auf rechtliche Rahmenbedingungen oder in der Erinnerungspolitik), sondern rückte die Region als Bühne inszenierter napoleonischer Herrschaftspolitik ins europäische Scheinwerferlicht.

Durch die Frühindustrialisierung und die verlagskapitalistisch organisierte Textilindustrie prägte das Bergische Land, so Albert Eßer und Ralf Rogge, in seinem nördlichen Teil eine der frühesten Gewerbe- und Städtelandschaften mit einer hohen Bevölkerungsdichte in Deutschland aus, während der südliche Teil dünn besiedelt blieb. Auch unterschieden sich die Kommunen in ihrer urbanen Qualität, wobei Wohnungsnot und -bau bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Dauerthema blieben. Ein Beispiel für explosionsartiges Wachstum nach einer Fabrikverlagerung liefert das aus dem Ort Wiesdorf hervorgehende Leverkusen. In den Tendenzen zu Wachstum, Suburbanisierung, Kommunalreform und Renaissance der Innenstädte waren Bergische Städte nach 1945 mit denen anderer Regionen vergleichbar.

Die bisher gängige, stereotype Darstellung der angeblich gehemmten Entwicklung des Verkehrs im Bergischen Land relativiert Ralf Banken. Neuere Themen wie Konsum (am Beispiel der Ernährung) und Umweltgeschichte (Belastung der Wupper) finden als Einzelbeiträge Eingang; touristische Vermarktung kommt als Bestandteil der Rahmenerzählungen vor. Zuzustimmen ist den Herausgebern, die bedauern, dass das Thema Migration mangels AutorIn nicht zu realisieren war. Über das biografische Porträt von Friedrich Wilhelm Raiffeisen wird die Bedeutung des Genossenschaftswesens unterstrichen, das in der Region zwischen 1890 und 1933 zum bedeutenden Wirtschaftsfaktor anwuchs. Weitere Vertiefungsbeiträge greifen klassische Themen von Lokal- und Regionalgeschichten auf: Schul- und Bildungswesen, literarische Produktion, Vereinswesen und Pressegeschichte. Bekannte Alleinstellungsmerkmale wie spezifische Verkehrsinfrastrukturen (Schwebebahn, Müngstener Brücke), prominente Söhne und Unternehmen sowie erfolgreiche Konzepte wie das Elberfelder Armensystem finden auch Eingang in die Darstellungen.

Mehrere Beiträge widmen sich den Kirchen und der konfessionellen Sozialpolitik und tragen damit der Bedeutung vieler Impulse Rechnung, die das Bergische Land im betrachteten Zeitraum aussandte wie der Entwicklung kirchlicher Armen-/Wohlfahrtspflege im 19. Jahrhundert, dem Anstoß zur Bekennenden Kirche im „Dritten Reich“ bis hin zu Aussöhnungsarbeit der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (ab den 1950er-Jahren) und der Eine-Welt-Bewegung zum Beispiel mit der Gründung der GEPA im Jahr 1975.

Die Zusammenstellung und Abstimmung der konzentrierten und konzise angelegten Beiträge ist gelungen und bringt einen beeindruckenden Überblick über die Geschichte der Region im Kontext der allgemeinen deutschen Geschichte auf hohem wissenschaftlichen Niveau, aber guter Lesbarkeit auch und gerade für historisch interessierte Laien. Während die Beiträge zum 19. Jahrhundert stark an den spezifisch bergischen Verhältnissen orientiert allgemeine Entwicklungen mit denen vor Ort belegen, abgleichen oder als spezifische Ausformung ausweisen bzw. gerade Impulse des bergischen Landes auf gesamtdeutsche bzw. gesamtpreußische aufzeigen, geraten die Überblicke zum 20. Jahrhundert je später je mehr zur Schilderung der ‚großen Linien‘ mit eingestreuten bergischen Beispielen, so dass gerade die festgestellte Gleichförmigkeit mit anderen Regionen (bei wenig eigenen Spezifika) als Ausweis exemplarischer Repräsentativität angeführt wird. Für die Zeit nach 1945 (Christoph Nonn) werden die bis dahin vorherrschenden Schwerpunkte der Beiträge von Politik und Wirtschaft mehr zu den Menschen sowie ihrer Arbeits- und Lebenswelt verschoben.

Der Band entgeht souverän der Gefahr, in lokale Kleinteiligkeiten zu verfallen, regionale Mythen und Stereotypen unhinterfragt zu reproduzieren oder sich einseitig auf einzelne, besonders gut untersuchte Städte zu konzentrieren. Die ganze Region, sowohl das industrialisierte Städtedreieck als auch der ländliche Teil im Südosten, wird in den Blick genommen.

Wohlfeil ist es, bei einem Band von knapp 900 Seiten noch Fehlstellen zu monieren. Allerdings drängt sich bei der Zusammenschau der Einzelporträts die Frage auf, ob es zum Beispiel keine Frauen mit zu würdigenden Verdiensten in der Region gab? (In den Beiträgen kommen sie nur am Rande vor). Für diese Vertiefungen bleibt die Auswahl leider früheren geschichtskulturellen Mustern von „großen Männern“ (und Unternehmen), die Geschichte machen, verhaftet.

Mit der Konzentration auf „klassische“ Themen (natürlich nicht zuletzt der notwendigen vorhandenen Grundlagenforschung geschuldet) werden sicher viele Erwartungen regionaler Leser bedient, allerdings hätte sich die wissenschaftliche Leserin an manchen Stellen etwas mehr Mut für Neues und vielleicht Überraschendes gewünscht.

Was genau das Bergische Land ist/war (sowohl im räumlichen Zuschnitt als auch bisweilen als Identitäten und mental maps in den Köpfen der Zeitgenossen), reflektieren die Autoren der Rahmenerzählungen begrenzt für ihre jeweilige Zeit. Eine tiefergehende und zeitübergreifende Analyse dazu hätte sich nach Meinung der Rezensentin als eigenständiger Beitrag gelohnt.1 Insgesamt bleibt aber der Eindruck eines überzeugend angelegten, empfehlenswerten, gehaltvollen Bandes mit höchst ansprechendem Layout und guter Bildauswahl.

Anmerkung:
1 Vgl. zum Beispiel Karl Ditt, Was ist westfälisch? Zur Geschichte eines Stereotyps, in: Westfälische Forschungen 52 (2002), S. 45–94

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