M. Wilde u.a. (Hrsg.): Unter neuer Herrschaft

Cover
Titel
Unter neuer Herrschaft. Konsequenzen des Wiener Kongresses 1815


Herausgeber
Wilde, Manfred; Seehase, Hans
Reihe
Studien zur Deutschen Landeskirchengeschichte 10
Erschienen
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Flemming, Hamburg

Jubiläen, solche mit runder Jahreszahl zumal, treiben mancherlei Aktivitäten hervor, beflügeln für kurze Momente die Erinnerung und die Erinnerungskultur, finden ihren Niederschlag in der Tagespublizistik und auf dem Buchmarkt, sind angesiedelt auf der gesamtstaatlichen, auf der regionalen und der lokalen Ebene. Das war 2017 gleich zwei Mal zu beobachten: bei der Heerschau des deutschen Protestantismus, die mit der fünfhundertsten Wiederkehr von Luthers Thesenanschlag ausklang, und – weniger aufwendig und deutlich ambivalenter – beim Nachdenken über die anfangs bürgerliche und dann bolschewistische Revolution in Russland, die der Zarenherrschaft ein gewaltsames Ende bereitete. Zwei Jahre zuvor war es der Wiener Kongress von 1815, der das Publikum beschäftigte: auch hier unter Beteiligung der Feuilletons und der Historikerzunft. Das uns vertraute Gesamtbild ist dadurch zwar nicht berührt worden, im Blick auf die territorialen Veränderungen in Deutschland aber, auf die sich die beteiligten Mächte verständigt hatten, sind immer noch Entdeckungen zu machen. Dabei hätte sich die Aufmerksamkeit auf die aus den Grenzverschiebungen erwachsenen Konsequenzen zu richten, auf positive und negative Entwicklungsimpulse, auf den Alltag und die Erfahrungen der jeweils betroffenen Bevölkerung, auf die von oben angewandten Strategien der Eingliederung und die von unten zu verzeichnenden Reaktionen, kurzum: auf Integrationsgeschichte und die darin steckenden Potentiale für vergleichende Analysen in Raum und Zeit.

Dies ist zwar nicht ausdrücklich das Programm einer Sammlung von Aufsätzen, für die Manfred Wilde und Hans Seehase verantwortlich zeichnen, wohl aber bieten sie dafür – bewusst oder unbewusst – Anregungen und Bausteine. Hervorgegangen sind sie aus einer Tagung, die im September 2015 der Verein für Kirchengeschichte der Provinz Sachen im Barockschloss Delitzsch veranstaltet hat. Dementsprechend liegt der räumliche Schwerpunkt auf Mitteldeutschland (genauer: auf den Preußen zugeschlagenen sächsischen Gebietsteilen), der thematische auf Aspekten einer bisweilen etwas eng geführten Kirchen- und Verfassungsgeschichte. Beides hält einander ungefähr die Waage. Den Auftakt markiert Heiner Lück mit einer Tour d’Horizon über verfassungsrechtliche Konstellationen vor und nach 1815, die – wenn man so will – allgemeine Hintergrundbilder liefert, auf die sich die regionalen Einzelstudien beziehen lassen. Ähnliches gilt für Axel Noacks Aufsatz, der die mit allerlei, für Laien damals wie heute nicht immer nachvollziehbaren theologischen Debatten befrachteten Wege zur Union von Lutheranern und Reformierten bis hin zum Preußischen Unionsaufruf im September 1817 verfolgt. Manfred Wilde schaut auf die Entstehung der Provinz Sachsen, in die große Teile des Königsreichs Sachsen, das auf der Seite Napoleons gefochten hatte, als preußische Kriegsbeute inkorporiert wurden. Die Einpassung staatlicher und kirchlicher Verwaltungsstrukturen der ehemals sächsischen Markgrafschaft Niederlausitz in die preußische Provinz Brandenburg beleuchtet Wolfgang Krogel, die der Grafschaften Stolberg-Wernigerode, Stolberg-Stolberg und Stolberg-Roßla als Standesherrschaften in die Provinz Sachsen analysiert Hans Seehase. Wie sich der Wechsel von sächsischer zu preußischer Herrschaft im Kirchenrecht spiegelte, erörtert auf knappem Raum Martin Richter. Mit dem Widerstreit zwischen synodalen und konsistorialen Ordnungsentwürfen, zwischen „bürgerlichen Partizipations- und Konstitutionsansprüchen und monarchisch-konservativem Kirchenverständnis“ (S. 230) in den anhaltinischen Herzogtümern beschäftigt sich Jan Brademann, der unter anderem Licht wirft auf die Pfarrerschaft, den Köthener Predigerverein, auf „liturgische Ordnungen und religiöse Praxis“ (S. 244).

Jenseits der verschiedenen mitteldeutschen Gemarkungen berücksichtigt der Sammelband staats- und kirchenrechtliche Verhältnisse im Großherzogtum Baden (Johannes Ehmann), die kirchenpolitischen Reglementierungsbedürfnisse des preußischen Kultusministeriums im Rheinland, die der dortigen „Tradition eines presbyterial-synodalen Leitungsmodells“ (S. 127) zuwiderliefen. Die daraus resultierenden Konflikte und deren Lösung beschreibt Andreas Mühling. Auf die Kirchenpolitik des Königreichs Bayern im Prozess der Integration der linksrheinischen Pfalz lenkt Christoph Picker das Augenmerk, dabei den „freiheitlichen Geist“ (S. 216) der dort herbeigeführten Kirchenunion hervorhebend, deren Leitung wie anderen Orts auch „konsistorial-obrigkeitlich ausgerichtet“ (S. 217) war, zugleich aber doch Raum ließ für die Beteiligungsbedürfnisse von Laien und Pastoren. Frank Stückemann portraitiert den in Minden-Ravensberg tätigen Volksaufklärer Georg Gieseler, ein freisinniger, kirchlicher Dogmatik abholder Pfarrer und Schriftsteller, dessen Überzeugungen mit der Glaubensenge der nach den antinapoleonischen Kriegen aufkommenden Erweckungsbewegung kollidierten. Joachim Kundler endlich richtet den Blick auf den Nordosten, rekonstruiert die schwierigen, an Windungen reichen Verhandlungen, die nach dem Wiener Kongress zum Erwerb Schwedisch-Pommerns durch Preußen führten, um dann auf die Neuordnung der ehemals schwedisch-pommerschen Landeskirche wie die der provinzialen Verwaltung bis hin zur Einrichtung des Regierungsbezirks Stralsund im Januar 1818 einzugehen.

Die im Sammelband abgedruckten Beiträge sind für sich genommen mehr oder minder instruktiv und lassen erkennen, auf welchen Pfaden sich die regionale kirchenhistorische Forschung bewegt. Leider haben sich die Herausgeber auf ein sehr kurzes, für das Weitere wenig aussagekräftiges Vorwort von zweieinhalb Seiten beschränkt, so dass die folgenden Abschnitte ohne orientierende Rahmung bleiben. Auch fehlt ein die Ergebnisse bündelndes, auf mögliche Desiderata oder künftige Projekte hinweisendes Schlusswort. Der sehr allgemeine, unbestimmt gehaltene Titel weckt womöglich Erwartungen, die nicht eingelöst werden, und schließlich: Die dem Buch beigegebenen Karten sind dermaßen klein, dass man sie selbst mit einer Lupe kaum entziffern kann.

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