N. Ibrahimi: The Hazaras and the Afghan State

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Titel
The Hazaras and the Afghan State. Rebellion, Exclusion and the Struggle for Recognition


Autor(en)
Ibrahimi, Niamatullah
Erschienen
London 2017: Hurst & Co.
Anzahl Seiten
XVIII, 285 S.
Preis
£ 40.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Casula, Historisches Seminar, Universität Zürich

Die Hazaras sind eine Volksgruppe in Afghanistan. Diese mehrheitlich schiitischen Muslime leben im zentralen und südlichen Hochland Afghanistans, dem Hazarajat. Niamatullah Ibrahimi analysiert in seinem Buch die Beziehung zwischen den Hazaras und dem afghanischen Zentralstaat vom 19. Jahrhundert bis heute. Ibrahimis politische Soziologie muss sich dabei an wenigen anderen Werken zu den Hazaras messen, darunter an den Arbeiten von Alessandro Monsutti und Sayes Askar Mousavi.1 In seinem Buch legt er ein besonderes Augenmerk auf drei Perioden: auf eine Phase von Staatsbildung und Aufstand, die im Hazara-Krieg 1891–1893 gipfelte, auf eine Periode der Staatskonsolidierung, die zu einer Exklusion der Hazaras führte (1901–1978) und eine Phase des Staatszerfalls, die Ibrahimi 1979 ansetzt (S. 2).

Mit Blick auf die Phase der Staatsbildung zeigt Ibrahimi, dass mit dem (bis heute) dominierenden Narrativ einer wohlwollenden Staatsmacht, die sich gegen eine rückständige und widerspenstige Bevölkerung durchsetzen musste, staatliche Gewalt und Massaker gerechtfertigt wurden. Die Hazaras galten in Afghanistan als archetypische Fortschrittsfeinde – so auch dem afghanischen Emir Abdur Rahman Khan. Er errichtete mit britischer Unterstützung einen repressiven Staatsapparat, einschließlich eines umfassenden Spitzelsystems, und instrumentalisierte Religion zu seinen Zwecken. Der Widerstand der Hazaras 1892–93 war aber Folge der Versklavung und der Plünderung durch den Zentralstaat, nachdem sie sich diesem bereits unterworfen hatten (S. 73f.). Um diesen Aufstand zu zerschlagen, vereinigte Abdur Rahman fast alle sunnitischen Stämme des Landes und brach den Widerstand der Hazaras mit brutalem Terror. Er zielte darauf ab, die Kultur der Hazaras auszulöschen. Das Resultat waren Flucht, Vertreibung sowie Versklavung (S. 78). Besonders paschtunische Nomaden, die Kuchis, folgten dem Ruf des Staates in dieser Kampagne gegen die Hazaras. Ibrahimi resümiert, dass deren endgültige Vereinnahmung durch den afghanischen Zentralstaat keineswegs den Eintritt in ein sozio-ökonomisches System bedeutete, das Modernisierung und Fortschritt versprach. Vielmehr fanden sie sich in einem Kastensystem wieder, in dem sie die unterste Stufe einnahmen.

Das Buch behandelt im dritten Kapitel die Staatskonsolidierung (1901–1978). In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verbesserte der afghanische Zentralstaat die Position der Hazaras. Unter anderem ermöglichte er geflüchteten Hazaras die Rückkehr (1904), die Sklaverei wurde abgeschafft (1921), und die Hazaras erhielten eine Vertretung in der Nationalversammlung (1946). Zur Staatskonsolidierung sollte auch die Herausbildung einer nationalen Identität beitragen. Während Anfang der 1920er-Jahre noch geographische und ethnische Konzeptionen von Nation miteinander konkurrierten, setzte sich zusehends eine ethnische Definition durch, welche die Paschtunen ins Zentrum rückte. So etablierte sich eine Hierarchie der Ethnien, mit Paschtunen und Tadschiken an der Spitze und Usbeken und Hazaras am Ende (S. 97). Die Hazaras wurden dauerhaft diskriminiert, sowohl institutionell als auch informell. Abermals profitierten Kuchis von dieser Diskriminierung, die in Handelsbeziehungen spürbar wurde und sich in der Enteignung von Weideland manifestierte.

Die Phase des Staatszerfalls setzte 1978 ein, als ein linksgerichtetes Regime die Macht übernahm. Durch eine Vielzahl von Interviews zeichnet Ibrahimi nach, dass die Hazaras den Umsturz zunächst begrüßten. Doch die Zentralregierung verfolgte abermals ein radikales Modernisierungsprogramm, das keine Rücksicht auf die Hazaras nahm. Abermals mündete Modernisierung in Gewaltherrschaft. Durch eine Vielzahl kleiner Rebellionen befreite sich das Hazarajat aber von der Kontrolle der Zentralregierung und etablierte zumindest temporär einen Staat im Staat unter dem Revolutionären Rat Islamischer Einheit. Dieser auch Shura genannte Rat kreierte im Hazarajat eine virtuelle Autonomie. Unter dieser Autonomie wurde zwar eine Vielzahl staatsähnlicher Funktionen geschaffen, doch nie bestand der Anspruch, einen ethnischen Hazara-Staat zu etablieren. Die Shura lehnte Ethnonationalismus ab und formulierte ihre Politiken vorrangig in religiösen Begrifflichkeiten (S. 121). Interne Konflikte lösten einen Bürgerkrieg im Hazarajat aus, der zu einer Niederlage der Shura durch aufstrebende Islamisten 1984 und zu einer Fragmentierung des Hazarajat führten. Die 1990er-Jahre schließlich führten zu einer weiteren Ethnisierung der Politik, die in ethnischen Säuberungen der paschtunisch dominierten Taliban gegen die Hazaras in Mazar-e Sharif 1998 und dem Fall von Bamyan im selben Jahr mündeten (S. 200). Auch deshalb wurden Hazaras zu den stärksten Befürwortern der politischen Prozesse nach 2001, während der Widerstand gegen die internationale Intervention sich besonders unter Paschtunen und den Taliban regte.

Niamatullah Ibrahimis Buch überzeugt durch die schiere Detailfülle, mit der er die Beziehungen zwischen den Hazaras und dem Zentralstaat beschreibt. Seine Beobachtungen erstrecken sich über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren. Streckenweise erscheint das Buch gar wie eine Geschichte des afghanischen Staates insgesamt. So sehr verliert sich Ibrahimi teilweise in den Details des afghanischen politischen Mosaiks, dass die Hazaras, ihre kulturellen und sozialen Strukturen stellenweise beinahe aus der Darstellung verschwinden. Im Gegensatz zu anderen Büchern über Afghanistan, die auf die globale Verflechtung des Landes am Hindukusch verweisen2, ist Ibrahimi ganz auf die internen Entwicklungen konzentriert. Der internationale Kontext wird bewusst außen vor gelassen. Beispielsweise erscheint die sowjetische Intervention wie eine Marginalie der afghanischen Geschichte.

Ibrahimi verweist kaum auf Primärquellen, sondern wertet vornehmlich Sekundärliteratur aus und komponiert die Einsichten anderer Texte zu einem überzeugenden Ganzen. Obwohl die Arbeit wohl im Feld der politischen Soziologie zu verorten wäre, kommt Ibrahimi auch weitgehend ohne einen theoretischen oder methodischen Rahmen aus. Dabei hätten seine Ausführungen zu den Hazaras eine Nähe zu Pierre Clastres Modell einer „Gesellschaft gegen den Staat“ nahe gelegt.3 Denn kein afghanischer Zentralstaat hatte Gutes für die Hazaras im Programm: Modernisierungsvorhaben wurden stets gewaltsam durchgesetzt, Versprechen nach staatsbürgerlicher Gleichheit blieben zugunsten ethnisierter Politik unter paschtunischer Dominanz unerfüllt. Ibrahimi unterstreicht insbesondere die Heuchelei eines modernisierenden Zentralstaates, der eine unheilvolle Allianz mit solch einer identity politics eingeht. Sein Fazit fällt denn auch ernüchternd aus: Nach Ethnien geteilte und sich dabei durch Zwangsmaßnahmen modernisierende Staaten seien das Rezept für den Untergang von Minderheiten, aber vielleicht auch des Staates insgesamt (S. 211).

Das Buch leistet einen wichtigen Beitrag, um der Komplexität afghanischer Politik und Geschichte näher zu kommen, und zeigt, wie wichtig es ist, diese Geschichte aus der Perspektive der Unterdrückten zu schreiben. Sein Buch macht überdies deutlich, dass Afghanistan keineswegs als „rückständig“ zu begreifen ist, sondern vielmehr wiederholt als Projektionsfläche wiederkehrender radikaler Modernisierungsprojekte diente.

Anmerkungen:
1 Alessandro Monsutti, Guerres et migrations. Réseaux sociaux et stratégies économiques des Hazaras d'Afghanistan, Neuchâtel 2004; Sayad Askar Mousavi, The Hazaras of Afghanistan: a historical, cultural, economic and political study, Richmond 1998.
2 Robert D. Crews, Afghan Modern, Cambridge 2015.
3 Pierre Clastres, Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie, Frankfurt 1976, S. 179–209.

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