M. Isabella u.a. (Hrsg.): Mediterranean Diasporas

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Titel
Mediterranean Diasporas. Politics and Ideas in the long 19th Century


Herausgeber
Isabella, Maurizio; Zanou, Konstantina
Erschienen
London 2016: Bloomsbury
Anzahl Seiten
XV, 217 S.
Preis
£ 19.79
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristin Platt, Institut für Diaspora- und Genozidforschung, Ruhr-Universität Bochum

Der Sammelband umfasst Beiträge, die aus einer Reihe von Workshops und Tagungen hervorgegangen sind, aufbauend auf einer Zusammenarbeit von Wissenschaftlern des Queen Mary College (Universität London, UK) und der Universität Nikosia (Zypern). Fraglos hat die gemeinsame Vorarbeit zu der ungewöhnlichen Kohärenz der Studien beigetragen. Die Diskussionen, die die einzelnen Untersuchungen eröffnen, möchten mit Blick auf Konfigurationen neuzeitlicher Diaspora-Erfahrungen einen gezielten Beitrag zur Mittelmeerforschung leisten.

Die beiden Herausgeber Maurizio Isabella und Konstantina Zanou verorten die eng miteinander korrespondierenden Studien des Bandes explizit in der jüngeren Mediterranistik. Eine Distanzierung wird überraschenderweise von den Perspektiven einer Diasporaforschung vorgenommen. Nicht „Diaspora als solche“ soll im Vordergrund stehen, es geht vielmehr um die pluralen „Kontaktzonen“, die den Rahmen diasporischer Verwirklichungen bestimmen: „social spaces where cultures meet, clash, and grapple with each other” (S. 7). Typisch für den Mittelmeerraum sei der „flux of peoples, cultures and ideas“; eine kulturelle Situation, die durch Reisen, Exil und Kontakte charakterisiert sei und Erfahrungen sowohl der Fragmentierung als auch der Vervielfältigung von Loyalitäten und Zugehörigkeiten ermögliche. Die „mediterrane Diaspora“ könne somit als Element der historischen Architektur des Raums selbst untersucht werden (S. 2).

Die Einführung der Herausgeber integriert den Terminus der Diaspora in eine Geschichte des Mittelmeerraums – wo er nicht mehr eine spezifische historische Erfahrung von Vertreibung, Fremdheit, fehlender Staatlichkeit oder Zerstreuung beschreiben soll, sondern eine allgemein zugängliche Erfahrung von Reisen, Fremdkontakt und Differenz. Mit dieser Entscheidung balanciert die Einführung zunächst durchaus auf einem wackligen Steg: denn es besteht das Risiko, dass mit den im Band versammelten Beiträgen, die das Leben und Werk ausgewählter politischer Intellektueller erörtern (welche sich in der Mehrheit als Angehörige nationaler Mehrheitsgruppen herausstellen), die Einschreibung diasporischer Orientierungen als „Glättung“ patriotisch-nationaler Haltungen verstanden wird (ganz im Sinne der Deleuze‘schen „Glättung“ politischer Diskurse).

Die Kollektivstudie wird mit Beiträgen von Juan Luis Simal, Gabriel Paquette und Grégoire Bron eröffnet, die nach den Wirkungen der spanischen Revolutionen auf Spanien, Portugal und Italien fragen. Untersucht werden Entwürfe politischer Verfassungen und ihr jeweiliges Scheitern, Vorstellungen von einer Idee Europa oder die Dualismen zwischen nationalen und kosmopolitischen Identitätsverständnissen. Der Blick auf die Rolle „nationaler Exilanten“ und auf die im Exil (das selbstgewählt oder erzwungen sein kann, manchmal auch nur ein Studienaufenthalt ist) entwickelten nationalen Diskurse zeigt sich als eine Perspektive, die auch in den nachfolgenden Beiträgen verbindend verfolgt wird.

Juan Luis Simal entwickelt die interessante Folie der „Briefkultur“ als Form einer „politischen Vernetzung“. Das Zusammenspiel zwischen Briefkommunikation, dem Genre des Briefromans sowie Zeitschriften und Zeitungen habe einen öffentlichen Kommunikationsraum geöffnet, der in besonderer Weise durch die Praxis des Reisens charakterisiert worden sei.

Gabriel Paquette widmet sich dem portugiesischen Schriftsteller, Politiker und späteren Außenminister Almeida Garrett (1799–1854), um in einer Nachzeichnung des biographischen Werdens die Reflexionen auf die Exilzeit in England und Frankreich herauszuarbeiten.

Grégoire Bron sucht den Einfluss der iberischen Revolutionen für zwei unterschiedliche politische Generationen des italienischen Exils nachzuzeichnen. Gerahmt in eine Skizze des Forschungsstands zum italienischen Nationalismus und eine dichte Darstellung der Entstehung eines italienischen Liberalismus geht es ihm um die Betonung, dass sich die italienischen politischen Lager enger als bisher angenommen an Verständnissen von und Diskursen über internationale Revolutionsnotwendigkeiten ausgebildet haben.

Der Beitrag von Maurizio Isabella spitzt die skizzierten Ansätze zu, indem er die von ihm untersuchte Gruppe politischer Intellektueller nicht nur in eine gemeinsame Erfahrung von Exil, Reisen und Fremdheit stellt, sondern auch deren „mediterrane“ Orientierung zu beschreiben sucht, wobei der „mediterrane Liberalismus“ als Antwort auf den Imperialismus Frankreichs und Großbritanniens verstanden wird.

Ian Coller wendet den Blick vom westlichen Mittelmeer auf das Osmanische Reich und schreibt in die türkisch-osmanischen Reformzirkel (insbesondere die Neu- oder Jungosmanen) eine durch Reflexionen auf die Bewegung des „Reisens“ entstandene antiimperiale Haltung ein. Gerichtet zunächst gegen den europäischen Imperialismus wurden zunehmend Oppositionen auch gegen osmanische imperialistische Tendenzen formuliert. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Auseinandersetzung mit der faszinierenden intellektuellen Biographie von Hassuna D’Ghies, der, 1792 in Tripolis geboren, in Frankreich und England ausgebildet wurde und sich später unter anderem als Redakteur des „Moniteur Ottoman“ für die osmanische Reformbewegung einsetzte.

Konstantina Zanou erhellt das von der Forschung bisher kaum berücksichtigte russische Interesse am Mittelmeerraum, das sich in der Entwicklung utopisch-revolutionärer Ideen zeigte und gerade die griechischen Intellektuellen stark beeinflusste.

Dominique Kirchner Reill führt in ihrem Beitrag zum Leben und Werk ausgewählter Intellektueller das Beispiel des politischen Denkens von Niccolò Tommaseo, Pacifico Valussi und Matija Ban an, die sie als Vertreter eines „zweifelnden“ Nationalismus erkennt. In der Analyse der Beiträge dieser Intellektuellen für die italienische Nationsbildung betont sie Elemente „mediterraner Fluidität“ und Dynamik, problematisiert jedoch auch, ob in einer vornationalen Zeit überhaupt von „mediterranen Identitäten“ gesprochen werden könne, sich also im Begriff nicht eigentlich bereits ein nationales Programm zeige.

Auch Andrew Arsan fragt, ob in den neuen Patriotismus in der Zeit der Jung-Osmanen gerade Erfahrungen des politischen Exils eingegangen sind. Die jung-osmanischen Reformer sieht er als „gescheiterte“ politische Bewegung an, wobei seine Überlegung, dass sich die Reformen aufgrund der für das Reich gefürchteten Instabilitäten nicht durchsetzen konnten (Stichworte: christliche „Minderheiten“ und „Europäisierung“), an einen bereits seit mehreren Jahrzehnten gehörenden Konsens der Forschung anschließt.

Artan Puto and Maurizio Isabella erörtern das Wirken zweier albanischer Intellektueller für die Entstehung eines albanischen Nationalismus. In der Nachzeichnung der Werke von Girolamo de Rada und Shenseddin Sami Frasheri gelingt ihnen ein spannender Blick auf die schwierige Geschichte Albaniens und die ethnisch-religiösen Differenzen sowie Vulnerabilitäten, derer sich das Osmanische Reich in dieser Zeit noch geschickt zu bedienen wusste.

Vangelis Kechriotis verfolgt das Wirken zweier griechisch-kappadokischer Intellektueller im Osmanischen Reich (Emmanouil Emmanouilidis und Pavlos Carolidis) vor dem Hintergrund der Geschichte der griechischen Gemeinschaften in Izmir (Smyrna) und Athen. Trotz der Diaspora-Programmatik des Bandes wird in der Studie die politische und soziale Situation der Griechen in Smyrna aber nur skizzenhaft beleuchtet.

Das kluge Nachwort von Thomas W. Gallant fokussiert abschließend noch einmal die Forschungsagenda des Bandes: anhand einer Auseinandersetzung mit der Biographie und dem Werk ausgewählter politischer Intellektueller ein neues Kapitel transnationaler Geistesgeschichte des Mittelmeers aufzuschlagen.

Die sich zu einer gelungenen Kollektivstudie schließenden Beiträge stellen Analysen zu einzelnen politischen, vorwiegend liberalen Intellektuellen des Mittelmeerraums vor, deren transnationales Engagement maßgeblich zum Wandel der (nationalen) Kulturen und Gesellschaften des Mittelmeerraums im 19. Jahrhundert beigetragen hat.

Einen Baustein zur Diasporageschichte des Mittelmeerraums bietet der Band dabei nicht, denn zweifellos ist Diaspora nicht zu verkürzen auf die Möglichkeit oder Fähigkeit, unterschiedliche Heimaten als Heimat zu erfahren. Kritisch anzumerken wäre auch eine zu knappe Problematisierung dessen, was es genau besagen könnte, „mediterran“ zu denken, sowie die geradlinige Überführung des „Mediterranen“ in eine Metapher von Dynamik. Die Figuren der Fluidität und Dynamik sind kaum ausreichend, um die Argumentation zu begründen, mit den ausgewählten Akteuren begegne man einer „anderen“ Geschichte des Mittelmeerraums. Zwar sind viele der vorgestellten Akteure kaum bekannt. Die Geschichte, die mit ihnen geschrieben wird, ist es zu weiten Teilen jedoch sehr wohl.