Eine Neubetrachtung „gescheiterter“ Bildungsreformen in der Bundesrepublik

Ende der Utopien? Eine Neubetrachtung „gescheiterter“ Bildungsreformen in der Bundesrepublik nach 1968

Veranstalter
Jan-Henrik Friedrichs, Institut für Erziehungswissenschaft, Abt. Allgemeine Erziehungswissenschaft, Universität Hildesheim//Carla Seemann, Romanische Kulturwissenschaft, Universität des Saarlandes
Veranstaltungsort
Universität Hildesheim
Gefördert durch
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
PLZ
31141
Ort
Hildesheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.10.2022 - 07.10.2022
Deadline
19.06.2022
Von
Carla Seemann, Romanische Kulturwissenschaft, Universität des Saarlandes

Für einen zweitägigen Workshop an der Universität Hildesheim vom 6.–7. Oktober 2022 suchen wir Beiträge, die sich mit Bildungsreformen und Fragen der Erziehung in der Bundesrepublik nach 1968 befassen und dabei gängige Perspektiven, Narrativierungen und Periodisierungen der zeithistorischen Foschung wie "Krise", "Scheitern" oder "Enttäuschung" der Reform neu denken. Bewerbungsfrist ist der 19.06.2022.

Ende der Utopien? Eine Neubetrachtung „gescheiterter“ Bildungsreformen in der Bundesrepublik nach 1968

Scheitern, Enttäuschung, Krise. Es scheint in der zeithistorischen Forschung unumstritten, dass sich im Verlauf der 1970er Jahre im Dunstkreis „der 1968er“ gehegte und durch die sozialliberale Koalition auch politisch flankierte Zukunftsvisionen, Reformbemühungen und Bildungsutopien harsch zerschlugen. Sinnbildlich für die angenommene Zäsur stehen im Bildungsbereich etwa der Radikalenerlass von 1972, das Scheitern der Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre 1973 oder die Auflösung des Bildungsrates 1975.
In der historiographischen Betrachtung jenes oft als konservative „Tendenzwende“ (Jansa 1999; Schildt 2004) beschriebenen Prozesses wurde die Bildungspolitik teilweise als Marker für einen angenommenen umfassenderen gesellschaftlichen Umschlag von Reformeuphorie zu Reformskepsis verstanden (Wehrs 2010: 93). Nicht nur habe die Bildungsfrage in den 1960er Jahren als Teil einer als präventiv-steuernd verstandenen Sozialpolitik an Prestige gewonnen (vgl. Kenkmann 2000: 413; Rudloff 2007), auch seien in der Folgedekade Bildungsdiskussionen zu einem politischen „Kampffeld“ (Schildt 2004: 474) stilisiert worden. Inwiefern Bildungsgeschichte tatsächlich für eine Gesellschaftsgeschichte „nach 1968“ produktiv gemacht werden kann (vgl. Baader/Herrmann 2011), soll eine Fragestellung des Workshops sein.
Unabhängig davon, ob der angenommene Bruch zu den langen 1960er Jahren in den frühen, mittleren oder späten 1970er Jahren lokalisiert wird (vgl. Jarausch 2008: 11), werden in den Semantiken unterschiedliche Charakterisierungen dieses Bruchs deutlich. Wo etwa ein „Scheitern“ von Planungsutopien im Allgemeinen (Schildt 2004) oder des spezifischen Versuchs, Bildungspolitik und -planung als länderübergreifendes Projekt anzugehen (Rödder 2004), konstatiert wird, werden reformimmanente Prozesse betont: die Reform scheitert letztlich an sich selbst bzw. an den zuvor auf sie gerichteten Hoffnungen. Ähnliches gilt für eine konstatierte „Reformmüdigkeit“, „Ernüchterung“ bzw. „Enttäuschung“ von Reformerwartungen. Demgegenüber versteht der Begriff der „Krise“ das Ende der Bildungsreformen nicht nur als Ausdruck und Folge der ökonomischen Krise 1973/74, sondern fügt sich in umfassendere Deutungen der 1970er Jahre als „Krisenjahrzehnt“ ein (Gass-Bolm 2005: 379; Kenkmann 2000: 422; Uhle 2004: 50). Eine andere Akzentuierung nehmen solche Autor:innen vor, die das Ende der Reformen als Ergebnis einer „Gegenreform“ verstehen oder den politischen Streit gar zum Kennzeichen der Dekade erklären (Greiffenhagen/Scheer 1975; Rohstock 2010; Mergel 2014). Das Ende der Bildungsreformen erscheint so weniger als immanentes Scheitern denn als politische Niederlage.
Während diese Deutungsschemata sich im semantischen Feld eines radikalen Bruchs zwischen Ordnungen und Gefühlslagen – von der Euphorie zur Enttäuschung – bewegen, stellen andere Stimmen die als einseitig wahrgenommene Lesart der 1970er Jahre als Krisenzeit in Frage und betonen stattdessen die „Koinzidenz von Krisenrhetorik und Aufbruchsstimmung“ (Jarausch 2008: 15; Metzler 2008: 255) sowie von (linker) Reformeuphorie und (konservativen) Ängsten (Mergel 2014: 243). Peter Caldwell (2018) plädiert etwa dafür, die Protestbewegungen der 1960er Jahre als Vorgeschichte für einen sozialen Wandel zu lesen, der nicht in 1968 kulminierte (und dann scheiterte), sondern seine Wirkungen erst in der folgenden Dekade voll entfaltete. Zu fragen wäre daher, ob ein Ende des Sprechens über Reform immer auch ein Ende der darunter gefassten Ziele und Maßnahmen bedeutete. Auch Torsten Gass-Bolm (2005) argumentiert, dass die Ergebnisse des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses sich im Laufe der 1970er Jahre verfestigten und zentrale Themen wie „Demokratisierung, Chancengleichheit, Gesamtschule, Oberstufenreform, Partizipation, Numerus Clausus“ (ebd.: 379) trotz „Reformmüdigkeit“ aktuell geblieben seien. Statt einer Abkehr von in den 1960er Jahren formulierten Reformplänen, so auch Andreas Hoffmann-Ocon und Julien Criblez (2017), habe in den 1970er und 1980er Jahren eher eine Evaluation des Erreichten und eine darauf fußende Neuformulierung von Reformzielen stattgefunden, die in engem Zusammenhang mit der „realistischen Wende“ in der Erziehungswissenschaft standen.
Patrick Bernhard (2012) hinterfragt grundsätzlicher die Übernahme zeitgenössischer Reformdiskurse durch große Teile der Geschichtswissenschaft und gibt zu bedenken, dass die durch die sozialliberale Regierung aufgerufene Reformrhetorik nicht immer mit Liberalisierung und Demokratisierung gleichzusetzen war, sondern sich hierunter verschiedene politische oder ökonomische Interessen verbergen konnten. Die Auslegung der Reform als ‚linkes‘ Projekt ist dabei bereits einer zeitgenössischen konservativen Deutung entlehnt: erst zu dem Zeitpunkt, als Modernisierung erstmals mit „Demokratisierung“ verknüpft wurde und damit nicht mehr konservativ besetzt war, wurde diese als politisch belastet problematisiert (vgl. Schildt 2004: 451).
Ausgehend von diesen Überlegungen suchen wir Beiträge, welche folgende Themenfelder adressieren oder eigene Schwerpunktsetzungen vornehmen:

Neue Narrativierungen des Reformendes. Welche Aspekte der Bildungsreform enden wie – und welche nicht? Statt global von „der Bildungsreform“ und ihrem Ende zu sprechen und pauschal Deutungen des Scheiterns, der Skepsis oder der Niederlage zu übernehmen, gilt es genauer zu differenzieren. So wurde bereits zeitgenössisch oft zwischen „innerer Reform“ (die Lehrinhalte betreffend) und „äußerer Reform“ (Strukturreformen) unterschieden. Hier scheint es erstens fruchtbar, die Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken in den Blick zu nehmen. Zweitens stellt sich die Frage, wie sich ein nicht von Aufbruch und Euphorie (und vielfach von medialem Interesse) begleitetes Ende von Reformen begrifflich fassen und erzählen lässt – und zwar sowohl biografisch als auch historiografisch. Wie verändert sich dadurch unser Blick auf „1968“ und das Narrativ einer umfassenden Liberalisierung?

Periodisierungen und Ungleichzeitigkeiten. Statt eine zeitliche Abfolge von Reformeuphorie und -skepsis vorauszusetzen wäre nach deren Nebeneinander zu fragen. Wie verhielten sich Veränderungswille und Beharrungskräfte, aber auch der Eigen-Sinn unterschiedlicher Akteur:innen zueinander? Dies betrifft die Ebene der Verwaltung ebenso wie einzelne Lehrkräfte, die sich Reformbemühungen widersetzten oder an diesen auch gegen Widerstände festhielten. Es ließe sich auch an Schüler:innen denken, die etwa die Freiheit des Diskutierens eher als Zumutung empfanden (vgl. dazu Häberlen 2019: 111; Wagner 2020: 545).

Bildungsgeschichte als Kulturgeschichte des Politischen. Was kommt nach der Reform? Fand eine schon zeitgenössisch als entpolitisierend beklagte „Flucht in die Pädagogik“ statt (Schneider 1979; Rudloff 2007: 261)? Entwickelten sich neue gouvernementale Regierungsweisen eines zunehmend als „demokratischer Problemort“ (Kössler 2020: 208) wahrgenommenen Feldes? Und wie fügt sich dies in seitens der Zeitgeschichte konstatierte größere gesellschaftliche Entwicklungen der Individualisierung politischer Fragen, einer Hinwendung zum „Selbst“ (Sarasin 2021), einem Wandel zur Kontrollgesellschaft (Deleuze 2005) und einem steigenden Einfluss neoliberaler Politiken im Bildungswesen ein (Pongratz 2004)? Fruchtbar erscheint uns hier eine Perspektive auf sich wandelnde Subjektvorstellungen und Subjektivierungstechniken im Feld der Erziehung.

Bewerbung

Wir freuen uns über Beiträger:innen unterschiedlicher Disziplinen und jeglicher Qualifikationsstufen. Besonders willkommen sind Vorträge, die theoretische Fragen und/oder transnationale Aspekte adressieren. Die Vorträge sollen 20 Minuten umfassen. Bitte senden Sie bis zum 19. Juni 2022 ein Abstract (ca. 1/2 Seite), aus dem Ihre zentrale These hervorgeht, sowie eine kurze biographische Skizze an Jan-Henrik Friedrichs (friedri@uni-hildesheim.de) und Carla Seemann (carla.seemann@uni-saarland.de).
Der Workshop ist vorbehaltlich der pandemischen Entwicklung als Präsenzveranstaltung an der Universität Hildesheim geplant. Reise- und Übernachtungskosten werden übernommen.

Literatur

Baader, Meike Sophia/Herrmann, Ulrich (Hrsg.) (2011): 68 – Engagierte Jugend und Kritische Pädagogik. Impulse und Folgen eines kulturellen Umbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik. Weinheim, München: Juventa.

Bernhard, Patrick (2012): Wirklich alles locker, flockig, liberal? Plädoyer für einen postrevisionistischen Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren. In: Löhnig, Martin/Preisner, Mareike/Schlemmer, Thomas (Hrsg.): Reform und Revolte. Eine Rechtsgeschichte der 1960er und 1970er Jahre. Tübingen: Mohr Siebeck. S. 1–12.

Caldwell, Peter C./Hanshew, Karrin (2018): Germany since 1945. Politics, Culture, and Society. London, New York, Oxford, New Delhi, Sydney: Bloomsbury Academic.

Deleuze, Gilles (2005): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften [1990]. In: Breit, Helmut/Rittberger, Michael/Sertl, Michael (Hrsg.): Kontrollgesellschaft und Schule. Wien: StudienVerlag. S. 7–14.

Gass-Bolm, Torsten (2005): Das Gymnasium 1945-1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland. Göttingen: Wallstein.

Greiffenhagen, Martin/Scheer, Hermann (Hrsg.) (1975): Die Gegenreform. Zur Frage der Reformierbarkeit von Staat und Gesellschaft, Reinbek: Rowohlt.

Häberlen, Joachim C. (2019): (Not) Narrating the History of the Federal Republic: Reflections on the Place of the New Left in West German History and Historiography. In: Central European History 52, H. 1, S. 107–124.
Hoffmann-Ocon, Andreas/Criblez, Lucien (2017): Pädagogische Diskurse und Entwicklungen in den Achtzigerjahren. Eine Annäherung. In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, H. 23, S. 9–28.
Jansa, Axel (1999): Pädagogik, Politik, Ästhetik. Paradigmenwechsel um '68. Zugl.: Berlin, Techn. Univ., Diss., 1997. Frankfurt a. M.: Lang.

Jarausch, Konrad (2008): Verkannter Strukturwandel. Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart. In: Jarausch, Konrad (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 9–26.

Kenkmann, Alfons (2000): Von der bundesdeutschen „Bildungsmisere“ zur Bildungsreform in den 60er Jahren. In: Schildt, Axel/Lammers, Karl Christian/Siegfried, Detlef (Hrsg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg: Christians Verlag. S. 402–423.

Kössler, Till (2020): Antifaschistische Klassenzimmer? Schule, Rechtsextremismus und Demokratie nach „Achtundsechzig“. In: Schanetzky, Tim/Steinbacher, Sybille/Süß, Dietmar/Weinke, Annette/Freimüller, Tobias/Meyer, Kristina (Hrsg.): Demokratisierung der Deutschen. Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts. Göttingen: Wallstein. S. 206–219.

Küster, Thomas (2003): Das Erlernen des Dialogs. Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas nach 1968 am Beispiel eines Gütersloher Gymnasiums. In: Frese, Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hrsg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. Paderborn: Schöningh. S. 683–705.

Mergel, Thomas (2014): Zeit des Streits. Die siebziger Jahre in der Bundesrepublik als eine Periode des Konflikts. In: Wildt, Michael (Hrsg.): Geschichte denken. Perspektiven auf die Geschichtsschreibung heute. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 224–243.

Metzler, Gabriele (2008): Staatsversagen und Unregierbarkeit in den siebziger Jahren? In: Jarausch, Konrad (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 243–260.

Pongratz, Ludwig A. (2004): Freiwillige Selbstkontrolle. Schule zwischen Disziplinar- und Kontrollgesellschaft. In: Ricken, Norbert/Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 243–259.

Rödder, Andreas (2004): Die Bundesrepublik Deutschland 1969-1990. München: Oldenbourg.

Rohstock, Anne (2010): Von der „Ordinarienuniversität“ zur „Revolutionszentrale“? Hochschulreform und Hochschulrevolte in Bayern und Hessen 1957-1976. München: Oldenbourg.

Rudloff, Wilfried (2007): Bildungspolitik als Sozial- und Gesellschaftspolitik. Die Bundesrepublik in den 1960er- und 1970er-Jahren im internationalen Vergleich. In: Archiv für Sozialgeschichte 47. S. 237-268.
Sarasin, Philipp (2021). 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Berlin: Suhrkamp.

Schildt, Axel (2004): „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten“. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren. In: Archiv für Sozialgeschichte, H. 44, S. 449–478.

Schneider, Bernd (1979): Flucht in die Pädagogik. In: Informationsdienst des Sozialistischen Lehrerbundes, H. 38, S. 37–44.

Uhle, Reinhard (2004): Pädagogik der siebziger Jahre. Zwischen wissenschaftsorientierter Bildung und repressionsarmer Erziehung. In: Faulstich, Werner (Hrsg.): Die Kultur der siebziger Jahre. München: Fink. S. 49–64.

Wagner, Philip (2020): Umkämpfte Werte. Politische Bildung und die bedrohte Demokratie im Westdeutschland der 1970er- und 1980er-Jahre. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 71, 9/10, S. 537–554.

Wehrs, Nikolai (2010). Protest der Professoren. Der Bund Freiheit der Wissenschaft und die Tendenzwende der 1970er Jahre. In Livi, Massimiliano/Schmidt, Daniel/Sturm, Michel (Hrsg.): Die 1970er Jahre als schwarzes Jahrzehnt. Politisierung und Mobilisierung zwischen christlicher Demokratie und extremer Rechter. Frankfurt/New York: Campus Verlag. S. 91–112.

Kontakt

Jan-Henrik Friedrichs (friedri@uni-hildesheim.de)
Carla Seemann (carla.seemann@uni-saarland.de)

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