Situierte Emotionen. Anthropologie und Geschichte im Gespräch

Situierte Emotionen. Anthropologie und Geschichte im Gespräch

Organizer
Prof. Denis Laborde, EHESS (Paris), CNRS (UMR Passages – Institut ARI, Bayonne); Dr. Karsten Lichau, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
Venue
Basque Anthropological Research Institute on Music, Emotion, and Human Societies
Funded by
Deutsch-Französische Hochschule, Saarbrücken; ARI, Bayonne; MPIB, Berlin
ZIP
F-64100
Location
Bayonne, Frankreich
Country
France
Takes place
In Attendance
From - Until
03.10.2022 - 08.10.2022
Deadline
31.08.2022
By
Karsten Lichau, Forschungsbereich "Geschichte der Gefühle", Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Diese deutsch-französische Herbstuniversität richtet sich an Studierende im Master, Doktorand:innen und PostDocs, die sich mit dem sozialen Herstellen von Gefühlen (musikalischer oder anderer Natur) beschäftigen. Im Zentrum steht dabei die gemeinsame Beschäftigung mit Studien, die sich mit der räumlichen, historischen und kulturellen Situiertheit von Gefühlen auseinandersetzen. Die Teilnahme ist offen für alle Richtungen der Geistes- und Sozialwissenschaften.

Situierte Emotionen. Anthropologie und Geschichte im Gespräch

1. THEMA
Im Zentrum der Herbstuniversität steht die Frage nach emotionalen Erfahrungen der Authentizität und der (Vor-)Täuschung von Gefühlen – eine Frage, die im Zuge des performative turn scheinbar obsolet geworden zu sein schien, aber gerade in diesem epistemologischen Rahmen in eine neue Perspektive gerückt werden soll. Um sich dieser Frage zu widmen, soll ein Dialog zwischen Anthropologie und Geschichtswissenschaft, Affect Studies und Emotionengeschichte angestoßen werden, der sich mit der Erfassung von Emotionen in Situationen befasst und ein Verständnis dessen ermöglichen soll, was sich genau in diesen Situationen abspielt. Wie kann man die Pluralität der emotionalen Bewegungen und Empfindungen, die im gemeinsamen Raum einer emotionalen Begegnung oder Aufführung auf dem Spiel stehen, erfassen?

2. EINE PLURIDISZIPLINÄRE PERSPEKTIVE

(Musikalische) Emotionen als sich organisierendes Verhalten

In den letzten Jahren haben Arbeiten auf dem Gebiet der Geschichte der Emotionen einerseits und ihre Erforschung aus pragmatischer Sicht andererseits die Annahme in Frage gestellt, dass die emotionale Wirkung von Klängen und Musik sich von selbst versteht und keiner weiteren Erklärung bedarf (Juliane Brauer). Gegen diese essentialistische und universalistische Verallgemeinerung begreifen wir Emotionen als ein im Feld der Erfahrung sich organisierendes Verhalten. Es handelt sich dabei um einen Prozess des Austauschs zwischen dem Organismus und seiner Umwelt. Dieser emotionalen Transaktion nachgehend, richtet sich die Aufmerksamkeit der Forscher:innen auf den konstruierten Charakter unserer emotionalen Bewegungen: Die Emotion ist Gegenstand der Anthropologie und der Geschichte.
Wenn man jedoch davon ausgeht, dass es eine (kulturell konstituierte) Grammatik der Emotionen gibt, dann kann man mit dem konstruierten Charakter der Emotion, mit seinen Ausdrucksformen spielen und die Interpretationsschemata manipulieren, kurz gesagt: Man geht davon aus, dass eine Emotion vorgetäuscht und unecht sein kann. Neuere Arbeiten über Emotionen haben aber zugleich betont, dass Emotionen ihre eigenen Wahrheiten oder Realitäten erzeugen und dem Spiel mit Emotionen daher Grenzen gesetzt sind.

Affect Studies versus Cultural Turn

Hier spannt sich der Dialog zwischen den Affect Studies und den Erben des Cultural Turn auf. Für die phänomenologisch orientierten Affect Studies bergen die Emotionen eine unumgängliche Kraft, die sich oft dem Diskurs und der Kontrolle entziehen. Daher sind für eine Beschäftigung mit emotionalen Situationen, die unter der Schirmherrschaft der Affect Studies steht, der vorpersönliche Ursprung der Emotionen sowie die Rolle der Motorik, über die das Erlernen von accountability läuft, unumgänglich.
Die Emotionshistoriker:innen, die eher die Erben des cultural turn sind, vertreten dagegen zumeist die Ansicht, dass Emotionen kulturell konstituierte Realitäten sind. Sie sind erlernt und daher kontingent. Als Habitus inkorporiert, werden sie zu einer "zweiten Natur", einer "Technik des Körpers", in der nach Marcel Mauss das Werk der "Techniken und das Werk der individuellen und kollektiven praktischen Vernunft zu sehen [ist], da, wo man gemeinhin nur die Seele und ihre Fähigkeiten der Wiederholung sieht" (in Mauss, Die Techniken des Körpers, in: Ders.: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, München 1974, S. 203). Hier sind Emotionen Serien von Handlungen, "die im Individuum nicht einfach von ihm selbst, sondern von seiner gesamten Erziehung, von der gesamten Gesellschaft, der er angehört, an dem Platz, den er dort einnimmt, eingesetzt werden" (ebd.: 372).

Emotionen (und ihre Epistemologien) in der Geschichte situieren

In ihrem kritischen Dialog mit den Neurowissenschaften betonen Historiker:innen und Soziolog:innen die kognitive Dimension von Emotionen und Gefühlen (Barbara Rosenwein, William Reddy, Louis Quéré). Jede Erkenntnishaltung hat aber ihre eigene Geschichte, und es scheint, dass sich auch der Dialog der Epistemologien in dieser Geschichte entwickelt. So wenden sich diese Arbeiten gegen eine Disqualifizierung von Gefühlen, die von der Aufklärung ausgeht und Emotionen als irrational, trügerisch oder künstlich abwertet. Diese Abwertung intensivierte sich unter dem Einfluss der sozialen Codes, die im 19. Jh. von einer modernen Bourgeoisie durchgesetzt wurden, in dem Versuch, ihre eigenen Verhaltensmarker aufzubauen. Die Frage der Aufrichtigkeit erlangte zentrale Bedeutung. Gefühle wurden als authentisch angesehen, wenn sie ernsthaft und "innerlich" empfunden wurden (Monique Scheer).
Diese Art der Betrachtung von Emotionen wurde zu Recht von der Emotionengeschichte kritisiert und historisiert, da sie die performative Dimension der Erfahrung und die individuelle Wahrnehmung von Emotionen ausblendet. Entscheidend ist aus dieser Perspektive, dass die Authentizität selbst erlernt werden kann. Sind Begriffe wie Authentizität, Täuschung oder Künstlichkeit damit aber vollständig obsolet geworden? Wenn Emotionen und Gefühle nicht als entweder authentisch oder irreführend "an sich" betrachtet werden dürfen und immer daran erinnert werden muss, dass sie auch in ihrer performativen Dimension gelernt, inkorporiert und verändert werden, bedeutet das dann, dass Analysen, die sich mit der Frage befassen, ob Emotionen oder Gefühle authentisch bzw. irreführend oder künstlich sind, überhaupt keinen Sinn mehr machen? Wie steht es dann aber mit der Selbstwahrnehmung, die bewirkt, dass Emotionen gerade aufgrund ihres kulturellen oder konstruierten Charakters auf äußerst unterschiedliche Weise erlebt werden und dass ein und dieselbe Situation sehr unterschiedliche emotionale Bewegungen hervorrufen kann? Sind alle Gefühle sowohl künstlich als auch authentisch? Können erlernte Emotionen als vorgetäuscht oder "künstlich" und gleichzeitig als authentisch und überwältigend wahrgenommen werden? Dies sind einige der Fragen, die wir im Rahmen dieser Herbstuniversität erörtern wollen.
Neuere Arbeiten, die sich mit der Geschichte der Emotionen befassen, haben diese Fragen vernachlässigt, was möglicherweise auf ihre eigene historische Verankerung und die daraus resultierenden blinden Flecken in den aktuellen Emotionstheorien zurückzuführen ist. Wie kann die Zuschreibung von Eigenschaften (wie Täuschung, Künstlichkeit oder Authentizität) an Emotionen im Rahmen einer Theorie der Gefühle verstanden werden, die Emotionen als kulturell situierte performative Praktiken betrachtet? Welche Begriffe und Kategorien lassen sich finden, um das Spektrum zu beschreiben, das sich zwischen den Polen Authentizität, Ernsthaftigkeit oder Intensität und Heuchelei, aufgesetztem oder sogar "falschem" Ausdruck von Gefühlen erstreckt? Es ist davon auszugehen, dass wir es nicht mit einer Dichotomie, sondern mit einem Kontinuum zu tun haben, das viele Zwischenstufen umfasst: Gleichgültigkeit, Zur-Schaustellung, Anstrengung, Versuch, Überzeugungskraft.

Musik und Emotionen

Musik eignet sich besonders gut für die Untersuchung dieser Fragen. Wer hat nicht schon die Erfahrung gemacht, dass ein musikalisches Ereignis mitreißt, überwältigtund eine solche emotionale Intensität entfaltet, dass es als Ausdruck von "Authentizität " oder "Enthusiasmus" wahrgenommen wird? Zugleich kennen wir alle Situationen, in denen wir eine Diskrepanz zwischen den durch die Mimik der Musiker:innen oder des Publikums, deren gezeigte Haltung oder durch die Klänge bekräftigten Gefühle und der von uns wahrgenommenen Wirkung empfinden, so dass solche Gefühlsbekundungen uns aufgesetzt oder künstlich erscheinen. Die Art und Weise, wie Musik erlebt wird, hängt jedoch wiederum von sozialen Dispositionen ab: Was für die einen die Verkörperung eines emotionalen Musiklebens ist, ist für andere nur "Show".
Um uns diesen Fragen widmen zu können, stellen wir die epistemische Konfiguration von Wissen mehr in den Vordergrund als dessen disziplinären Verankerungen. Um das Spektrum der Methodologien und epistemischen Ansätze zu erweitern, steht die Herbstuniversität allen Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften offen – Bezüge zum Feld der Musik sind willkommen, aber keine notwendige Voraussetzung für die Teilnahme.
Die Veranstaltung findet gemeinsam mit dem Festival Haizebegi statt: www.haizebegi.eu.

Die Kandidat:innen reichen eine Projektskizze von maximal 2 Seiten ein und teilen mit, für welche der beiden folgenden Gruppen sie sich bewerben.
Gruppe A „Präsentation des eigenen Projekts“ (8 Studierende): Dazu werden aus den Bewerbungen für Gruppe A 8 Projekte ausgewählt. Die ausgewählten Teilnehmer:innen arbeiten ihren jeweiligen Projektvorschlag aus zu einem ca. 10-seitigen Text, der auf einer gemeinsamen virtuellen Arbeitsplattform digital geteilt wird.
Gruppe B „Kommentierung der ausgewählten Projekte“ (8 Studierende): Während der Herbstschule werden die Texte der Gruppe A von 8 anderen Kandidat:innen kommentiert.

Contact (announcement)

lichau@mpib-berlin.mpg.de

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