Deadline verlängert
Aufenthalts- und Reisekosten werden für Vortragende bei Bedarf übernommen. Wir bitten um Auskunft über die Höhe der zu erwartenden Reisekosten. Neues Einreichende: 31. Mai 2023.
Soziale Bewegungen gelten in der Geschichtswissenschaft als ein Phänomen der Moderne. Sie unterscheiden sich von älteren Protestformen durch ihre Ausrichtung auf eine medial erzeugte Öffentlichkeit, das Auftreten hochengagierter politischer Anführer:innen und die Ausbildung eines Werte- und Verhaltenskodex, der Gewaltausbrüche bannt. Zugleich gilt ein gewisses Maß an „Demokratisierung“ in einer Gesellschaft als eine wichtige Voraussetzung für das Entstehen sozialer Bewegungen.
Die Bedeutung von – auch medial vermittelter – Kommunikation in sozialen Bewegungen ist immer wieder hervorgehoben worden. Der Fokus dieser Tagung liegt auf einer bislang vernachlässigten Quelle zur Erforschung sozialer Bewegungen: Briefe an prominente Aktivistinnen und Aktivisten von ihnen bis dahin unbekannten Menschen. Derartige Briefe finden sich in den Jahrzehnten um 1900 in Nachlässen von bekannten Aktivistinnen der Frauenbewegung und Schriftstellerinnen, die sich mit Werken zur Frauenfrage einen Namen gemacht hatten. Frauen wandten sich brieflich an eine der Galionsfiguren der Ersten Frauenbewegung und erhofften sich eine Antwort von ihr. In diesen Briefen wurden Anliegen formuliert, die häufig um die Themen Frauenbildung, Frauenerwerb und ein selbstbestimmtes Leben kreisten.
Ziel dieser Tagung ist es, diese besondere kommunikative Praktik im Rahmen eines vergleichenden Zugangs zu sozialen Bewegungen näher zu bestimmen. Gibt es dieses Phänomen von Briefen an prominente Aktivistinnen und Aktivisten von ihnen bislang unbekannten Personen nur im Rahmen der Ersten Frauenbewegung oder auch in anderen sozialen Bewegungen? Welche Gemeinsamkeiten, aber auch welche Unterschiede gibt es transnational und epochenübergreifend zwischen dieser speziellen Praktik in diversen sozialen Bewegungen seit Beginn der Moderne bis zur Gegenwart? Welche stilistischen Merkmale zeichnen solche Briefe aus? Handelt es sich dabei um ein eigenes Briefgenre und welcher Überbegriff könnte dafür gefunden werden? Erwünscht sind sowohl Bewerbungen, die Briefe von Frauen an prominente Frauenbewegungsaktivistinnen zum Gegenstand haben, als auch solche, die auf derartige briefliche Praktiken in anderen sozialen Bewegungen fokussieren. Bewerbungen zu diesem Phänomen in sozialen Bewegungen im außereuropäischen Raum werden ausdrücklich begrüßt. Ebenso möchten wir uns eine Offenheit hinsichtlich wissenschaftlicher Disziplinen bewahren und laden daher auch Forschende aus Nachbardisziplinen der Geschichtswissenschaft, wie etwa der Kommunikationswissenschaft, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie u.a.m. zur Teilnahme ein. Folgende Fragen können im Rahmen der Tagung erörtert werden:
1. Zur Resonanz sozialer Bewegungen
Welche Voraussetzung und Konstellationen waren neben der Alphabetisierung, der Möglichkeit der Adressierung und der Abwesenheit von Briefzensur nötig, damit sich Menschen brieflich an Galionsfiguren von sozialen Bewegungen wandten? Ist das Vorhandensein dieser Art von Korrespondenzen ein Gradmesser dafür, dass eine soziale Bewegung im Entstehen ist oder bereits entstanden ist? Waren diese Korrespondenzen eine Mobilisierungsressource für die Bewegung? Ermöglichen sie uns, Aussagen über die Reichweite oder Resonanz einer sozialen Bewegung zu treffen?
2. Briefe an/von Bewegungsaktivist:innen als unterstützende Praktiken
Wie können diese brieflichen Beziehungen charakterisiert werden? Gibt es Anzeichen für ein wechselseitiges Geben und Nehmen in der Korrespondenz? Was sind typische Anliegen, die darin formuliert werden? Handelt es sich um Unterstützer:innen der Bewegung, die zugleich um Rat und Unterstützung baten? Was bedeutete der briefliche Austausch für den einen wie für den anderen Part?
3. Briefe an/von Bewegungsaktivist:innen als Teil einer Celebrity Culture
Die Adressierung prominenter Aktivistinnen und Aktivisten kann auch als Teil einer celebrity culture analysiert werden, wie sie sich Mitte des 19. Jahrhunderts ausgehend von den USA zu verbreiten begann. Welche Praktiken haben die Prominenz von Aktivist:innen befördert? Versandten und verbreiteten die prominenten Aktivistinnen und Aktivisten etwa eigene Texte in ihren Korrespondenzen oder ließen sie Porträtfotografien von sich anfertigen, die sie ihren Antwortschreiben beilegten? Bevor jemand einen Brief an eine berühmte Person verfasste, hatte er oder sie sich das Gegenüber bereits imaginiert und sich zu ihm in Beziehung gesetzt. Welche Imaginationen der prominenten Person werden in den Briefen sichtbar?
4. Briefe an/von Bewegungsaktivist:innen als eine Schnittstelle zwischen dem Persönlichen und dem Öffentlichen
In welchem Verhältnis stehen Briefe an prominente Aktivist:innen von (ihnen) bislang unbekannten Menschen zu medial vermittelten Öffentlichkeiten? Handelt es sich dabei mit Michael Warner gesprochen um eine relation among strangers, die durch die Zirkulation eines Diskurses vereint waren? Ging dem brieflichen Austausch mit einer prominenten Person eine Organisierung, etwa in Vereinen der Bewegung, voraus oder war sie mitunter eine Folge der Korrespondenz?
5. Briefe an/von Bewegungsaktivist:innen und auto/biografische Narrative
Teil des Diskurses der Frauenbewegung war die Aufforderung an die Frauen, sich selbst zu erheben, sich selbst zu emanzipieren. Können autobiografische Erzählungen in Briefen an prominente Aktivistinnen als Antworten auf den Imperativ der Selbstemanzipation verstanden werden? Welche Beweggründe für das Verfassen eines Briefes werden genannt? Gibt es einen konkreten Schreibanlass? Welche Erzählungen zur eigenen vergangenen Lebensgeschichte, gegenwärtigen Lage und zu eigenen Zukunftsentwürfen werden in die Briefe integriert?
Interessierte Forschende sind eingeladen ein Abstract auf Deutsch oder Englisch (max. 350 Wörter) und eine Kurzbiografie (max. 100 Wörter), zusammengefasst in einem PDF-Dokument, bis 31. Mai 2023 an folgende Adresse zu übermitteln: event.zeitgeschichte@univie.ac.at
Es ist angedacht, ausgewählte Beiträge der Konferenz 2024 in einem Band zu publizieren.
Die Tagung findet am 27.11.2023 in der Alten Kapelle am Campus der Universität Wien (Hof 1) statt. Veranstalter ist das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien.
Organisatorinnen:
Dr. Corinna Oesch, Universität Wien
Dr. Dóra Czeferner, Forschungszentrum für Geisteswissenschaften, Institut für Geschichte (Budapest) und Universität Wien
Maga Clara-Anna Egger, Universität Wien