Religion dient häufig – nicht immer – der Stabilisierung von Ordnung: Sie bietet Trost und Erklärungen für die Ungerechtigkeiten der Welt und macht die bestehenden Strukturen damit erträglicher. So scheint Religion auf den ersten Blick eher im Konservatismus als in liberalen oder progressiven Bewegungen verortet. Insbesondere orthodoxe Formen der Religion verfolgen in aller Regel ein repressives dichotomisches Geschlechterschema, das Frauen von der Öffentlichkeit und von der Macht ausschließt und sie explizit dem reproduktiven Bereich zuordnet. Das mag ein Grund sein, warum religiöse Motive und religiöse Aktivitäten von Frauen selten in den Blick geraten, wenn es um die Geschichte der Politisierung von Frauen und um ihr politisches Engagement geht. Doch trug Religion keineswegs nur zum Ausschluss der Frauen aus der Politik bei. Seit langem etwa verweist die Forschung auf die „Feminisierung der Kirchen“ (Barbara Welter) im 19. Jahrhundert, womit sie Frauen einen Raum für politisches Engagement boten.
Die Tagung will daher der Frage nachgehen, inwiefern Religion Frauen zum politischen Engagement motivierte – und zwar in der Zeit von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis heute. So können neben christlichen und jüdischen Perspektiven auch andere wie etwa muslimische Religiosität Berücksichtigung finden oder auch die besonderen religiösen Konstellationen, die sich aus der friedlichen Revolution in der DDR und der Wiedervereinigung ergab. Der Schwerpunkt liegt auf Deutschland, doch soll der Blick durchaus international und transnational geweitet werden. Politik wird dabei als die aktive Teilnahme an dem Bemühen verstanden, das Gemeinwesen zu gestalten und gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Im Spannungsfeld zwischen Zivilgesellschaft, Parteien und Staat soll dabei ausdrücklich auf den diskursiv als öffentlich markierten Raum geschaut werden, der in der bürgerlichen Geschlechterordnung prinzipiell den Männern zugeschrieben wurde. Das ist umso interessanter, als feministische Theorien die Konstruktion dieser Dichotomisierung als eine Grundlage weiblicher Unterdrückung sehen und ihre Überwindung zum erklärten Ziel feministischer Politik machten, denn gerade in der Lebenswelt von Frauen lassen sich Privates und Öffentliches keineswegs klar trennen. Maßgeblich über Frauen wurde Religion zu einem Spezifikum der privaten bürgerlichen Kultur – und es fragt sich, inwiefern es wiederum die Religion war, die Frauen einen Zugang zu Politik im öffentlichen Raum ermöglichte.
Frauen nutzten insbesondere seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, in der Zeit der Massenpolitisierung, religiöse Räume, um politisches Engagement zu legitimieren. Anders als der als politisch definierte Raum waren religiöse Felder für Frauen geöffnet. In Kriegszeiten wurde nahezu das ganze religiös motivierte Engagement von Frauen, auch von Frauenrechtlerinnen, auf die Krankenpflege gelenkt und öffentlich gefeiert. Im Nationalsozialismus attackierten die staatlichen Stellen wie alle anderen kirchlichen Vereine auch die Frauenvereine und lösten sie meistens auf. Doch nutzten Frauen den religiösen Rahmen sowohl zur Kooperation mit dem Regime als auch zum expliziten Widerstand. In der konservativen Nachkriegszeit erlebte dann die religiöse Motivation eine neue Blüte. Während Frauen bis in die 1960er Jahre weitgehend aus der großen Politik verbannt blieben, intensivierten sie ihren Einsatz in den revitalisierten religiösen Strukturen. Nicht nur in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit bildete der religiöse Rahmen für konservative Frauen erneut weitgehend die einzige Möglichkeit für ein öffentliches, politisches Engagement. In der DDR boten Kirchen nahezu den einzigen staatsfernen Raum, in dem eine freiere politische Diskussionen möglich war, was Gemeindearbeiterinnen, Diakonissen oder Nonnen von Ende der 1940er zum politischen Engagement anregte und auch später oppositionelle Frauen zu nutzen wussten.
Seit den 1960er Jahren fanden sich verstärkt explizit linke religiöse Aufbrüche, die sich Frauen zu eigen machten und ihr politisches Handeln motivierten. Ob in der Befreiungstheologie oder im Rahmen der internationalen Ökumene: Seit den 1960er Jahren verstanden sich zahlreiche Frauen in den Kirchen als Feministinnen, setzten sich für eine linke Politik ein und arbeiteten oft international zusammen. Sie bildeten damit einen Gegentrend zur sich verschärfenden Säkularisierung in den europäischen Ländern und auch zur zuweilen antireligiösen Haltung vieler linker Politikerinnen und Politiker. Doch motivierte eventuell auch eine dezidiert antireligiöse Haltung zu politischem oder gesellschaftlichem Engagement?
In allen politischen Lagern und fast den gesamten Untersuchungszeitrum über stand für einen Großteil der politisch engagierten Frauen ein Thema im Mittelpunkt: die soziale Frage. Außer bei den Sozialistinnen wurde dieser Bereich fast immer eng mit Religion verbunden. Teilweise wurde die soziale Frage sogar zur neuen Religion erhoben wie bei der britischen Sozialreformerin Beatrice Webb, die 1884 erklärte: „Social Questions are the vital questions of today: they take the place of religion.” In der modernen Geschlechterordnung wurde Frauen ein besonders mildtätiges Herz und eine spezielle Befähigung zur Armenfürsorge zugeschrieben. Obwohl Politik und Öffentlichkeit also generell als harter, gnadenloser, moralisch fragwürdiger Kampfplatz der Männer beschrieben wurden, konnten Frauen über die soziale Frage politische Kompetenz beanspruchen (Paula Baker spricht von der „Domestication of Politics“). Vermutlich diente diese inhaltliche Ausrichtung ebenso der Legitimation von politischem Engagement wie die Religion selbst.
Neben der grundlegenden Frage, welche spezifischen politischen Ideen und welche Art von politischem und gesellschaftlichem Engagement von Frauen religiös motiviert war und wie sich diese im Untersuchungszeitraum wandelten, können folgende Schwerpunkte auf der Tagung diskutiert werden:
- In welchem Verhältnis standen ehrenamtliches und professionelles politisches Engagement bei Frauen – auch im Gegensatz zu dem bei Männern?
- Dienten religiöse Einrichtungen den Frauen als eine Art geschützter Übungsraum?
- Inwiefern veränderten politische Rechte für Frauen wie das passive und aktive Wahlrecht ihre religiöse Motivation zur Mitwirkung in der Politik?
- Inwiefern diente Religion als inhaltliche Stichwortgeberin? Wurden aktuelle Themen religiös lediglich reformuliert oder wirkte Religion für die Politik von Frauen innovativ und produktiv?
- Lässt sich das frühe frauenpolitische Engagement in der Sozial- und Bildungspolitik auf religiöse Einstellungen zurückführen?
- Wie wirkte sich der Rückgang von Religion in den westlichen Staaten auf das politische Engagement von Frauen aus?
- Wo und wie zeigt sich ein religiös motiviertes antidemokratisches Engagement?
- Warum waren es so oft konservative, religiös geprägte Frauen wie Margaret Thatcher oder Angela Merkel, die als erste Partei- und Regierungschefinnen wurden? Konnten sie vom Legitimationsfaktor Religion profitieren? In welchem Verhältnis stand ihre religiöse Sozialisation zu ihrem spezifischen Politikstil?
- Lässt sich religiöse Motivation für politisches Handeln anhand ausgewählter Biographien exemplarisch nachzeichnen? Welche parteipolitischen Verortungen gibt es dabei?
- Inwiefern betrifft religiös motivierte Politik von Frauen Fragen der Migration?
- Welche konfessionellen und religiösen Unterschiede und Gemeinsamkeiten lassen sich finden?
- Wie sieht es mit geographischen Differenzen aus? Vieles spricht beispielsweise dafür, dass in den angelsächsischen Ländern aufgrund der starken freikirchlichen Traditionen das politische Engagement von Frauen stärker war.
International und diachron vergleichende Forschungsansätze, transnationale Perspektiven und queere Blickwinkel sind besonders willkommen.
Exposés mit maximal 1000 Wörtern und kurzem biographischem Profil bitte bis zum 15. Januar 2024 an Gudrun Kruip (gudrun.kruip@stiftung-heuss-haus.de).