'Pleitiers' und 'Bankrotteure'. Zur Geschichte ökonomischen Scheiterns im 19. und 20. Jahrhundert

'Pleitiers' und 'Bankrotteure'. Zur Geschichte ökonomischen Scheiterns im 19. und 20. Jahrhundert

Veranstalter
Roman Rossfeld, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich; Ingo Köhler, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Georg-August-Universität Göttingen
Veranstaltungsort
Universität Zürich
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
03.09.2009 - 04.09.2009
Deadline
15.03.2009
Von
Rossfeld, Roman

Ökonomisches Scheitern ist alltäglich. 2005 lag die «Überlebensrate» neu gegründeter Unternehmen in der Schweiz (fünf Jahre nach ihrer Gründung) bei rund 50 %, und im selben Jahr mussten allein in Deutschland und der Schweiz rund 50.000 Unternehmen Insolvenz anmelden.1 In das Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangen diese Fälle allerdings nur, wenn Unternehmenspleiten wie jüngst in der Finanzbranche ganze Volkswirtschaften destabilisieren, Traditionsunternehmen wie Agfa oder Swissair verschwinden oder Pleiten und unternehmerische Fehlleistungen als Skandale empfunden und medial aufbereitet werden. Auch für die wirtschafts- und kulturhistorische Forschung gilt, dass sie sich bislang nur punktuell und wenig systematisch mit dem Phänomen des Scheiterns beschäftigt hat. Obwohl wirtschaftliche Krisen spätestens seit den 1970er Jahren verstärkt in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung geraten sind, gibt es bis anhin nur wenige Arbeiten zur Geschichte ökonomischen Scheiterns. Dies ist zum einen auf die schlechte Überlieferungslage zurückzuführen, verschwinden mit dem Scheitern von Unternehmen doch auch häufig ihre Archive. Zum andern relativieren Begriffe wie «Stagnation» und «Niedergang» in einer auf Erfolg und Fortschritt ausgerichteten Gesellschaft aber auch die Hoffnung auf wachsenden Wohlstand und ökonomische Sicherheit. Die Beschäftigung mit den Pleitiers und Bankrotteuren oder den Opfern von Restrukturierungs- und Modernisierungsmassnahmen erscheint aus dieser Perspektive als nur wenig attraktiv.
Die Ursachen für ökonomisches Scheitern – hier verstanden als temporäre oder dauerhafte Handlungsunfähigkeit einzelner Akteure oder Unternehmen – sind vielfältig und reichen von Finanzierungsproblemen über Nachfrageverschiebungen und den Verlust von Patenten bis zu Managementfehlern oder persönlichem Versagen.2 Die im September 2009 an der Universität Zürich stattfindende Tagung möchte nicht nur unterschiedlichen Deutungen wirtschaftlichen Scheiterns in der ökonomischen Theorie sowie der Entwicklung und Veränderung institutioneller und rechtlicher Rahmenbedingungen nachgehen, sondern anhand einzelner Fallbeispiele auch nach kulturellen Aspekten wirtschaftlicher Fehlleistungen sowie unterschiedlichen Ursachen und Verlaufsformen (einer Typologie ökonomischen Scheiterns) fragen. Im Einzelnen sollen die folgenden Themenfelder untersucht werden:

1. Scheitern in der ökonomischen Theorie

Bis heute basiert die wirtschaftswissenschaftliche Auseinandersetzung mit ökonomischem Scheitern auf der Vorstellung «produktiven» – und damit auch relativen – Scheiterns beziehungsweise der «schöpferischen Zerstörung» Joseph A. Schumpeters.3 Der stetige Prozess des Verdrängens ehemals erfolgreicher Unternehmer durch innovative Nachahmer und Konkurrenten wird hier als «natürliche» Gesetzmässigkeit und Antrieb des wirtschaftlichen Wachstums begriffen. Ökonomisches Scheitern wird auf mangelnde Innovationskraft zurückgeführt; Unternehmen durchleben «Lebenszyklen» der Gründung, des Erfolges, des Bedeutungsverlustes und des Sterbens – jeweils in Abhängigkeit der schwindenden Dynamik ihrer Produkt- und Prozessinnovationen. Zugleich ist wirtschaftlicher Fortschritt ohne die Leistung gescheiterter Unternehmer – und die damit verbundenen Lernprozesse – nicht denkbar und Misserfolg beim Eingehen unternehmerischer Risiken durchaus verdienstvoll. Pleiten sind aus dieser Perspektive ein Teil der inhärenten Logik des Systems, in dem die Möglichkeit persönlichen oder institutionellen Scheiterns angesichts der begrenzten Planbarkeit und Instabilität wirtschaftlicher Entwicklung immer schon angelegt ist. Zu fragen ist hier nach der Bedeutung des Scheiterns als einem zentralen Element wettbewerbsorientierter, marktwirtschaftlicher Aktivitäten. Zugleich möchte die Tagung den Blick aber über Schumpeters Modellvorstellungen hinaus richten und nach neueren Erklärungsansätzen für ökonomisches Scheitern von der Neuen Institutionenökonomie (mit der Betonung von Informationsasymmetrien und der begrenzten Informiertheit von Marktteilnehmern) über Lebenszyklus-Modelle, die Interaktionsökonomik oder die Theorie komplexer Systeme (und damit verbundenen Emergenzen) bis zur evolutorischen Ökonomik und der Bedeutung von Selektionsprozessen fragen. Zugleich interessieren uns hier auch Fragen zur quantitativen Entwicklung – einer Statistik der Insolvenzen – oder unterschiedlichen Dynamiken und Stufen des Scheiterns (bei neu gegründeten oder bereits etablierten Unternehmen).

2. Konkursrecht und Insolvenzverwaltung: rechtliche und institutionelle Veränderungen im 19. und 20. Jahrhundert

Ein zweites wichtiges Themenfeld umfasst die Frage nach den rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Entwicklung beziehungsweise ökonomischen Scheiterns und ihren Veränderungen im 19. und 20. Jahrhundert. Versteht man Scheitern als eine «Entstrukturierung der Handlungsvoraussetzungen»4, kann umgekehrt auch danach gefragt werden, was für Arrangements eine Gesellschaft trifft, um ökonomisches Scheitern zu verhindern. Von Interesse sind hier nicht nur unterschiedliche Definitionen von Eigentums- und Verfügungsrechten, sondern auch Bilanzierungsvorschriften oder die Entwicklung des Konkursrechts und der Insolvenzverwaltung. Gerade im Gesetzgebungsprozess werden unterschiedliche Kulturen des Scheiterns sichtbar, deren Rekonstruktion sehr hilfreich ist. Zeigt sich im frühneuzeitlichen «Schuldenturm» noch eine moralische Stigmatisierung des Gescheiterten, wurden mit dem Haftungs- und Konkursrecht zunehmend formale Regelsysteme für die Bewältigung wirtschaftlicher Misserfolge geschaffen. Im 20. Jahrhundert – gerade aber in jüngster Zeit – scheint dieser strikt auf die «Nachsorge» fokussierte Umgang mit dem Scheitern noch um eine prophylaktische Perspektive ergänzt worden zu sein. Unternehmensberater, Rating-Agenturen, wirtschaftliche und psychologische Ratgeberliteratur sowie die Entstehung einer eigenen Branche, die Unternehmen durch Restrukturierung, Sanierung oder das Recycling von Unternehmensteilen aufzufangen versucht, haben in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebt – und möglicherweise die gesellschaftliche Bewertung ökonomischen Scheiterns verändert. Inwieweit mit der fortschreitenden Individualisierung in der «Risikogesellschaft» auch ein Wandel hin zu einer stärker amerikanischen, an einem «trial-and-error»-Modell orientierten Kultur des Scheiterns einherging, bleibt zu untersuchen.

3. «Going bust in the Age of Go Ahead»: kulturelle Aspekte ökonomischen Scheiterns

Ob Scheitern als Chance und das Ende als Neuanfang oder persönliches Versagen einzelner Akteure bewertet wird, ist eng mit kulturellen Deutungsmustern verbunden. Scott Sandage hat in seinem Buch «Born Losers» am Beispiel Amerikas gezeigt, wie sehr ökonomisches Scheitern gerade in einer auf persönlichen Erfolg ausgerichteten Gesellschaft auch dramatisch enden kann.5 Selbstmorde gescheiterter Unternehmer verweisen nicht nur im 19. Jahrhundert auf die enge Verbindung von ökonomischem Erfolg und persönlicher Reputation beziehungsweise – umgekehrt – die Angst vor Reputationsverlust und sozialer Ausgrenzung. In einer Gesellschaft, in der Stillstand Rückschritt bedeutet und wirtschaftlicher Erfolg als gottgefällig interpretiert wird, sind ökonomische Fehlleistungen häufig mit sozialem Abstieg verbunden. Das Spektrum möglicher Themen reicht hier von der medialen Aufbereitung und Skandalisierung spektakulärer Wirtschaftspleiten über unterschiedliche Bewertungen ökonomischen Scheiterns (in Europa, Japan und den USA) bis zu Fragen der Fremd- und Selbstwahrnehmung von Pleitiers und Bankrotteuren. Inwieweit beeinflussen Verlustängste und die Furcht vor gesellschaftlicher Stigmatisierung das Verhalten und die Risikobereitschaft von Unternehmern, und wie wirkt sich die fortschreitende Individualisierung auf die gesellschaftliche Bewertung und Bewältigung des Scheiterns aus? Wie gehen unterschiedliche Gesellschaften mit Misserfolgen und Verlierern um, und was für langfristige Folgen hat ökonomisches Scheitern für die einzelnen Akteure?

4. «Nieten in Nadelstreifen»? Fallbeispiele unternehmerischer Fehlleistungen

Die wenigen bislang vorliegenden empirischen Untersuchungen zu den Ursachen von Unternehmenszusammenbrüchen legen nahe, dass im wesentlichen Finanzierungsprobleme und Managementfehler – von der Fehlallokation von Produktionsmitteln über falsche Produktstrategien und Organisationsdefizite bis hin zu persönlicher Unfähigkeit – für den Grossteil der Firmenpleiten verantwortlich zu machen sind. Ausgehend von empirischen Fallstudien möchte die Tagung deshalb auch nach den verschiedenen endogenen oder exogenen, angebots- oder nachfrageinduzierten Ursachen, unterschiedlichen Verlaufsformen und einer Typologie ökonomischen Scheiterns fragen. Die Bewertung von Unternehmenspleiten, die ganze Volkswirtschaften destabilisieren können, ist eng an die Grösse der Unternehmen und die Anzahl der Betroffenen gebunden. «Too big to fail» verweist auf einen über einzelne Personen oder Institutionen hinausreichenden Problemhorizont, der gerade in jüngster Zeit wieder breit diskutiert wird. Hier ist danach zu fragen, wie Unternehmenspleiten in arbeitsteiligen Gesellschaften mit einem hohen Individualisierungsgrad (politisch) bewältigt werden können, und ob strukturelle Veränderungen wie der Übergang zum Managerkapitalismus, veränderte Wettbewerbs- und Produktionsbedingungen oder ineffiziente Ordnungsstrukturen gerade in modernen Gesellschaften wichtige Faktoren für ökonomisches Scheitern sind. Was für eine Rolle spielen eine (zu) hohe Risikobereitschaft beziehungsweise Spekulationsneigungen oder die durch asymmetrische Informations- und Interaktionsstrukturen des Marktes «begrenzte Rationalität» von Entscheidungsträgern, und wie wirken sich die mangelnde Rezeption von Angebots- und Nachfrageveränderungen oder technologischem Wandel auf unternehmerische Fehlleistungen aus?

Erbeten werden Beiträge aus der Geschichte, den Wirtschaftswissenschaften sowie den Kultur- und Sozialwissenschaften. Erwartet wird die Offenheit für den Versuch, wirtschaftliches Scheitern als ökonomisches, soziales und kulturelles Phänomen zu betrachten. Eine Publikation ausgewählter Tagungsbeiträge ist geplant. Interessentinnen und Interessenten senden einen max. 2-seitigen Abstract für einen 20 minütigen Vortrag sowie einige Angaben zur Person bis zum 15. März 2009 an

Dr. Roman Rossfeld
Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Universität Zürich
Tel.: 0041 (0)44 634 36 57
Rossfeld@fsw.uzh.ch

oder:

Dr. Ingo Köhler
Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Georg-August-Universität Göttingen
Tel.: 0049 (0)551 39 74 04
Ingo.Koehler@wiwi.uni-goettingen.de

Für Fragen und weitere Informationen stehen wir jederzeit gerne zur Verfügung.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu die Angaben zur Unternehmensdemografie, den Neugründungen, Überlebensraten sowie Betreibungen und Konkursen des Schweizerischen Bundesamtes für Statistik www.bfs.admin.ch sowie zu den Verbraucherinsolvenzen (Privatkonkursen) und Insolvenzen von Unternehmen des statistischen Bundesamtes in Deutschland www.destatis.de.
2 Zum Begriff des Scheiterns vgl. Matthias Junge, Scheitern. Ein unausgearbeitetes Konzept soziologischer Theoriebildung und ein Vorschlag zu seiner Konzeptualisierung. In: Matthias Junge / Götz Lechner (Hg.): Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens. Wiesbaden 2004, S. 15–32.
3 Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Leipzig 1912.
4 Junge, Scheitern, S. 27.
5 Scott A Sandage, Born Losers: A History of Failure in America. Cambridge 2005.

Programm

Kontakt

Roman Rossfeld

Rämistrasse 64
CH-8001 Zürich
0041 (0)44 634 36 57

Rossfeld@fsw.uzh.ch

www.fsw.uzh.ch