Dr. Jekyll oder Mr. Hyde - Die Figur des Naturwissenschaftlers und ihre Konstruktion zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung

Dr. Jekyll oder Mr. Hyde - Die Figur des Naturwissenschaftlers und ihre Konstruktion zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung

Veranstalter
Schweizerische Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften (SGGMN)
Veranstaltungsort
Ort
Lausanne
Land
Switzerland
Vom - Bis
09.09.2010 -
Deadline
20.06.2010
Von
Siegfried Bodenmann

Der nächste Workshop des Schweizer Forums für NachwuchswissenschaftlerInnen wird im Vorfeld der Jahrestagung der Schweizerische Gesellschaft für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften (SGGMN) am 9. September 2010 in Lausanne stattfinden. Es besteht die Möglichkeit, freie Beiträge vorzuschlagen, jedoch werden Vorträge zum diesjährigen Rahmenthema bevorzugt:

Dr. Jekyll oder Mr. Hyde - Die Figur des Naturwissenschaftlers und ihre Konstruktion zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung

Naturwissenschaften besser zu verstehen heißt auch, sich mit einem ihrer Hauptakteure zu beschäftigen, nämlich dem Naturwissenschaftler. Ob Frau oder Mann, Biologe, Physiologe, Arzt, Neurologe, Chemiker, Physiker, Astronom, Mathematiker oder Geologe, ob er im Firmenlabor, an der Universität, in einer Sternwarte oder auf dem Feld arbeitet, der Naturwissenschaftler ist eine vielfältige Figur, die sich nicht leicht mit einer einzigen und einfachen Definition charakterisieren lässt.

In der öffentlichen Wahrnehmung hingegen wird der Naturwissenschaftler oft stark vereinfacht und stereotypisiert dargestellt. Eine Reihe von Umfragen, welche zwischen 1957 und 2005 bei angelsächsischen Kindern durchgeführt wurde, umreißt ein Phantombild.1 Dazu aufgefordert, einen Naturwissenschaftler zu zeichnen, stellten ihn die meisten Kinder und mit einer verblüffenden Beständigkeit als Mann mit weißem Kittel und Brille, zerzausten Haaren oder kahlköpfig, im mittleren oder fortgeschrittenen Alter, umgeben von Instrumenten oder Laborapparaturen sowie von Zeichen des Wissens dar. Manchmal hält er das Ergebnis seiner Recherchen in den Händen oder ist begleitet von mathematischen oder chemischen Formeln. Als man die Kinder über die Charaktereigenschaften des Naturwissenschaftlers befragte, erklärten sie, dass er zerstreut, introvertiert und einsam sei. Die alltäglichen Dinge seien ihm fremd, und er würde ausschließlich für die Wissenschaft leben. In seine Forschungen vertieft, sei er durchaus imstande, Essen und Schlafen zu vergessen.

Diese Studien offenbaren außerdem, dass je älter die Kinder, desto stereotypischer ihre Darstellungen sind. Diese Tatsache macht den Einfluss der Medien auf die Konstruktion einer kollektiven Vorstellung des Naturwissenschaftler und seiner Tätigkeit deutlich. Jene Vorstellung schöpft ihre Referenzbilder aus der Welt der Werbung, in welcher der Laborforscher mit weißem Kittel die Wirksamkeit von neuen Zahncremes, Fleckenentfernern und Anti-Aging Kosmetik vorführt, aber auch aus den Fernsehserien, in welchen junge Gerichtsmediziner in High-Tech Kellergeschossen an der Aufdeckung von Mordfällen arbeiten. Die Figur des Albert Einsteins wurde im Film schon unzählige Mal dargestellt. Schließlich hat die Literatur schon längst die Erwartungen, Hoffnungen und Ängste, die von den Naturwissenschaftlern und den Naturwissenschaften heraufbeschwört werden, zum Gegenstand ihrer Kunst gemacht.2

Während sowohl die befragten Kinder als auch die Medien ein einheitliches Gesamtbild des Naturwissenschaftlers entwerfen, machen sie sich jedoch gleichzeitig eine weitaus kontrastreichere Vorstellung über dessen moralische Gesinnung. Jene drückt sich in einer Fülle von Variationen aus, die sich zwischen dem gutmütigen Gelehrten, der sich dem Wohl der Allgemeinheit widmet, und dem verrückten Wissenschaftler, der sich wie Dr. Frankenstein für Gott hält oder mit der Erfindung von Massenvernichtungswaffen die Menschheit in den Untergang zu stürzen droht, entfaltet.

Man sollte jedoch nicht glauben, dass diese Rekonstruktion einzig das Werk eines Laienpublikums sei. Diese wird nämlich auch von Naturwissenschaftlern selbst propagiert und gefestigt. Die Utopie des Nova Atlantis (1624) aus der Feder Francis Bacons hob bereits im 17. Jh. den Naturwissenschaftler zum Wohltäter der Menschheit empor. Albert Einstein hingegen machte selbst auf die Gefahren der Wissenschaften aufmerksam, als er Präsident Roosevelt vor dem möglichen Bau einer Atombombe in Deutschland warnte.

Die kollektive Vorstellung des Naturwissenschaftlers geht auch aus einem eindeutigen self fashioning hervor – einer Praktik, in welcher sich bestimmte Wissenschaftler besonders hervortun. Der Physiker Wernher von Braun schaffte es, die Nachkriegsöffentlichkeit seine Hauptrolle in der Konzeption und Ausführung der Rakete V2 im Dritten Reich vergessen zu lassen und sich als Pionier der Astronautik und Entwickler der Rakete Saturn V zu inszenieren. Diese beförderte schließlich die Amerikaner ins Weltall und verhalf ihnen zur Mondlandung. Heute möge man z.B. an Stephen Hawking oder aber an Francis Crick und James Watson denken, welche sich geschickt neben dem Modell einer DNS-Doppelhelix in einem berühmt gewordenen Foto darstellen ließen.3 Die Legende vom herunterfallenden Apfel, welche Newton zur Ausformulierung seines Gravitationsgesetzes gebracht haben soll, wurde von keinem Anderen als Newton selbst gegen Ende seines Lebens erzählt. Dies zeugt davon, dass self fashioning oft mit der Stilisierung des Entdeckungsmoments einhergeht. Diese neigt dazu, uns glauben zu lassen, dass die Naturwissenschaften das Ergebnis glücklicher Zufälle (Entdeckung des Penicillins) oder spontaner Eingebungen (Gravitationsgesetz) sind.4

Die Figur des Naturwissenschaftlers resultiert schließlich auch aus nachträglichen Rekonstruktionen und Umwandlungen, die von bestimmten Naturwissenschaftlern und Wissenschaftshistorikern entwickelt werden. Jene tendieren dazu, in der Vergangenheit nach Helden einer Disziplin zu suchen und sie als Vorbilder für die künftigen Generationen emporzuheben. Newton wird dementsprechend als "Vater der modernen Physik" heroisiert und seine Arbeiten zur Eschatologie, zur biblischen Chronik und zur Alchemie werden dabei verschwiegen. Die Konstruktion des Naturwissenschaftlers ist also auch ein Mittel, die Naturwissenschaften zu legitimieren, und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, alles, was im Nachhinein nicht dazuzugehören scheint, stillschweigend auszuradieren.

Dieser kurze Überblick zeigt, dass die Gestalt des Naturwissenschaftlers das komplexe Ergebnis einer Zusammenstellung verschiedenartiger Rekonstruktionen und Repräsentationen ist. Wie lässt sich also diese schwer durchschaubare Schlüsselfigur erfassen und einordnen? Unser Workshop möchte zu einer Antwort beitragen, indem er interdisziplinäre Beiträge zu einzelnen oder mehreren der folgenden Aspekte zusammenführen wünscht:

(1) Der Begriff des Naturwissenschaftlers ist relativ neu und hat sich erst im Verlaufe des 19. Jh. durchgesetzt. Welches ist seine Geschichte?5 Wie hat sich unsere Vorstellung des Naturwissenschaftlers parallel zu den aufeinander folgenden Mutationen geändert, die der Begriff und seine unterschiedlichen Bezeichnungen im Laufe der Zeit erlebten (Gelehrte, natural philosopher, usw.)?

(2) Welches sind die Quellen der Konstruktion jener Vorstellungen? Jenseits der textlichen Dokumente (Autobiographien, Vorwort von Schlüsselwerken, Briefwechseln, Biographien, Nachreden, Wörterbuch- und Enzyklopädieeinträgen, usw.) möchte der Workshop auch visuelle Quellen mit einbeziehen (Porträts, Medaillons, Skulpturen, Filme, usw.). Weisen jene Quellen eine eigene Funktion, besondere rhetorische Muster, narrative Schlüsselthemen, Leitmotive, Referenzmythen oder eigene malerische Darstellungskonventionen auf?

(3) Inwiefern entspricht oder widerspricht die Selbstwahrnehmung des Naturwissenschaftlers der Fremdwahrnehmung durch die Öffentlichkeit?

(4) Welche Beziehungen existieren zwischen den unterschiedlichen Repräsentationen des Naturwissenschaftlers und den jeweiligen historischen Kontexten, in welcher erstere erscheinen? Kann man Schlüsselmomente der Entwicklung einer naturwissenschaftlichen Identität erkennen? Ist es reiner Zufall, wenn die Gelehrten der Renaissance oft als Melancholiker dargestellt werden, diejenigen der Aufklärung sich der Nützlichkeit verpflichten, und erst ab den 1970er Jahren der Naturwissenschaftler endlich weiblich sein darf, eine Wahrnehmung, die durch die Wiederentdeckung von Hildegard von Bingen, der Marquise du Châtelet, Marie-Anne Pierrette Lavoisier, Marie Curie oder Lise Meitner bekräftigt wird?

(6) Wie verhalten sich schließlich unsere Repräsentationen des Naturwissenschaftlers zu unseren Vorstellungen der Naturwissenschaft als ganzes? Wie werden die Praktiken des Naturwissenschaftlers durch die Selbst- und die Fremdwahrnehmung beeinflusst? Verraten diese Vorstellungen auch etwas über unsere Erwartungen an die Naturwissenschaften? Wie kann Archimedes gleichzeitig für zwei Gestalten stehen: Einerseits den Gelehrten, der von den irdischen Dingen so losgelöst ist, dass er, nachdem er das Prinzip vom Auftrieb in seiner Badewanne entdeckt hat, völlig nackt durch die Strassen von Syrakus rennt und den verdutzten Einwohnern ein lautes Heureka! zuruft; andererseits der Wissenschaftler, der sich so stark für die politische Sache und für das Allgemeinwohl seiner Mitbürger engagiert, dass er große Brenngläser erfindet, um mit der Kraft der Sonne die gegnerische Flotte in Brand zu setzen. Dieser Gegensatz widerspiegelt zwei unterschiedliche Definitionen der Naturwissenschaften: eine uneigennützige, welche lediglich unserem Durst nach Wissen nachgeht, und eine nützliche mit konkreten Anwendungsbereichen.

Mit dem Zusammenführen dieser Aspekte hoffen wir einerseits, diejenigen Prozesse zu beleuchten, die an der Konstruktion einer naturwissenschaftlichen Identität partizipieren. Andererseits möchten wir einen ersten Schritt in Richtung einer Typologisierung der verschiedenen Repräsentationen des Naturwissenschaftlers machen, die der einfachen Polarität guter / verrückter Wissenschaftler überwindet. Welche Kriterien ermöglichen eine Unterscheidung der verschiedenen Typen des Naturwissenschaftlers? Welche Rolle spielt der historische Kontext, die Institutionalisierung und die Spezialisierung der Wissenschaften?

Der genaue Veranstaltungsort wird in Kürze bekannt gegeben. Interessierte sind gebeten, einen knappen Lebenslauf sowie eine 20-30zeilige Zusammenfassung vor dem 20. Juni 2010 an Siegfried Bodenmann (siegfried.bodenmann@laposte.net) zu schicken. Den ReferentInnen, die eine weite Reise auf sich nehmen müssen, wird ein Zuschuss für die Reise- und Unterkunftskosten gewährt. Da unser Budget jedoch beschränkt ist, ermutigen wir Sie zunächst bei Ihrer jeweiligen Herkunftsinstitution Unterstützung zu erbitten. Wir weisen auf die Notwendigkeit hin, gegebenenfalls rechtzeitig preisgünstige Übernachtungsmöglichkeiten zu reservieren. Lausanne ist sowohl mit den öffentlichen Verkehrsmitteln wie auch mit dem Auto gut erschlossen und befindet sich ungefähr 45 Min. vom Genfer Flughafen entfernt. Dieser wird von Low-Cost Gesellschaften wie easyJet angeflogen. Für weitere Informationen, siehe bitte unsere Internetseite: http://www.sggmn.ch/forum.html, wo Sie auch eine erweiterte Fassung des Call for Papers finden können.

Wir wären sehr dankbar für die Weiterleitung dieser Einladung an mögliche Interessierte.

______________________
1 Mead, Margaret; Métraux, Rhoda, "Image of the scientist", in: Science 126 (30 August 1957), S. 384-390; Chamber, David Wade, "Draw-a-scientist", in: Science Education 67 (1983), vol. 2, S. 255-265 ; Frayling, Christopher, Mad, Bad and Dangerous ? The Scientist and the Cinema, Londres: Reaktion Books, 2005, S. 219-222.

2 Siehe dazu z.B. Haynes, Roslynn D., From Faust to Strangelove: Representations of the Scientist in Western Literature, Baltimore, MD, 1994.

3 Brandner, Samuel, "James Watson und Francis Crick", in : Osten, Philipp (Hrsg.), Mabuse & Co. Ein Kabinett kluger Köpfe, Frankfurt am Main: Mabuse Verlag, 2005, S. 54-56.

4 Der Prozess der Stilisierung von Entdeckungen ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Für eine kürzlich erschienene Fallstudie, siehe Espahangizi, Kijan Malte, "Auch das Elektron verbeugt sich. Das Davisson-Germer Experiment als historischer Erinnerungsort der Physik", in: Bodenmann, Siegfried; Splinter, Susan (Hrsg.), Mythos – Helden – Symbole. Legitimation, Selbst- und Fremdwahrnehmung in der Geschichte der Naturwissenschaften, der Medizin und Technik, München: Martin Meidenbauer Verlag, 2009, S. 47-70.

5 Solche Studien wurden bereits für unterschiedliche Sprachräume durchgeführt; siehe z.B. Ross, Sydney, "Scientist: The Story of a Word", in: Annals of Science XVIII (1962), S. 65-85.

Programm

Kontakt

Siegfried Bodenmann

Universität Bern / Euler-Archiv Basel

siegfried.bodenmann@laposte.net

http://www.sggmn.ch/forum.html